Neurodivergenz und Schule – das kann auch gutgehen
Wenn neurodivergente Menschen über ihre eigene oder die Schulzeit ihrer Kinder erzählen ist das in den meisten Fällen die Erzählung über eine schlimme Zeit in ihrem Leben. Ich komme mir dann immer ein bisschen seltsam und merkwürdig „fehl am Platz“ vor, denn meine eigene Schulzeit war schön und ich war viel, viel lieber in der Schule als zuhause. Okay, das liegt natürlich zum Teil daran, dass es zuhause sehr schlimm war, aber halt auch daran, dass Schule für mich wirklich ein guter Ort war.
Ich will damit absolut nicht sagen, dass andere Erfahrungen falsch sind! So gehäuft, wie sie auftreten, ist ganz klar: Das Schulsystem denkt neurodivergente Menschen nicht mit. Ich möchte euch nur ein klitzekleines bisschen Hoffnung geben, dass Schule nicht schlimm sein muss, sondern auch gut sein kann.
Ich bin in den 1980er und 90er Jahren in Österreich zur Schule gegangen. Ich kann keine wirklichen Vergleiche zum deutschen Schulsystem – weder damals noch heute – ziehen und weder sagen, wie die rechtlichen, noch die tatsächlichen Voraussetzungen sind. Ich kann euch nur erzählen, was Schule für mich gut gemacht hat, und vielleicht bietet das ja Ansatzpunkte – für euch selbst, eure Kinder oder Pädagog*innen.
Die Grundschulzeit
Ich war immer ein „seltsames“ Kind. Schon im Kindergarten war ich anders und merkwürdig, aber die Erklärung dafür fand sich dann – scheinbar – durch die Scheidung meiner Eltern, wie ich fünf Jahre alt war: Ein zerrüttetes Elternhaus. Scheidungskind. Die Arme.
Dazu war ich dick und es erschien jedem ganz klar, dass mich andere Kinder deswegen aufzogen und verspotteten, oder dass ich – gerade im Turnunterricht – Dinge nicht konnte. Gleichzeitig konnte ich aber bereits zu Schulanfang lesen, merkte mir Lieder und Geschichten unheimlich schnell und war ungemein hilfsbereit – und dass, obwohl mir Kinder eher Angst machten und ich viel lieber in der Nähe Erwachsener blieb.
Ab der 2. Klasse hatte ich eine Lehrerin, die sich sehr um mich bemühte. Sie nahm sich im Turnunterricht Zeit, schirmte mich gefühlt von den anderen Kindern ab und ließ mich das, worin ich schlecht war, wieder und wieder probieren – sofern ich es wollte, denn es fühlte sich für mich nie wie Zwang an, sondern tatsächlich wie Unterstützung. In Mathe erkannte sie, wie leicht mir der Umgang mit Zahlen fiel und holte mich in die Förderstunden, die eigentlich für Kinder mit Schwierigkeiten in Mathe gedacht waren, für mich aber zusätzliche Aufgaben und Beschäftigung bedeuteten. Sie kümmerte sich viel darum, dass ich auch außerhalb der üblichen Schulzeiten Zeit an der Schule verbringen konnte und gab mir damit einen sicheren Platz, den ich zuhause nur sehr bedingt hatte.
Mit den anderen Kindern war alles deutlich schwieriger. Ich passte nicht dazu und das bekam ich Tag für Tag zu spüren. Es gab Tage, da versteckte ich mich unter meinem Tisch, weil alles zu viel für mich war und ich einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte – irgendwann warf ich sogar einen Atlas nach einem meiner Mitschüler, weil er einfach nicht aufhörte, mich zu verhöhnen. Besser wurde das für mich, als ein Junge in unsere Klasse kam, mit dem auch niemand etwas zu tun haben wollte, denn er war auf andere Art anders: Er kam nicht aus Österreich. Fortan war ich zumindest nicht mehr ganz alleine, sondern hatte so etwas wie einen Freund an meiner Seite.
Am Gymnasium
Meine Schulnoten waren in der gesamten Grundschulzeit ausgezeichnet und es war immer klar: Ich sollte aufs Gymnasium. Ich war dann auf drei verschiedenen Gymnasien, weil wir mehrfach umzogen und es ging mir dort unterschiedlich gut.
Mitschüler*innen waren immer ein Problem und ich hatte die meiste Zeit keine Freund*innen.
Meine Noten waren dafür großteils gut – ohne, dass ich je wirklich lernen musste -, ließen aber klar erkennen, wo ich mit meinen Lehrer*innen nicht gut klarkam, denn nichts beeinflusste mein Interesse, meine Mitarbeit und meine Leistung so sehr, wie die Lehrkraft, die das Fach unterrichtete. So schwankte ich durchaus 2 bis 3 Noten auf oder ab, je nachdem, wie gut die jeweilige Lehrkraft und ich miteinander klarkamen – nicht, weil sie mich unfair behandelt hätten, sondern weil mein Interesse schlagartig nachließ, wenn ich die Lehrkraft unangenehm fand und ich mich nicht mehr auf den Unterricht und die Themen konzentrieren konnte.
Die 5 besten Schuljahre überhaupt
Nach der 4. Klasse Gymnasium wechselte ich auf eine berufsbildende höhere Schule. In Österreich bedeutet das eine fünfjährige Schulzeit mit Elementen aus dem Gymnasium und berufsqualifizierenden Fächern, die mit einer Hochschulzugangsberechtigung (Matura/Abitur) und einem berufsqualifizierenden Abschluss einhergeht. Mein ursprünglicher Wunsch klappte nicht, dann zogen wir mal wieder um und am Ende landete ich – zu meinem großen Glück – an der Handelsakademie in einem kleinen Ort.
Handelsakademie (HAK) bedeutet, dass man nach 5 Jahren Schule neben der Hochschulzugangsberechtigung einen Abschluss als staatlich geprüfte*r Betriebswirt*in bekommt. Dafür gibt es dann Fächer wie kaufmännisches Rechnen, Rechnungswesen, Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, kaufmännische Software und 2 lebende Fremdsprachen – neben den „klassischen“ Fächern wie Deutsch, Biologie, Geografie usw.
Die Schule war klein, die fünfjährige Variante war erst im Schuljahr davor überhaupt eingeführt worden und wir waren alle zusammen gerade mal 200 Schüler*innen und vielleicht 20 Lehrer*innen. Ich habe es von Anfang an geliebt.
Ich weiß nicht, wie es kam, aber alle Lehrkräfte (bis auf eine bzw. später zwei), die ich dort hatte, waren für mich persönlich genau richtig.
Da war die Englischlehrerin, der Grammatik und Vokabeln zwar wirklich wichtig waren, für die es aber noch viel, viel wichtiger war, dass wir beides anwenden konnten. Wir führten viele Gespräche in ihrem Unterricht und ich lernte die meisten Vokabeln einfach über die Beschäftigung mit dem jeweils aktuellen Thema.
Da war die Rechnungswesen-Lehrerin, in deren Unterrichtsfach mein autistischer Kopf total glücklich war, weil es so viele klare Regeln und Strukturen gab, und die als erste erkannte, wie gut ich darin war, anderen Menschen etwas beizubringen. Sie empfahl mich den Eltern einer Mitschülerin als Nachhilfe und von dem Moment an gab ich nicht nur Nachhilfeunterricht, sondern hatte quasi auch die Erlaubnis in ihrem Unterricht meinen Mitschüler*innen Dinge zu erklären.
Da war die Lehrerin für kaufmännisches Rechnen, die es total okay fand, wenn ich die Aufgaben schneller durchrechnete als der Rest der Klasse und bei der ich dann eben lesen durfte, wenn ich nichts mehr zu tun hatte.
Da war der Betriebswirtschaftslehrer, der später auch Informatik unterrichtete, der von Jahr zu Jahr lockerer wurde und bei dem ich später auch während des Unterrichts anderen Dinge erklären durfte, was für mich definitiv eines der Dinge ist, die für mich und meinen persönlichen Wohlfühlfaktor am wichtigsten waren.
Womit ich nicht klarkam, das waren zwei Lehrkräfte, die einerseits zu wenig klar für mich waren, ständig Dinge anders erklärte oder bei denen ich einfach nicht wusste, woran ich war. Ganz besonders schlimm war für mich eine Lehrkraft die Regeln extrem genau befolgen wollte, allerdings nicht aus dem Bedürfnis und Verständnis heraus, dass Regeln wichtig sind, sondern aus der Angst davor, Fehler zu machen und vielleicht Ärger deswegen zu bekommen.
Ich verstehe dieses Verhalten heute durchaus, aber als Schülerin fand ich es sehr anstrengend – vor allem auch deshalb, weil ich bei vielen andern Lehrer*innen erlebte, dass es nicht darum ging, der „Obrigkeit“ gegenüber alles richtig zu machen, sondern es für uns als Schüler*innen richtig zu machen.
Für mich waren diese fünf Jahre die Zeit mit den größten Freiheiten und dem geringsten Druck zu Konformität. Ich saß in der ersten Reihe, genau vor dem Lehrer*innentisch (weil ich mich dort am wohlsten gefühlt habe) und habe im Unterricht Bücher gelesen, gezeichnet (Stimming) oder habe anderen Dinge erklärt. Ich habe mich dort frei gefühlt, so zu sein, wie ich bin, und habe für dieses Ich-Sein sogar noch Anerkennung bekommen.
Ich hatte zwar auch in dieser Zeit kaum Freund*innen – die meisten fanden mich einfach total seltsam -, aber doch ein paar Mitschülerinnen, mit denen ich ganz gut klarkam, wodurch Gruppenarbeiten einfacher wurden.
Fazit
Rückblickend glaube ich, dass das, was mir am meisten in meiner Schulzeit geholfen hat, Lehrer*innen waren, die bereit waren, sich auf mich einzulassen – auch, wenn es aus den „falschen“ Gründen war, weil ich (in der Grundschule) als Scheidungskind galt, mit dem man besonders sorgsam umgehen musste, dem man „merkwürdiges“ Verhalten oft nachsah, weil man die Scheidung als Grund dafür betrachtete und dem man dadurch einfach mehr Verständnis entgegengebracht hat.
Später war es dann ein überschaubares Umfeld, wenig Veränderungen an Menschen und Orten, das Anerkennen meiner „Eigenarten“ und zum Teil eben auch das bewusste Fördern dieser Eigenarten, weil Lehrkräfte erkannten, dass ich mit meinem Erklären etwas Gutes beizutragen hatte, auch wenn es so im Konzept Schule nicht vorgesehen war.
Ich habe 2000 mein Abi gemacht und mir ist klar, dass sich in diesen mehr als 20 Jahren vieles verändert hat und es heute deutlich mehr Regeln und Vorschriften gibt – und damit auch weniger Freiheiten, Energie und Raum, Dinge auf eine persönliche Art zu lösen. Dennoch glaube ich, dass Schule nicht automatisch furchtbar für neurodivergente Kinder sein muss – immerhin bringen neurodivergente Menschen viele positive Eigenschaften mit, auch für ein schulisches Umfeld!
Ich wünsche mir sehr, dass alle neurodivergenten Kindern so viel Glück mit ihren Lehrkräften haben, wie ich – und dass es vielleicht eines Tages kein Glück mehr ist, sondern Normalität. Schulzeit ist nie einfach, aber sie müsste deutlich weniger schlimm sein, als sie für viele von euch war und für eure Kinder heute ist.