Wovor ich Angst habe
Meine letzten 24 Stunden bestanden hauptsächlich aus Schlaf und Tränen. Medikamenteninduzierter Schlaf, weil die Tränen und die Verzweiflung, die sie auslöste, nicht mehr zu bewältigen waren. Zu sagen, dass es mir nicht gut geht, ist untertrieben und trotzdem verspüre ich das dringende, drängende Bedürfnis, zu schreiben, denn zumindest habe ich noch eines: Meine Stimme.
Ich möchte, nein eigentlich muss ich es, euch von meiner Vergangenheit erzählen.
Ich war 5 Jahre alt, als meine Mutter meinen zukünftigen Stiefvater H. kennenlernte. H.’s Leben war wohl nicht gerade einfach gewesen und er sehnte sich nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Liebe, nach Erfolg und Größe. Meine Mutter behandelte ihn freundlich – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, dass eine weibliche Person freundlich zu ihm war – und er wollte mehr davon. So viel mehr, dass es sein Ziel wurde, sie zu besitzen.
Jetzt war meine Mutter aber mit meinem Vater verheiratet, sie hatte mich, sie hatte einen guten Job mit Kolleg*innen und Chefs, die sie mochten und wertschätzten. Vielleicht war sie dennoch unglücklich, ich weiß es nicht, vielleicht fühlte sich die Aufmerksamkeiten und die Zuneigung dieses deutlich jüngeren Mannes auch einfach schön an, vielleicht war es das Bild, dass er ihr von einer gemeinsamen Zukunft malte… ich kann es nicht sagen. Was ich weiß, ist, dass H. sich mit meinen beiden Eltern anfreundete, immer mehr Zeit mit ihnen – und vor allem meiner Mutter – verbrachte und sie schließlich so weit hatte, dass sie sich von meinem Vater trennte. Es folgten eine Scheidung und eine Hochzeit und ich hatte mit einem Mal einen Stiefvater. Einen Stiefvater, der dieses „fremde“ Kind eigentlich überhaupt nicht wollte, aber darin vor allem eines sah: Ein Druckmittel gegenüber meiner Mutter. Fortan kam es, wann immer sie sich nicht so verhielt, wie er das wollte, zu der Drohung, dass er mich ja auch einfach weggeben könne und meine Mutter gehorchte.
Ich bin also mit diesem Menschen aufgewachsen und von Anfang an war sein Verhalten gegenüber mir geprägt von „Zuckerbrot und Peitsche“. Es gab kaum Lob, kaum Anerkennung, keine Liebe. Ich musste mir alles verdienen, selbst das Recht darauf, etwas Nettes zu ihm zu sagen. Nichts war selbstverständlich, außer, dass er der Mittelpunkt von allem war und es unsere Aufgabe war, ihn glücklich zu machen.
Mein Leben entwickelte sich immer mehr zu einem immerwährenden Abchecken, Erraten und Erfüllen seiner Bedürfnisse. Er sagte nicht etwa: „Ich brauche gerade das und das“, nein, er erwartete von mir und meiner Mutter, dass wir diese Bedürfnisse errieten und uns entsprechend verhielten, egal, ob wir das überhaupt konnten oder nicht. Das war nicht wichtig. Wichtig waren einzig und alleine er und die Erfüllung seiner Bedürfnisse.
Umso älter ich wurde, umso schlimmer war es für mich, denn die Bedürfnisse stiegen, die Bestrafungen wurden schlimmer, die Liebe wurde immer mehr rationiert, immer mehr zur Ware. Ich verstand das damals nicht, erkannte nicht, was da passierte und dachte, alles wäre normal, wie man das halt so denkt, wenn man nichts anderes gewohnt ist.
Wir lebten extrem isoliert, er war der Einzige, der Freund*innen haben durfte und die waren eigentlich nur dafür da, ihm Gefallen zu tun und danach weggeworfen zu werden. Menschen waren für ihn nichts als Mittel um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er wollte Anerkennung für seine Fähigkeiten? Nun, er erfand eben Fähigkeiten und Nachweise dieser Fähigkeiten. Jemand kam dahinter? Na, dann musste man ihn eben in Misskredit bringen und so lange über vermeintliche Fehler dieser Person reden, dass niemand ihr mehr glaubte.
Als ich 15 oder 16 war ging es mir einmal so schlecht, dass ich in der Schule komplett dissoziierte. Mein Stiefvater hatte davor schlimme Dinge getan und mein gesamtes System war davon überfordert und schaltete ab. Ich weiß nicht, wie ich an diesem Tag überhaupt in die Schule gekommen bin, ich weiß gar nichts mehr, bis zu dem Moment, als meine Lehrer*innen und der Direktor meiner Schule, darauf aufmerksam wurden und sich um mich kümmerten.
Sie verständigten das Jugendamt, die organisierten eine Pflegefamilie und ein Gespräch mit meinen Eltern und nach wenigen Tagen „durfte“ ich wieder nach Hause. Ich glaube, ich sagte damals, dass ich das wollte und glaubte das vermutlich auch, denn ich hatte ja 10 Jahre Gehirnwäsche hinter mir, 10 Jahre, in denen seine Bedürfnisse meine Welt gewesen waren, 10 Jahre, in denen ich nichts anderes kannte als das, was ER wollte. Was ich wollte? Das existierte doch überhaupt nicht.
Ich kam also zurück nach Hause und ich bekam die Folgen meines „unvernünftigen“ Verhaltens gezeigt. Liebesentzug auf unbegrenzte Zeit, Vertrauensverlust auf unbegrenzte Zeit, Ausschluss von gemeinsamen Unternehmungen, mein „Zimmer“ wurde zu einem 3 x 1,50 m, mit nichts als einem halbhohen Brett abgetrennten, Bereich im Flur – damit man mich und mein Verhalten besser beobachten könne.
Mir wurde sehr deutlich vermittelt, dass ich das, was ich getan hatte, nie wieder tun solle: Nie wieder Hilfe suchen! Mir wurden Horror-Zukunftsgeschichten ausgemalt, wenn ich es doch wieder tun sollte – Geschichten, in denen H. meinetwegen zu Unrecht ins Gefängnis gehen würde müssen, meine Mutter deswegen ihre Kinder verlieren würde, wir alle auf der Straße landen würden…
Ich glaubte das. Natürlich glaubte ich das und ich tat alles, um zu beweisen, dass ich ihr Vertrauen, ihre Liebe doch verdienen würde, dass ich ein guter Mensch wäre, dass ich bereit war, ALLES zu tun, was sie wollten, Hauptsache, sie wären wieder nett zu mir und ich dürfte wieder „Ich hab dich lieb.“ sagen ohne deswegen als Lügnerin beschimpft zu werden…
Mein Direktor, der sich so für mich eingesetzt hatte, bekam Ärger. Nicht von irgendwelchen offiziellen Stellen – wofür auch, er hatte absolut richtig gehandelt -, aber von meinem Stiefvater. Der setzte alles daran, um seinen Ruf zu zerstören und ihn schlechtzumachen. Er freundete sich mit anderen Eltern an, wurde ihr Kumpel und setzte ihnen dann Stück für Stück seine Geschichte ins Ohr. Eine Geschichte darüber, wie der Direktor sich ihn als Opfer herausgesucht hatte, wie es der Direktor gewesen war, der sich das alles ausgedacht gehabt hätte, der etwas gegen ihn hätte (obwohl sie einander ja nicht einmal kannten), der ihm (und seiner Familie!) schaden wollen würde.
Der Direktor kam heil aus der Sache raus, weil es ein paar Menschen komisch vorkam, was H. da behauptete. Bevor es aber auf ihn zurückfallen konnte, zog er sich komplett aus seinem „Freundeskreis“ zurück, brach alle Kontakte ab und wir zogen mal wieder um.
Der Direktor war nicht der erste und er blieb nicht der einzige, der so einen Backlash abbekam, er ist aber der für mich wichtigste Fall, denn trotz all dem, was mein Stiefvater im Nachhinein mit ihm machte, hielt er immer weiter zu mir, unterstützte mich und gab mir das erste Mal in meinem Leben die Gewissheit, dass es auch Menschen gab, die selbst die geschicktesten Lügen erkannten und sich nicht von ihnen täuschen ließen. Er gab mir die Gewissheit, dass mein Stiefvater NICHT allmächtig war und Lügen nicht zwingend stärker als die Wahrheit sein mussten, auch, wenn sie noch so sehr als Wahrheit bezeichnet wurden.
Dank dieses Menschen konnte ich endlich anfangen, die Wahrheiten, die mein Stiefvater so aufstellte, von denen, die tatsächlich wahr waren, zu trennen. Ich konnte beginnen, seine Taktiken zu durchschauen, seine Manipulationen, sein geschicktes Aufbauen von Geschichten, sein Verdrehen von Wahrheiten zu seinen Gunsten, sein gekonntes Weglassen von Details und genau den richtigen Raum lassen, damit Menschen die Lücken in seinen Geschichten zu seinen Gunsten füllen würden.
Er war geschickt. Unheimlich geschickt und die wenigsten Menschen merkten es.
Ich kam Jahre später dort weg – in einer Nacht- und Nebelaktion, die ich heute als Flucht bezeichne – und hatte seither nie wieder Kontakt zu ihm, meiner Mutter oder meiner Schwester. Die Flucht hat mir damals das Leben gerettet.
Es ging mir jahrelang unheimlich schlecht. Es ist heute 21 Jahre her und bis vor wenigen Jahren fürchtete ich mich vor einem bestimmten Typ Auto, weil er das gefahren hatte. Ich hatte Angst davor, offen über ihn zu reden, weil was, wenn er Wind davon bekommt und so eine Kampagne abzieht, wie gegen meinen Direktor?
Aber ich habe auch bis heute Angst. Angst, es mit Menschen zu tun zu haben, die so sind wie er, die so geschickt darin sind, mit Menschen zu spielen, dass die Menschen es nicht bemerken. Ich habe Angst davor, mit jenen Menschen zu tun zu haben, die so etwas nicht bemerken würden. Ich habe Angst davor, dass jemand meine Worte verdreht und zu seiner ganz eigenen Wahrheit macht, die ihm dann Menschen auch noch glauben, weil geschickte Lügen sich halt oft schöner anhören und -fühlen als die Wahrheit.
Eine Angst, die wohl nie wieder vergehen wird.