Unterstützung beim Studium mit Neurodivergenz
Ich habe dreimal studiert – ohne auch nur einen Abschluss zu haben.
Das erste Mal war direkt nach dem Abi an einer regulären Präsenzuni. Ich wusste nichts über meine Neurodivergenz und dass sie mir Probleme beim Studium bereiten könnte und es war furchtbar für mich. Zwei Jahre lang war ich ständig im Overload, hatte dauernd Panik und habe jeden Moment des Studiums gehasst. Dann habe ich es aufgegeben und mich als gescheitert betrachtet. Ich fühlte mich als totale Versagerin.
Ein paar Jahre danach wollte ich es noch einmal probieren. Über meine Neurodivergenz wusste ich immer noch nicht mehr, aber mir war klar, dass ein klassisches Präsenzstudium für mich nicht funktionieren würde, also probierte ich es an einer Fernuniversität. Ich habe nicht einmal das erste Semester geschafft. Der riesige Stapel an Unterlagen überforderte mich vom ersten Moment an und ich habe nie auch nur eine Stunde damit verbracht. Der Eindruck, eine Versagerin zu sein, festigte sich und ich schämte mich endlos.
Ein Jahrzehnt später der dritte Anlauf. Endlich hatte ich zumindest akzeptiert, dass ich neurodivergent bin, verstand aber immer noch nicht, was das tatsächlich bedeutete. Nach langem Überlegen entschied ich mich für ein Studium an der Open University. Ich hatte mehrfach von Autistinnen gelesen, die dort gut zurecht gekommen waren, weil die Universität hervorragend auf behinderte Studierende ausgelegt ist und ich dachte mir: „Vielleicht gelingt es mir ja dort. Vielleicht bin ich doch keine Versagerin.“
Die Open University ist in Großbritannien und komplett auf ein berufsbegleitendes, kostenpflichtiges Online-Studium ausgelegt. Der Großteil der Veranstaltungen findet online statt (es gibt ein paar Ausnahmen, wo es auch Präsenzseminare gibt). Es gibt Internetseiten mit dem Kursmaterial (in Wocheneinheiten aufgeteilt, so dass man nie überfordert ist), kleine Studierendengruppen, die von einem Tutor oder einer Tutorin betreut werden, ein Forum für Kursaufgaben und allgemeinen Austausch. Man schreibt (benotete) Hausarbeiten und reicht sie online zur Korrektur ein. Außerdem gibt es Video-Sessions zu einzelnen Themenblöcken, die zur Vorbereitung auf die Hausarbeiten und Klausuren dienen (in meinem Modul waren sie freiwillig und wirklich hilfreich).
Für einen Bachelorstudiengang rechnet die Open University mit 3 Jahren Vollzeit oder 6 Jahren Teilzeit, man kann die Dauer aber durch die Kurswahl beeinflussen. Für den Bachelorabschluss benötigt man 360 Credits. Die Module dauern jeweils ein Jahr (von Oktober bis Mai/Juni), geben 60 Credits und kosten umgerechnet etwa 4000 Euro (Es gibt auch Module mit nur 30 Credits, die dann entsprechend günstiger sind). Ein ganzes Studium kommt also auf über 20.000 Euro und ja, das ist eine ganze Menge Geld. Mein Plan war es, das Studium so weit wie möglich zu strecken, um die Kosten über einen längeren Zeitraum aufzuteilen.
Zuerst wollte ich aber wissen, ob das überhaupt für mich funktionieren würde, oder ob ich erneut am Thema „Studium“ scheitern würde – ewige Versagerin, als die ich mich fühlte.
Ich begann also mit einem 30-Credit-Modul (English for Academic Purposes) und war noch vor dem eigentlichen Studienbeginn total begeistert von der Open University!
Die Open University hat ein Disability Support Team, das darauf spezialisiert ist, Studierenden mit Behinderungen zu helfen. Als Student*in füllt man ein Onlineformular aus, in dem man die eigenen Behinderungen angeben und erläutern kann und stellt eine Bescheinigung über die Diagnose zur Verfügung. Das Team meldet sich dann mit Rückfragen und erstellt entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse eine Dossier mit den möglichen bzw. empfohlenen Unterstützungen und Erklärungen zur Behinderung.
Schon bei den Rückfragen habe ich mich sehr stark angenommen und gut aufgehoben gefühlt, denn die Rückfrage kam per E-Mail und fragte explizit nach, ob ein telefonisches Gespräch für mich in Ordnung wäre, oder ob ich lieber ausschließlich schriftlich kommunizieren würde. Stell dir vor, wie erstaunt ich war, dass eine Institution von sich aus, so etwas anbietet!
Ich bat um Kommunikation ausschließlich per E-Mail und das wurde auch direkt in mein Dossier aufgenommen, so dass ich keinerlei Anrufe von der Universität bekommen würde, so lange ich nicht vorher zustimmen würde. Was für eine Erleichterung für mich!
Die Mitarbeiterin vom Disability Support bat mich dann noch um ein paar zusätzliche Informationen, wie zum Beispiel etwaige Trigger für meine Posttraumatische Belastungsstörung oder welche expliziten Probleme ich durch meine diversen Behinderungen im Studium voraussichtlich haben könnte. Daraus hat sie dann mein Dossier erstellt, auf das meine Tutor*innen Zugriff bekommen, um mich entsprechend unterstützen zu können.
Mich hat das Dossier total umgeworfen – im positiven Sinne! Es gab zum Teil Hinweise auf kleinste Unterstützungen, bei denen mir sofort klar war, was für einen großen Unterschied sie für mich machen würden. Andere Hilfsmaßnahmen fand ich zunächst unnötig, stellte aber später fest, wie sehr sie mir tatsächlich helfen konnten. Dieses Dossier war für mich der allergrößte und -beste Schubs, um meine Neurodivergenz tatsächlich anzunehmen!
Ich teile hier (übersetzte) Auszüge daraus, weil ich mir denke, dass sie auch für andere hilfreich sein könnten. Vielleicht bist du ja auf der Suche nach möglichen Anpassungen für dich und deinen Autismus oder deine ADHS.
- Claudia bittet darum, dass jeglicher Anfangskontakt per E-Mail erfolgt.
- Sie würde von regelmäßigem, von ihrem Tutor/ihrer Tutorin iniziierten Kontakt profitieren, da es ihr schwerfällt, selbst mit anderen in Kontakt zu treten.
- Claudia hat Schwierigkeiten mit Audio- und Videomaterial und bevorzugt schriftliche Informationen. [Die Open University bietet standardmäßig Transkripte für alle Audios und Videos an.]
- Kommunikation mit anderen und Gruppenarbeiten sind sehr stressig für Claudia. Es könnte hilfreich für sie sein, vor oder nach einer Gruppenarbeit ein Einzelgespräch mit ihr zu führen.
- Bitte unterstützen Sie sie bei der Teilnahme an Foren- und Gruppenaktivitäten. Schon etwas Ermutigung könnte positive Auswirkungen für sie haben.
- Es ist möglich, dass Claudia bei Videokonferenzen ihr Mikrofon und ihre Kamera abschaltet.
- Claudia fühlt sich vermutlich unwohl, wenn sie das Zentrum der Aufmerksamkeit ist. Achten Sie besonders bei Vorstellungsrunden oder „ice breaker“-Aktivitäten darauf.
- Möglicherweise ist es hilfreich für sie, wenn sie die Sicherheit erhält, dass nicht von ihr erwartet wird zu reden, bis sie sich dazu in der Lage fühlt.
- Claudia würde davon profitieren Tutorialnotizen bereits im Voraus zu erhalten um diese in Ruhe zu lesen und aufzunehmen.
- Darüberhinaus benötigt sie schriftliche Aufzeichnungen aller Veranstaltungen, die sie möglicherweise nicht besuchen kann.
- Bitte beraten Sie sie dabei, wie sie sich auf das Lesen essentiell notwendiger Informationen beschränken kann, um ihr Energielevel zu schonen.
- Claudia benötigt frühzeitige Informationen über Termin- oder Ortsänderungen.
- Es ist wichtig, Erwartungen klar zu definieren und davon auszugehen, was vernünftigerweise erwartet werden kann, anstatt ein Ideal zu formulieren.
- Aufgrund ihrer Neurodivergenz kommt es leicht zu Missverständnissen bei Fragen und Feedback, weswegen diese zu jeder Zeit klar und präzise formuliert werden.
- Vermeiden Sie wenn möglich Witze und Sarkasmus und geben Sie direkte Erklärungen. Bemühen Sie sich, zweideutige Sprache zu vermeiden.
- Claudia ist übermäßig selbstkritisch, was zu Angstzuständen bei Bewertungen führen kann. Geben Sie konstruktives Feedback, heben Sie ihre Stärken hervor und weisen Sie sie darauf hin, wie sie sich weiter verbessern kann, anstatt ihre Schwächen aufzuzeigen.
- Claudias Behinderungen können zu Erschöpfungszuständen und Konzentrationsproblemen führen.
- Tutorinnen und Tutoren werden darum geben, Claudia dabei zu unterstützen, Strategien für ihren Studienablauf zu entwickeln. Das beinhaltet Beratung zur Prioritätensetzung im Studienmaterial, zum Umgang mit eventuell triggernden Themen (und möglichen Ersatz dafür), individuelle Support Sessions, sowieso gelegentliche – vorher abgesprochene – Verlängerung von Abgabefristen.
- Es könnte dazu kommen, dass Claudia nicht in der Lage ist, mit der Universität zu kommunzieren. Für diesen Fall ermutigen wir sie, einen Vertreter zu benennen, der in ihrem Namen mit der Universität kommunizieren kann.
- Bei Vor-Ort-Veranstaltungen ist es möglich, dass Claudia eine Begleitperson mitbringt.
Nicht alles davon wurde dann im Studium von meiner Tutorin tatsächlich beachtet. Ich habe mich zum Beispiel bei Gruppenarbeiten tatsächlich sehr hilflos und verloren gefühlt. Ich fand aber ihr direktes Feedback zu meinen Arbeiten sehr gut und sie hat sich auch die Zeit genommen, es persönlich mit mir zu besprechen und eventuelle Fragen zu klären.
Ich hatte enorm viel Spaß an meinem Modul und den Studieninhalten. Die Gruppenaktivitäten im Forum mochte ich nicht sehr, was aber zum Teil auch an meiner Gruppe lag. Am meisten habe ich das Anfertigen der Hausarbeiten genossen. Dieses tiefe Eintauchen in ein Thema/einen Text, das Nachvollziehen von Sachverhalten und Ausformulieren meiner Gedanken war großartig.
Aus psychischen und finanziellen Gründen habe ich mein Studium nach diesem einen Modul pausiert. Ich werde es voraussichtlich auch nicht wieder aufnehmen. Dieses Mal aber nicht, weil ich daran gescheitert wäre oder mich als Versagerin betrachten würde, sondern weil mir dieses eine Studienjahr alles gegeben hat, was ich für mich gebraucht habe: Die absolute Gewissheit, dass ich studieren kann.
Menschen, die mit dem, was für die Mehrheit gut funktioniert, nicht zurechtkommen, profitieren enorm von – teils unheimlich kleinen! – Anpassungen. Es ist nur schwierig, sie selbst zu benennen, wenn man gar nicht weiß, was möglich ist. Vielleicht hilft dir die Liste an Unterstützungen für mich ja dabei, für dich selbst die richtigen Akkommodationen zu finden. Viel Erfolg dabei!