ADHS und Schlaf
Schlaf ist für neurodivergenter Menschen oft ein schwieriges Thema – einschlafen, durchschlafen, erholsam schlafen, all das ist nicht gerade einfach mit einem neurodivergenten Kopf.
Erholsam schlafe ich so gut wie nie. Das Konzept von „erholt aufwachen“ ist mir fremd und ich wundere mich regelmäßig darüber, dass es wohl üblich ist, in der Früh tatsächlich erholt zu sein! Es ist dabei vollkommen egal, wie lange ich schlafe, ob 4 Stunden oder 10 Stunden – oder alles dazwischen –, ob ich mich vom Wecker wecken lasse oder von selbst aufwache: Erholt fühle ich mich nicht.
Mein Fitnesstracker sagt dazu, dass ich nachts sehr unruhig und gestresst bin und ja, so fühlt es sich an.
Auch kurze Nickerchen oder Power-Naps funktionieren bei mir nicht. Diese klassischen 15- bis 30-minüten Power-Naps bekomme ich schlichtweg nicht hin. Ich bin dann 15 bis 30 Minuten mit geschlossenen Augen in Alarmbereitschaft, weil ich nur darauf warte, dass die Zeit um ist und ich aufstehen muss! Für ein Nickerchen muss ich die Gewissheit haben, mindestens eine Stunde schlafen zu können. Alles darunter und ich komme nicht aus dem Alarmmodus.
In Wirklichkeit dauern meine Nickerchen dann aber zwei Stunden, weil ich nach einer Stunde zwar vom Wecker geweckt werde, mich aber so erschlagen fühle, dass ich dann noch eine Stunde schlafe, bis ich von selbst aufwache – ohne fit zu sein.
Die Wissenschaft erklärt das damit, dass die ein, zwei Stunden zu lang sind und man in die Tiefschlafphase kommt und ein Nickerchen sich aber nur in der leichten Schlafphase abspielen sollte, um erholsam zu sein.
Ich schätze, ich bin kein Nickerchen-Mensch.
Auch nachts durchschlafen ist ein eher ungewöhnliches Konzept für mich und die paar Nächte im letzten Jahr, die ich durchschlafen konnte, kann ich an einer Hand abzählen. Ich wache jede Nacht vier- bis fünfmal auf – ein Teil davon ist körperlichen Beschwerden geschuldet, ein Teil meinem Kopf, der mich immer wieder mit „tollen Ideen“ aufweckt. ADHS halt. Die Hyperaktivität lässt auch nachts nicht nach und lässt mich nicht so wirklich schlafen – beschert mir aber auch immer wieder spannende Ideen, die ich dann beim wieder Einschlafen prompt vergessen kann. An manche erinnere ich mich aber irgendwann wieder und ja, doch, mein Kopf hat nachts echt gute Ideen!
Das Einzige, was ich mittlerweile deutlich besser im Griff habe ist die Sache mit dem Einschlafen.
Jahrzehntelang konnte ich abends nicht einschlafen. Während der Ehemann neben mir binnen Sekunden tief und fest schlief, lag ich wach daneben, drehte mich von einer Seite auf die andere und fand keine gute Schlafposition und die Gedanken tobten durch meinen Kopf. Wie Spielfilme liefen Momente des Tages in mir ab, ich versuchte die ungelösten Probleme der letzten Monate zu lösen oder plante den nächsten Tag. Das Einzige, was ich dabei nicht tat, war schlafen und es störte mich ungemein.
Ich probierte vermutlich jeden Einschlaftipp aus, der mir unter die Augen kam, arbeitete an meiner Schlafhygiene, benutzte das Bett ausschließlich zum Schlafen, versuchte es mit White, Pink, Brown und Einhorn-farbenem Noise, hörte Hörbücher, reduzierte die abendliche Bildschirmzeit, verwendete Blaufilter, machte vor dem Schlafengehen Sport – aber nicht zu kurz vor dem Schlafengehen! -, meditierte, führte ein Dankbarkeitstagebuch, probierte Düfte, spezielle Kissen, die angeblich perfekte Temperatur, Melatonin-Spray, -Drops und -Tabletten, CBD-Produkte und Schlaftabletten. Nichts davon half dauerhaft! Nichts!
Dennoch schlafe ich mittlerweile nahezu immer innerhalb von fünf bis zehn Minuten ein!
Das, was mir hilft, hat sich für mich im Laufe der Jahre durch Zufall ergeben. Am Anfang habe ich abends oft ganz bewusst den Tag Revue passieren lassen, habe mir die schönen Momente in Erinnerung gerufen, versucht, mich mit schönen Gedanken zur Ruhe zu bringen. Alles sollte schön und positiv und beruhigend sein und für mich den Schlaf mit etwas Angenehmen verbinden.
In Wirklichkeit habe ich damit jedoch das Gegenteil erreicht.
Mein ADHS-Kopf braucht nur einen Gedanken-Funken, um darauf anzuspringen. Zu jedem noch so kleinen Gedanken, findet er Zusammenhänge, Geschichten, Erinnerungen, Ideen und alles davon möchte beachtet und betrachtet und durchgedacht werden. Während ich also versuchte, meinen Kopf mit schönen Gedanken zu füttern, war mein Kopf damit beschäftigt, all diese Gedanken auszubauen und zu erweitern und mich damit wachzuhalten, denn da war doch NOCH etwas, worüber ich dringend nachdenken sollte!
CN: Tod, Trauer für den nächsten Absatz
2019 starb mein bester Freund gänzlich unerwartet und es ging mir monatelang sehr, sehr schlecht. Meine schönen Einschlafgedanken waren nicht mehr schön, sondern durchzogen von traurigen Erinnerungen, von Vermissen und Trauern und auch die Vorfreude auf den nächsten Tag war getrübt von dem Wissen, dass es ein weiterer Tag ohne ihn werden würde.
Ich suchte für mich verschiedene Hilfen und probierte unter anderem Achtsamkeits-Training und Meditation.
Das Achtsamkeits-Training fand ich irgendwo zwischen faszinierend und albern, zwischen spannend und nutzlos und fühlte mich von der Umsetzung überfodert. Die Meditationen wiederum halfen mir für eine Weile sehr und ich nutzte lange Zeit eine Einschlaf-Meditation statt meiner jetzt nicht mehr so schönen Gedanken.
Irgendwann brauchte ich die Hilfsmittel immer weniger und als mir die Einschlaf-Meditation schließlich nichts mehr gab, ließ ich sie sein und nahm stattdessen meine Schöne-Gedanken-Gewohnheit wieder auf. Schlief ich damit besser? Nein. Aber ich hatte ja ohnedies noch nie wirklich besser geschlafen.
Monate vergingen. Ich versuchte mich immer wieder in neuen Maßnahmen für besseres Einschlafen, doch nichts half dauerhaft und so lag ich im Bett, der Ehemann neben mir schlief, und meine Gedanken beschäftigten sich damit, wie ich das Schlafzimmer am besten umbauen könnte oder ob ich mich nicht vielleicht vor 3 Wochen unangemessen verhalten hatte.
Plötzlich sagte ich in Gedanken „Stopp!“ und „Wir schlafen jetzt!“ und das nächste, an das ich mich erinnerte war, wie ich nachts wie üblich aufwachte.
Erst war mir das gar nicht wirklich bewusst, es passierte einfach und als es mir bewusst wurde, fand ich es absurd: Seit wann hörte mein Kopf auf mich? Doch er tut es.
Ich gehe inzwischen davon aus, dass es eine der Achtsamkeitsübungen ist, die mir dabei hilft. Die Übung nennt sich Gedanken-Stopp und funktioniert so, dass man ein Stopp-Schild oder eine ausgestreckte Hand visualisiert und sich gleichzeitig in Gedanken ein nachdrückliches „Stopp“ zuruft. Dadurch unterbricht man den aktuellen Gedankenstrom. Danach lenkt man die Gedanken auf etwas Positives und vermeidet dadurch, dass der ursprüngliche Gedanken wieder zurückkommt.
Ich habe mir offenbar angewöhnt, diese Umleitung sein zu lassen – mein ADHS-Kopf würde ja ohnedies nur in einem neuen endlosen Gedankenzug landen – und mich schlafen zu schicken.
Das funktioniert heute (3 Jahre nachdem ich die Technik kennengelernt habe) tatsächlich fast immer! Ich glaube aber, dass dazu noch etwas anderes beiträgt, dass ich mir aus der Einschlaf-Meditation abgeleitet habe.
In den Meditationen sprach mich immer wieder ein Satz an, der aussagte, dass ich alles für diesen Tag erledigt hatte und das, was ich nicht erledigt hatte auf einen anderen Tag warten würde. Für mich hieß das: „Du darfst den Tag jetzt beenden.“
Ich nutze es heute so, dass ich mich etwa eine Stunde vor dem Schlafengehen frage, ob es noch etwas gibt, dass ich unbedingt heute erledigen möchte/muss. Früher war da immer eine ganze Liste an Dingen, die ich unbedingt noch tun wollte: Malen, Häkeln, Basteln, Spielen, Fernsehen, Lesen… Alles, was ich gerne mochte und wofür ich am Tag keine Zeit oder Energie gehabt hatte. Ich „musste“ das doch noch tun! Wer weiß, ob ich am nächsten Tag dazu kommen würde!
Heute sage ich mir fast immer: „Das kann ich auch ein anderes Mal tun.“ Vielleicht ist dieses „andere Mal“ dann tatsächlich am nächsten Tag, vielleicht stelle ich aber auch am nächsten Tag fest, dass mir gerade etwas anderes wichtiger ist – oder das, was mir am Abend noch so dringend und unaufschiebbar schien, jetzt doch nicht mehr so wichtig für mich ist.
Ich schließe dadurch den Tag für mich ab, beende ihn und gehe ohne Drängendes „aber ich will doch noch…“ schlafen. Auch Gedanken oder Pläne verschiebe ich auf ein anderes Mal. Manchmal schreibe ich sie mir auf, damit ich sie nicht vergesse, aber oft sind es Dinge, die wirklich überhaupt nicht wichtig sind oder mich unnötig belasten.
Ich meine, ich muss ja wohl echt nicht darüber nachdenken, ob ich mich vor x Wochen im Gespräch mit einer mir völlig fremden Person unpassend verhalten habe! Auch, wenn der Kopf das gerne genau vor dem Einschlafen dringend tun wollen würde.
Ich gehe mit der Überzeugung schlafen, dass ich alles erledigt habe und nichts so wichtig ist, dass es nicht bis zur nächsten Gelegenheit warten kann. Und wenn der Kopf dann anfängt, doch über irgendetwas nachdenken zu wollen, dann sage ich ihm „Stopp!“ und erinnere ihn daran, dass „heute“ gar nichts mehr zu tun oder zu denken ist und dass wir jetzt schlafen. Und dann schlafen wir. Manchmal auch erst nach der zweiten oder dritten Erinnerung, aber wir schlafen.
Nach wie vor nicht durch und nicht erholsam, aber wir schlafen, anstatt stundenlang wach zu liegen und über unnötige Dinge nachzudenken und auch, wenn ich nachts aufwache, weil da wohl doch noch etwas durchdacht werden wollte, kann der Kopf das ja wohl auch ohne meine bewusste Anwesenheit und ich kann so lange schlafen!
Selbst so ein ADHS-Kopf hat Stellschrauben! Vielleicht hat deiner ganz andere, aber der Punkt ist: Sie existieren und du kannst sie für dich finden. Nicht, indem du einer vorgegebenen Lösung folgst, sondern indem du deinen Kopf inspirierst, herumprobierst und ihn seine eigene Lösung bauen lässt, denn genau darin, sind ADHS-Köpfe echt gut!
Das wird nicht alle deine Probleme lösen, aber vielleicht hilft es dir dabei einzuschlafen oder durchzuschlafen oder erholsam zu schlafen – oder bei etwas ganz anderem; Hauptsache, es macht dein Leben ein kleines bisschen einfacher für dich.