Let’s talk about: Spoons
Ich vermute, die meisten von euch kennen die Spoon-Theorie: Sie beschreibt die mentale, emotionale und körperliche Energie, die einem Menschen an einem Tag zur Verfügung steht, mit Löffeln. Jeder Mensch hat jeden Tag eine bestimmte Menge an Löffeln/Spoons zur Verfügung und verwendet diese Energie bzw. Löffel während des Tages. Jede Tätigkeit verbraucht Spoons und sind keine mehr übrig, tja, dann kann man eben nichts mehr tun.
Tätigkeit bedeutet dabei nicht nur so etwas wie „Kochen“ oder „Arbeiten“. Tätigkeiten sind echt alles, von morgens aus dem Bett aufstehen, über Kommunikation mit anderen Menschen, bis hin zu eben Kochen oder Arbeiten.
Natürlich kostet jede Tätigkeit unterschiedlich viele Löffel – wie viele genau hängt dabei nicht nur von der Tätigkeit ab, sondern eben auch davon, wie anstrengend eine bestimmte Tätigkeit in diesem Moment für diese Person ist. Vielleicht kostet dich „Kochen“ heute einen deiner Löffel, während es mich drei kosten würde und wieder jemand anderen fünf.
Zusätzlich bekommt nicht jeder Mensch jeden Tag dieselbe Anzahl an Löffeln. Während du im besten Fall mit 100 Löffel starten kannst, hast du an anderen Tagen vielleicht nur 80 oder noch weniger und musst entsprechend anders mit diesen Löffeln, sprich deiner Energie umgehen.
Es geht bei der Spoon-Theorie NICHT darum, wie sinnvoll man seine Spoons einsetzt, sondern rein um die Visualisierung von unterschiedlichen Energie-Leveln.
Ich zeige euch jetzt mal, wie meine Energie-Level ausschauen. Ich trage eine Smartwatch von Garmin und diese berechnet mein Energie-Level im Tagesverlauf anhand meiner Aktivität und meines Stresslevels. Ich sage direkt mal dazu: Garmin schummelt. Das Energie-Level sinkt NIE unter 5 und sie flachen das Absinken ab, sobald die Energie unter einen bestimmten Wert fällt. Tendenziell zeigt sie also bei Werten unter 30 zu hohe Werte an.
Die weiße Linie zeigt mein Energie-Level an, die vertikalen Striche bedeuten, wie gestresst ich war – blau heißt entspannt, orange gestresst. Umso höher die Striche sind, umso höher der Stress. Die kleinen grauen Balken unten zeigen Phasen an, in denen die Uhr keine Messergebnisse liefern kann, weil ich mich zu viel bewegt habe (z.B. beim Kochen) oder weil sie geladen wurde (das ist die Stelle, wo die weiße Linie kurz gepunktet ist).
Das, was wir auf dieser Grafik sehen, ist ein GUTER Tag für mich. Ihr seht, meine Energie vom Vortag war ziemlich aufgebraucht – um genau zu sein, bin ich um 22 Uhr mit 5 Punkten (also eigentlich 0, aber das beschönigt Garmin eben) ins Bett gegangen. Bis Mitternacht – wo die Anzeige auf dieser Grafik beginnt – hatte ich schon ein paar Punkte dazu gewonnen und durch verhältnismäßig guten und vor allem ziemlich entspannten Schlaf hatte ich beim Aufstehen über 50 Punkte! Es wurden sogar durch einen ruhigen Morgen noch ein paar mehr! Und auch im Tagesverlauf habe ich nicht meine ganze Energie aufgebraucht, ja sogar teilweise nochmal welche dazu gewonnen, so dass ich am Abend mit knapp über 25 Punkten Rest ins Bett ging.
Eine kurze Anmerkung an der Stelle: Es ist NICHT gut, jeden Tag die gesamte Energie aufzubrauchen! Mit etwa 25 Punkten ins Bett zu gehen ist sehr positiv und bedeutet nicht, nicht genügend getan zu haben, sondern eine gute Basis für den nächsten Tag geschaffen zu haben.
Das ist, wie gesagt, ein guter Tag bei mir und selbst hier seht ihr: Mein Energie-Level ist WEIT unter 100 und befindet sich im allerbesten Moment bei 60.
Jetzt zeige ich euch, wie ein normaler Tag bei mir aussieht:
Die meisten meiner Tage sehen etwa so aus. Ich komme nachts schlecht zur Ruhe, wozu ich morgens schon mit nochmal deutlich reduzierter Energie in den Tag starte. Mehr als 25 Punkte sind es an diesem Tag nicht und hier passiert das, was ich eingangs erwähnt habe: Garmin flacht die Kurve ab, wenn das Energie-Level zu niedrig ist und so verbrauche ich meine Energie scheinbar langsamer und komme halt irgendwie mit meiner wenigen Energie durch den Tag und bin „erst“ um 21 Uhr bei 5 Punkten – also komplett am Ende meiner Energie.
Das hier ist ein schlechter Tag. Ich weiß, das sieht auf den ersten Blick besser aus, weil die Energie zwischendurch sogar auf über 30 Punkte steigt, weil ich einen entspannten Vormittag hatte, aber wir sehen hier zwei problematische Dinge: 1. Meine „Batterie“ hat erst weit nach Mitternacht überhaupt angefangen zu laden und es dann natürlich wieder mal nur auf knapp unter 25 Punkte gebracht. Tagsüber habe ich ein paar dazugewonnen, sie aber deutlich schneller wieder verloren, so dass ich schon um 18 Uhr(!) keine Energie mehr hatte. Gar keine!
Die Energie-Level meiner Uhr sind nicht 1:1 auf die Spoon Theory übertragbar. Ich habe sie euch gezeigt, weil ich visualisieren wollte, wie niedrig mein Energie-Level im Normalfall ist. Garmin weist mich nahezu jeden Tag daraufhin, wie schlecht es ist, dass mein Energie-Level so niedrig ist und dass ich mich dringend gut erholen sollte. Ja, es hat keinen Modus für chronisch Kranke.
Ich vermute, dass die wenigsten Menschen tatsächlich mit 100 Punkten in den Tag starten, aber 25 – und selbst die 60 Punkte vom guten Tag – ist eindeutig zu wenig.
Wie wirkt sich dieses Energie-Level jetzt aber tatsächlich auf mich aus?
Ich merke es tatsächlich, sobald ich unter 10 Punkte falle. Da wird alles langsamer, schwieriger und anstrengender als sowieso schon. Bei 5 Punkten verspüre ich das dringende Bedürfnis, schlafzugehen. Ja, auch wenn das schon um 18 Uhr ist. Ich kämpfe dann oft darum, noch ein bisschen wach zu bleiben, weil nicht so früh nicht gut schlafen kann, aber in dieser Wachzeit kann ich nichts mehr tun, außer durch Reels scrollen.
Und damit sind wir beim zweiten Punkt, über den ich reden wollte: Die Nutzung unserer Energie!
Die Spoon Theory geht ja erstmal nur davon aus, dass man eine unterschiedliche Menge an Spoons hat und sie für verschiedene Tätigkeiten einsetzt und als Mensch mit weniger Spoons eben besonders gut darauf achten muss, ob man überhaupt noch Spoons hat und wofür man sie einsetzen möchte.
Genau dieses Wofür ist jetzt aber tricky.
Spoons kommen nämlich zusätzlich zu ihrer insgesamt begrenzten Anzahl auch noch in unterschiedlichen Größen und nicht jede Spoon-Größe passt zu jeder Aufgabe. Eine grobe Einteilung wären unterschiedliche Spoons für mentale, körperliche, soziale und emotionale Energie. Wenn du dich körperlich fit fühlst, aber deine emotionale Energie aufgebraucht ist, wirst du vielleicht nicht mehr in der Lage sein, damit umzugehen, dass du beim abendlichen Spaziergang in Hundekacke trittst. Ist deine körperliche Energie weg, aber du hast noch mentale Energie, kannst du vielleicht nicht mehr deine Küche aufräumen, aber noch einen spannenden Artikel zu deinem Lieblingsthema lesen.
Das ist jetzt natürlich stark vereinfacht. Die meisten Tätigkeiten brauchen verschiedene Formen von Energie und es gibt auch noch deutlich mehr als diese vier Formen und dann brauchen sie natürlich auch unterschiedliche Mengen an unterschiedlicher Energie. Ich sag’s mal so: Es ist komplex.
Für die meisten Menschen ist das Gesamt-Energie-Level hoch genug, dass sie sich den Großteil des Tages (und an den meisten Tagen) keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie für eine Tätigkeit noch genügend der richtigen Löffel zur Verfügung haben. Sie merken es vielleicht nach einem anstrengenden Tag, vielleicht erstmal in einzelnen Punkten, aber meistens spielt es keine Rolle in ihrem Alltag.
Für chronisch kranke, behinderte und neurodivergente Menschen ist das oft ganz anders.
Mir sind meine Löffel nahezu immer sehr bewusst – oder eher das Fehlen der Löffel. Ich muss mich eigentlich ständig entscheiden, etwas, das ich echt gerne tun würde, nicht zu tun, weil ich dadurch keine Löffel mehr für etwas hätte, dass ich tun MUSS.
Und dann kommen ja auch noch die unterschiedlichen Löffel dazu…
Das ist etwas, das selbst unter vielen „Mit-Spoonies“ oft übersehen wird: Selbst vergleichbare Tätigkeiten kosten nicht die gleiche Menge und die gleiche Art an Spoons.
Mir fällt es am stärksten auf, wenn ich auf Instagram Storys poste, aber nicht mehr direkt mit Menschen kommunizieren kann. Für mich ist das sehr logisch, weil direkt mit jemandem zu kommunizieren eine ganz andere Form von Energie (und meistens deutlich mehr) braucht, als einfach nur etwas aufzuschreiben. Kommuniziere ich mit jemandem, muss ich die Aussagen der anderen Person erfassen, verstehen und angemessen darauf reagieren. Ich muss mich auf jemanden einstellen und eingehen. Schreibe ich eine Story ist das nicht der Fall. In den verschiedenen Energiearten gesprochen: Kommunikation mit anderen erfordert eine große Menge an emotionaler, sozialer und zusätzlich mentaler Energie. Eine Story zu schreiben, benötigt in erster Linie mentale Energie und vielleicht – je nach Thema – noch zusätzlich emotionale. Das habe ich eher als – vor allem – soziale Energie.
Noch stärker ist das der Fall, wenn ich die Storys von anderen zwar noch lesen kann, aber eigentlich gar nicht mehr verarbeiten, geschweige denn darauf reagieren kann. Storys anzuklicken erfordert keine Energie, sie zu lesen ein bisschen mentale, sie zu verstehen und zu verarbeiten… tja, das kann sich massiv unterscheiden! Und dann kommt noch der Punkt „reagieren“. Reagieren erfordert oft DEUTLICH mehr Energie und vor allem auch die – bei mir eigentlich immer am wenigsten vorhandene – soziale Energie. Ich kann also oft überhaupt nicht reagieren – weil ich die (richtige) Energie gar nicht habe – und selbst wenn ich sie habe, muss ich mir sehr genau überlegen, ob das, worauf ich reagieren würde, jetzt wirklich so wichtig ist, dass ich dafür mein bisschen Energie verwenden sollte oder ob ich es später noch für anderes dringender brauchen werde.
An Spoonies – also Menschen, die stark auf ihre Spoons achten müssen – Forderungen zu stellen, was sie tun sollen, sprich, wofür sie ihre Spoons verwenden sollen, ist oft super problematisch und setzt sie unter Druck oder bringt sie in eine Zwickmühle, denn sie entscheiden sich ja nicht einfach dafür, deinen Wünschen (nicht) zu entsprechen. Sie müssen abwägen, ob sie die Spoons dafür haben, wofür sie die Spoons später noch brauchen würden, was sie später noch an Spoons brauchen würden, und so weiter. Das ist in den seltensten Fällen eine Entscheidung gegen deinen Wunsch, deine Forderung, dein Anliegen, ja gegen DICH. Es ist eine Entscheidung für die eigene Gesundheit und das eigene Leben!
Ich sage das klipp und klar: Von einem Spoonie enttäuscht zu sein, weil sie*er dich und dein Anliegen nicht „wichtig genug“ nimmt, bedeutet, dass du dein Anliegen als wichtiger als die Gesundheit des Spoonies betrachtest. Nicht zu glauben, wenn dir ein Spoonie sagt, keine Energie für etwas zu haben, heißt, jemand anderem das Urteilsvermögen über den eigenen Zustand abzusprechen und zu denken, das selbst besser beurteilen zu können.
Gibt es Menschen, die Spoons als Ausrede benutzen, wenn sie etwas zwar tun könnten, aber nicht wollen? Ziemlich sicher, aber definitiv nicht in der breiten Masse. So wie es halt immer Menschen gibt, die alle Arten von Ausreden verwenden – meistens aber überhaupt nicht aus Bösartigkeit, sondern weil sie davon ausgehen, dass ihre wahren Gründe nicht akzeptiert werden oder jemanden verletzen könnten. Aber das ist wieder ein eigenes Thema.
Wenn du dich in Bubbles bewegst, in denen es viele chronisch kranke, behinderte und/oder neurodivergente Menschen gibt, denke vielleicht daran, dass viele von ihnen Spoonies sein könnten – selbst, wenn du selbst kein Spoonie bist. Ja, selbst, wenn du Spoonie bist und deine Energie aber für XY reichen würde! Jedes Energie-Level ist anders. Jedes. Und du weißt NIE wie das deines Gegenübers aussieht.