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My neurodivergent life is a piece of art

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

Nein, das ist nicht egal.

Nein, das ist nicht egal.

25. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

„Da traut man sich ja gar nichts mehr schreiben!“ In letzter Zeit lese ich immer wieder, dass die neurodivergente Community so ausschließend und besserwisserisch wäre, so empfindlich auf falsche Begriffe reagieren würde (z.B. „neurodivers“ statt „neurodivergent“) und sich Neulinge ja gar nichts schreiben trauen würden aus Angst, von irgendjemandem verbal angefahren zu werden.

Ich verstehe diese Angst. Mir geht das in neuen Räumen eigentlich immer so, dass ich mich erstmal nichts sagen traue, wochen-, ja manchmal monatelang nur mitlese, bis ich endlich den Mut fasse, auch selbst etwas zu schreiben. In allen neuen Räumen (und übrigens am stärksten in neurotypischen). Da spielt sehr stark meine Angst vor Zurückweisung hinein, mein Wunsch, niemanden zu verletzen, vielleicht auch ein gewisser Perfektionismus, aber halt auch meine Liebe zur Sprache und zur richtigen Verwendung von Begriffen.

Begriffe sind bedeutsam. Für uns neurodivergente Menschen vielleicht sogar noch mehr als an anderen Stellen.

Für viele von uns ist es wichtig, den Inhalt einer Aussage wirklich, wirklich, wirklich richtig zu verstehen. Wir sind es gewohnt, nicht immer alles so zu verstehen, wie es gemeint ist und dann deswegen anzuecken. Nur wie es denn etwas gemeint? Wie erfasst man das?

Mein Gehirn bleibt manchmal stecken, wenn ein Satz mehrdeutig – oder zumindest nicht absolut eindeutig – ist. Es versucht dann, jede mögliche Bedeutung des Satzes zu verstehen und abzuwägen, welche der*die Sprecher*in denn genau gemeint haben könnte. Oft klappt das nicht, weil es einfach viel zu viele Möglichkeiten gibt, wie ein einzelner Satz gemeint sein könnte und die tatsächliche Bedeutung lässt sich dann eben nur deuten. Richtige, eindeutige Begriffe helfen da.

Deswegen sind auch Redewendungen und Metaphern vor allem für Autist*innen manchmal schwierig. Wir versuchen nämlich, sie absolut richtig zu verstehen. Redewendungen, die wir nicht kennen, sind dann erstmal verwirrend, denn wir erkennen vielleicht noch nicht einmal, dass es eine Redewendung ist, versuchen, das Gesagte wörtlich zu verstehen und stolpern darüber, dass es wortwörtlich einfach keinen Sinn ergibt. Das wird im Laufe der Jahre oft besser, weil wir immer mehr Redewendungen kennen und sie oft ja auch selbst verwenden – noch mehr, wenn Sprache ein Spezialinteresse ist.

Was aber bleibt ist eine gewisse Unsicherheit an vielen Stellen.

Vielleicht kennst du das, wenn jemand zu dir sagt „Wir treffen uns nächstes Wochenende.“ und du fragst dich: „Ist das in 3 Tagen oder in 10?“ „Nächstes Wochenende“ ist nicht so eindeutig, wie wir oft denken und bei unseren Gesprächspartner*innen lösen wir dann damit Verwirrung aus. Nach einem kurzen peinlichen Moment suchen wir nach besseren Erklärungen und legen uns vielleicht auf ein genaues Datum fest, um alle Missverständnisse zu vermeiden.

Viele Autist*innen lieben es, sich möglichst genau auszudrücken. Wir „oversharen“, wir verwenden Klammern und Gedankenstriche, Fußnoten und Einschübe, denn wir wollen das, was wir von uns geben, so unmissverständlich wie nur irgendwie möglich machen. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten auch immer noch dazu schreiben, in welcher Verfassung ich einen Text gerade verfasst habe, nur damit auch ganz sicher klar ist, wie etwas gemeint ist. Wäre es trotzdem nicht, also kann ich mich bremsen.

Für uns sind genaue Begriffe also tatsächlich wichtig. Sie helfen uns, Klarheit herzustellen und Unsicherheiten zu vermeiden.

Und ja, manchmal sind wir auch ein bisschen besserwisserisch und wollen, dass du den richtigen Begriff verwendest, selbst wenn wir dich auch sonst verstehen. Für mich fühlt es sich nach Wertschätzung an, wenn du dich um die richtigen Begriffe bemühst und im Gegenzug fühle ich mich oft nicht respektiert, wenn dir Begriffe, die für mein Leben wichtig sind, egal sind. Zusätzlich kann ein „neurodivers“ statt „neurodivergent“ bei mir tatsächlich dazu führen, dass ich auf etwas nicht reagieren kann – nicht, um dir eine Lektion zu erteilen, sondern weil mein Gehirn quasi einen Kurzschluss hat und nicht mehr korrekt funktioniert. Ja, wegen einer Kleinigkeit wie einem falschen Wort! Ich bin Autistin. Mein Kopf funktioniert eben so.

Was auch noch eine Rolle bei unserer „Pingeligkeit“ in Bezug auf Begriffe spielt: Viele Autist*innen legen sehr großen Wert auf Regeln. Richtige Begriffe fühlen sich für mich durchaus wie eine Regel an und verwendest du den falschen Begriff, brichst du quasi die geltende Regel und ich winde mich innerlich, weil ich natürlich weiß, dass das keine große, wichtige Regel ist, aber sie sich für mich an dieser Stelle wichtig anfühlt, weil sie „richtig“ von „falsch“ trennt.

Ich verstehe, dass all das dazu führen kann, dass neurodivergente Communities sich beängstigend anfühlen, wenn man das erste Mal mit ihnen in Kontakt kommt. Ich verstehe auch, dass es problematisch ist, so viel Wert auf Begriffe zu legen, die man ja erstmal kennen und lernen muss. Und ja, wir reagieren nicht immer lieb und geduldig, sondern sind auch mal genervt und haben keine Lust, zu erklären, warum der von dir verwendete Begriff falsch ist. Das ist menschlich. Genauso wie es menschlich ist, wenn du einen falschen Begriff verwendest.

Ich nehme es dir nicht übel, wenn du das machst – auch, wenn du dadurch einen inneren Konflikt oder einen Kurzschluss in mir auslöst -, aber wenn ich oder ein anderer neurodivergenter Mensch mal nicht geduldig mit dir ist, denke bitte daran, dass du in unseren Raum kommst und wir diejenigen sind, die dort sie selbst sein können sollten.

Das bedeutet nicht, dass du keine Fehler machen darfst. Aber so, wie du vielleicht von uns erwartest, dass wir dir deine Fehler nachsehen, erwarte ich auch von dir, dass du uns so nimmst, wie wir sind: Autistisch.

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

25. Oktober 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Erst kürzlich tauchte auf einer großen Autismus-Seite mal wieder ein Text zum Thema „Autismus überwinden“ auf. In dem Text ging es hauptsächlich darum, wie falsch es doch wäre, davon auszugehen, dass Autismus ein Teil von einem selbst sei und dass er nicht heilbar wäre. Man müsse nur tüchtig an sich arbeiten und dann wäre der Autismus auch nicht mehr diagnostizierbar und damit geheilt. Wer das Gegenteil behaupte, hätte einfach nur das Problem, sich zu sehr mit seinem Autismus zu identifizieren und das gelte es zu überwinden.

Jetzt ist es so, dass der Artikel ein bisschen schummelt. Der Autor stützt sich auf die DIAGNOSTIZIERBARKEIT von Autismus und wir wissen ja: Autismus wird nur diagnostiziert, wenn die Diagnosekriterien erfüllt sind. Die Diagnosekritierien umfassen aber in erster Linie von außen erkennbare Symptome plus Leidendruck. Wirkt man also auf andere nicht mehr autistisch und hat keinen Leidensdruck mehr – ZACK – geheilt!

Das ist aber eigentlich nur der Punkt, an dem das „Störungsmodell“ psychischer Krankheiten an sein Limit kommt und wo wir nicht über Heilbarkeit, sondern über Diagnostizierbarkeit diskutieren sollten. Diagnosen sind nicht dafür da, um ein anderes Denken, Fühlen oder Wahrnehmen zu beschreiben. Sie sind dafür da, um eine Störung, eine Abweichung im Norm-Verhalten (also dem Verhalten der Mehrheit) zu beschreiben und diese Abweichung möglichst so zu verändern, dass sie nicht mehr „stört“ (meistens eher das Umfeld als die Betroffenen). Ich empfehle hierzu auch sehr den Post „Diagnose nur mit Leidensdruck“ der Autismusambulanz Halle!

Wenn der Autor des genannten Artikels also darüber spricht, dass Autismus „heilbar“ ist, sagt er eigentlich: Man kann als Autist*in so gut lernen, die autistischen Merkmale zu verstecken, dass man nicht mehr als Autist*in erkannt wird. Herzlichen Glückwunsch! /s (Tonindikator: Sarkasmus) Hier wird Masking als Heilung verkauft!

Warum ist es so schwer – auch als Autist*in – zu akzeptieren, dass man für immer autistisch sein wird?
Warum ist der Gedanke daran, nicht „geheilt“ werden zu können, so unerträglich, dass man sich selbst Brücken baut, um sich nicht länger als Autist*in wahrnehmen zu müssen?

Ich fürchte, die Antwort liegt darin, wie Autismus immer noch wahrgenommen wird. Sie liegt in all den Defiziten und den Problemen. Sie liegt in den Diagnosekriterien und sie liegt in den „Therapien“, die allzu oft immer noch darauf abzielen genau das zu erreichen, was der Autor des von mir kritisierten Textes empfiehlt: Benimm‘ dich normal, dann bist du auch kein*e Autist*in mehr! Dann störst du nicht mehr! Dann bist du nicht mehr lästig! Dann muss ich keine Rücksicht mehr auf dich nehmen!

So ist es aber nicht. Autismus hat man für immer – und Rücksicht verdient übrigens jeder Mensch!

Vollkommen egal, ob ich mich autistisch präsentiere oder nicht, ob ich dir in die Augen sehen kann oder nicht, ob ich Sarkasmus und Redewendungen verstehe, Spezialinteressen habe oder diesen Wollpullover, den du so kuschelig findest als unerträglich kratzig bezeichne und sofort wieder ausziehen muss oder ertragen kann – ich bin autistisch.

Autismus, das ist nicht das, was du von außen siehst. Er ist nicht das, was mich für dich anstrengend und seltsam macht. Autismus ist auch nicht das, was für dich unangenehm ist oder mich als pingelig und übersensibel dastehen lässt.

Autismus ist das, was ich empfinde, wie ich wahrnehme, wie ich denke. Autismus ist meine Sicht auf die Welt, nicht deine.

Du findest mich anstrengend, unhöflich, kleinlich und überempfindlich? Aber warum stört dich das überhaupt? Warum nervt es dich, wenn ich dir nicht in die Augen sehe? Warum fühlst du dich davon verletzt, dass ein Pulli, den du angenehm empfindest, für mich kratzt? Warum ist es so schlimm, dass meine Wahrnehmung eine andere als deine ist?

Und warum darf das für dich schlimm sein, aber nicht für mich?

Als Autistin bin ich es gewohnt, dass meine Wahrnehmung als falsch oder unpassend empfunden wird. Ich bin es gewohnt, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, wenn ich etwas anders wahrnehme, dass ich mich dafür entschuldigen muss, wenn neurotypische Menschen mich mal wieder falsch verstehen oder dass ich mich so verhalten muss, wie es für mich unangenehm ist, nur um andere nicht zu enttäuschen oder als unhöflich empfunden zu werden.

Autistisch zu sein ist, als würdest du in eine fremde Kultur geworfen werden, mit einer fremden Sprache und fremden Gesten, Ritualen und Bräuchen und als würden die Mitglieder dieser Kultur überhaupt nicht verstehen, dass es neben ihrer Kultur auch eine andere – nämlich deine – gibt. Sie gehen davon aus, dass alle ihre Kultur und Sprache verstehen, dass ihre die einzig wahre Kultur ist und jede Person, die darin nicht so perfekt ist, ist fehlerhaft und krank.

Natürlich kannst du diese Kultur und Sprache lernen, vielleicht sogar so gut, dass die Mitglieder der Kultur irgendwann gar nicht mehr merken, dass das gar nicht wirklich deine Kultur ist und dich nicht länger als fehlerhaft, sondern als „geheilt“ betrachten. Aber wärst du wirklich „geheilt“? Oder würdest du einfach immer noch alles, was du siehst erstmal „übersetzen“? Würdest du vielleicht auch nach 20 Jahren klammheimlich immer noch vieles in D-Mark umrechnen, weil das das ist, was sich für dich vertraut und sicher anfühlt? Würdest du einen Teil deiner Energie dafür verwenden, in dieser fremden Kultur nicht aufzufallen, obwohl es immer noch nicht DEINE Kultur ist, nur um geheilt zu erscheinen, niemanden zu stören, „normal“ zu sein?

Genau so ist es auch mit der „Heilung“ von Autismus.

Ja, ich kann lernen, mich neurotypisch zu verhalten, aber ich werde nie lernen, neurotypisch zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen. Ich denke, fühle und empfinde neurodivergent, autistisch, adhs-ig… eben so, wie ich bin!

Wenn Comic-Figuren eine Maske überziehen und dann für jemand anderes gehalten werden, erkennen wir alle, dass das in Wirklichkeit überhaupt nicht funktionieren würde. Wenn sich Robin Hood in der Disney-Version einen Schnabel anzieht und auf Stelzen geht, um als Storch am Wettkampf teilzunehmen, wissen wir als Zuschauer*innen natürlich immer noch, dass er in Wirklichkeit Robin Hood ist – auch, wenn er noch so perfekt den Storch mimt und im Film auch als solcher durchgeht. Denn er IST Robin Hood, egal, wie sehr er sich wie ein Storch benimmt.

Und genauso sind wir Autist*innen eben Autist*innen – auch dann, wenn wir eine neurodivergente Maske anziehen, jemandem in die Augen schauen und Metaphern verstehen.

Wenn ich mit anderen Autist*innen (oder auch Menschen mit ADHS) rede, merke ich, wie unsere Denkweisen sich ähneln, wie wir die Welt auf eine ganz andere Art wahrnehmen und verarbeiten, als das bei neurotypischen Menschen der Fall ist. Unser Verständnis der Welt, der Menschen und ihrer Verhaltensweisen ist ganz, ganz anders und unsere Schwierigkeit besteht oft darin, diese Verhaltensweisen für uns zu übersetzen – und im Gegenzug auch uns zu übersetzen, um uns für andere begreifbar zu machen.

Es ist nicht der AUSDRUCK, der uns zu Autist*innen macht (auch wenn es das ist, was diagnostiziert wird). Es ist unser Inneres. Es ist unsere Wahrnehmung. Es ist unsere Denkweise. Es ist unser Fühlen.

Nichts davon kann oder müsste geheilt werden.

Die einzige „Überwindung“ einer Autismusspektrumstörung, die ich mir wünsche ist die, dass Autismus nicht länger als Störung, Defizit oder Defekt verstanden wird, sondern als eine von vielen Möglichkeiten zu sein. Nicht besser, aber eben auch nicht schlechter als neurotypisches Sein.

Autismus hat man für immer und es ist Zeit, das nicht länger als Nachteil zu sehen. Nur so kommen wir zu einem „modernen“ Blick auf Autismus, ADHS und andere Neurodivergenzen. Nur so kommen wir zu einem zeitgemäßen Blick auf Diversität, auf „Normalität“, Abweichungen und Behinderungen.

Es geht nicht um Heilung oder Überwindung. Es geht um Anerkennung jeglicher Lebensrealität als gleichwertig.

Selbstgespräches sind super
Selbstgespräche sind super

Selbstgespräche sind super

2. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Solange ich mich erinnern kann, führe ich Selbstgespräche. Sie laufen intern ab, niemand würde sie von außen bemerken, und sie sind ein nahezu konstanter Begleiter in meinem Leben. Ich habe dabei verschiedene Formen von Selbstgesprächen: Manche sind ein Dialog, bei dem ich mich mit mir selbst unterhalte, andere sind eher wie eine kommentierende oder erklärende Stimme und manche sind wie störende Zwischenrufer.

Ich empfinde meine innere Stimme die meiste Zeit als hilfreich. Sie hilft mir beim Strukturieren meiner Gedanken, sie bietet mir Trost und Ermutigung und sie erleichtert es, Ereignisse zu verarbeiten und zu memorieren.

Manchmal benutzen aber auch meine Angststörung, die Depression oder die posttraumatische Belastungsstörung die innere Stimme und dann ist sie gefährlich für mich, denn sie formuliert dann sehr viel Negatives, erzählt mir von allem, was schief gehen könnte und von allem, was schon mal schief gegangen ist, sie nimmt die Stimme meiner Traumaverursacher an und ahmt sie nach und erzählt mir, was für ein schlechter Mensch ich doch wäre, oder sie zerlegt eine Situation in lauter Einzelteile und analysiert sie endlos auf mögliche Fehler meinerseits.

Ich würde sagen, dass DAS nicht wirklich mein innerer Dialog ist. Es ist eine gekaperte, vergiftete Version davon und sie hat einen eigenen Namen: Intrusive (aufdringliche) Gedanken. Ich mag sie nicht.

Die anderen, die echten Selbstgespräche, die mag ich aber, empfinde sie als wichtigen und hilfreichen Teil von mir. Dennoch dachte ich mein Leben lang, dass meine inneren Dialoge seltsam wären und etwas, für das ich mich zu schämen hätte. Nie hätte ich jemandem davon erzählt – oder zumindest nicht so, dass ich es nicht als Witz hätte abtun können. Ich dachte, die Selbstgespräche kämen von meiner Neurodivergenz und wären nur ein weiterer Teil meiner „Seltsamkeit“ – und dann stellte sich heraus, dass dem gar nicht so ist. Oder vielleicht doch. Oder wieder auch nicht.

Zunächst: Die meisten Menschen führen Selbstgespräche UND Selbstgespräche sind etwas Gutes!

Wir beginnen im Kindesalter damit, mit uns selbst zu reden. Wir erzählen uns zum Beispiel Handlungsabläufe oder geben unseren Spielsachen Stimmen und lassen sie Situationen ausspielen. Irgendwann gehen diese gesprochenen Selbstgespräche („selbstbezogenes Sprechen“) in innere Selbstgespräche über und werden zu unserer inneren Stimme.

Sie helfen uns weiterhin dabei, Handlungen durchzuführen, Probleme zu lösen oder Situationen zu bewältigen. Der innere Monolog – oder der innere Dialog – motiviert uns, erinnert uns, verbalisiert unsere Empfindungen, bereitet uns auf Gespräche oder Situationen vor, analysiert und bewertet. Unsere innere Stimme hilft uns dabei, die Welt zu verstehen und ein Teil von ihr zu sein.

Wir können unsere Selbstgespräche bewusst initiieren und auch steuern und damit zum Beispiel gegen intrusive Gedanken vorgehen oder wir nutzen sie, um eine schwierige Aufgabe zu erleichtern oder uns auf eine Situation vorzubereiten. Daneben laufen Selbstgespräche aber auch ganz automatisch und unbewusst ab und uns fällt vielleicht gar nicht auf, dass wir gerade mit uns selbst reden.

Wie ist das jetzt mit der Neurodivergenz?

Wir haben schon gesehen: Selbstgespräche sind nicht auf neurodivergente Menschen beschränkt, sondern jeder Mensch hat einen mehr oder weniger stark ausgeprägten inneren Dialog. Die Wissenschaft geht davon aus, dass Selbstgespräche wichtig für die exekutiven Funktionen sind und untersucht daher die Wirkung und Funktionsweise von inneren Gesprächen bei Menschen mit exekutiven Dysfunktionen.

Diese Studie untersucht beispielweise speziell innere Sprache bei Autismus und bei Schizophrenie mit akustisch verbalen Halluzinationen, hat aber auch einen sehr interessanten Abschnitt über ADHS. Sie kommt dabei zu der Vermutung, dass bei Autismus der innere Dialog seltener genutzt wird (vor allem, wenn die sozio-kommunikativen Fähigkeiten eingeschränkt sind), während er bei ADHS unkontrollierter und damit tendenziell störender ist. Beides könnte nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler negative Auswirkungen auf die exekutiven Funktionen haben.

Ich kann aufgrund meiner eigenen Erfahrungen gerade die ADHS-Sicht sehr gut nachvollziehen. Nachts nicht einschlafen können, weil die Gedanken noch durch den Kopf toben? Klingt doch sehr nach unkontrollierten inneren Mono- oder Dialogen! Und auch intrusive Gedanken (die ja auch bei ADHS häufig sind) sind wahrscheinlich eine Form davon.

Man kann also sagen:

  • Selbstgespräche – egal ob verbalisiert oder innerlich (innere Stimme, innerer Dialog, innerer Monolog, innerer Sprache, inneres Gespräch…) – sind sowohl für neurotypische als auch für neurodivergente Menschen üblich.
  • Selbstgespräche sind äußerst nützlich.
  • Selbstgespräche können bewusst eingesetzt werden.
  • Selbstgespräche können aber gerade in unkontrollierter Form auch hinderlich oder schädlich sein.
  • Unkontrollierte Selbstgespräche können die Form von negativen Selbstgesprächen oder intrusiven Gedanken annehmen. Es ist möglich, diese negativen Selbstgespräche bewusst zu kontern, indem man positive Selbstgespräche dagegen einsetzt.

Ich mag meine eigenen Selbstgespräche jetzt noch mehr und werde mich zukünftig sicher auch nicht mehr dafür schämen, denn was innere Dialoge alles können ist einfach sehr, sehr cool!

Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?

Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?

4. Mai 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ganz am Anfang beginnen: Was ist eine Krankheit? Wann ist man überhaupt krank? Und wann ist man gesund?

Nun, eines vorweg: Die Frage ist viel schwieriger zu beantworten, als man denkt, denn beide Begriffe sind letzten Endes nur sprachliche Konstrukte und so es gibt viele Definitionen für Gesundheit und Krankheit. Die einfachste lautet: Wer nicht gesund ist, ist krank.

Aber wie ist man überhaupt gesund?

Die WHO sagt dazu:

“Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.”

(Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.)

Satzung der Weltgesundheitsorganisation

Das geht weit über das, was wir in unserem Alltag als „Gesundheit“ verstehen, hinaus. Laut der Definition der WHO sind wir nur gesund, wenn unser Wohlbefinden nicht gestört ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist krank aber doch eher etwas, das sich „schlimmer“ anfühlt und wir haben daher für all das, was zwischen diesem „schlimmer“ und „gesund“ liegt das Wort „Befindlichkeitsstörung“ erfunden. Habe ich eine Befindlichkeitsstörung ist mein (Wohl-)befinden durch irgendetwas gestört ist, es „geht mir nicht so gut“.

Im Alltag werden Befindlichkeitstörungen leider meistens abgetan. Es ist ja nichts „Richtiges“, keine echte Krankheit. Aber was ist überhaupt eine Krankheit? In der Wikipedia findet man dazu folgendes:

Krankheit [..] ist ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit, der auf Funktionsstörungen von einem oder mehreren Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus eines Lebewesens beruht.

Wikipedia

Das leuchtet durchaus ein: Habe ich zum Beispiel eine Erkältung ist meine Leistungsfähigkeit ganz klar vermindert. Habe ich mir den Arm gebrochen auch. Jetzt gibt es aber auch Krankheiten, die meine Leistungsfähigkeit vielleicht gar nicht einschränken, oder chronische Krankheiten, die in Schüben auftreten und wo meine Leistungsfähigkeit zwischen den Schüben nicht vermindert ist. Krankheiten sind sie trotzdem.

Und die Befindlichkeitstörung? Ich fürchte, an der Stelle müssen wir sagen: „Es kommt darauf an.“

Die Sache ist die: Die Grenzen zwischen Krankheit, Befindlichkeitsstörung und Gesundheit sind letzten Endes fließend und von unserer sozialen und kulturellen Prägung abhängig. Personen mit den gleichen Symptomen können sich trotzdem unterschiedlich einstufen – die eine empfindet sich vielleicht noch als gesund, während die zweite sich schon deutlich krank fühlt und eine dritte findet, sie wäre „nicht so richtig krank, aber auch nicht gesund“. Wenn diese Personen aber zum Arzt gehen wird sie*er möglicherweise in allen drei Fällen sagen: „Sie sind krank, sie haben…“

An dieser Stelle kommen wir also zu dem, was ganz offensichtlich Krankheiten sind, nämlich das, was Ärztinnen und Ärzte diagnostizieren.

Stellen Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen eine Diagnose, erhält diese Diagnose einen Code gemäß der ICD-10. ICD steht dabei für International Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und wird von der WHO herausgegeben. Die 10 steht für die Versionsnummer und ist in der deutschen Fassung (ICD-10-GM) die aktuell in Deutschland gültige.

In der ICD-10 werden alle Krankheiten mit einem Code verschlüsselt – du kennst das vielleicht von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, da steht häufig ein Buchstabe gefolgt von ein paar Zahlen. Schnupfen hat zum Beispiel den Code J00, Frühkindlicher Autismus ist F84.0, Asperger-Autismus (ein heute von vielen stark abgelehnter Begriff!) hat den Code F84.5. Wie du siehst, unterscheidet die ICD-10 noch verschiedene Typen von Autismus. Das wird in der Folgeversion ICD-11 zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Die Version 11 ist inzwischen von der WHO verabschiedet, wird in Deutschland aber voraussichtlich frühestens in 5 Jahren eingeführt.

Den Diagnosen durch die ICD einen Code zuzuordnen, dient vor allem der statistischen Erfassung von Krankheiten und deren Abrechenbarkeit gegenüber Krankenkassen. In der ICD finden sich aber teilweise auch Diagnosekriterien für Krankheiten.

Für psychische Erkrankungen wurde in den USA zusätzlich das DSM entwickelt, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und statistisches Handbuch für psychische Störungen). Der große Unterschied zur ICD ist, dass das DSM sich deutlich stärker auf die Diagnose der (psychischen) Krankheiten konzentriert. Es gilt heute international als Standardwerk der Psychiatrie. Aktuell liegt es in der 5. Fassung (DSM-5 oder DSM-V) aus dem Jahr 2013 vor, die auch auf Deutsch übersetzt wurde.

Einer der Grundsätze des DSM ist es, für jede psychische Erkrankung Symptome aufzulisten und genaue Kriterien festzulegen, welche davon unbedingt für eine Diagnose erforderlich sind. Die Symptome sind hauptsächlich von außen sichtbare, klinische Merkmale und werden möglichst neutral beschrieben.

Das ist gleichzeitig einer der Kritikpunkte am DSM. Eine rein symptombasierte Diagnostik ist immer subjektiv und unterliegt der Einschränkung dessen, was überhaupt als Symptom von außen erkannt werden kann. Sie lässt andere wichtige Hinweise, wie zum Beispiel das Erbgut oder bildgebende Verfahren (wie MRT oder CT), außen vor. Auch das, was von neurodivergenten Menschen als „andere“ Denkweise betrachtet wird, findet in den Diagnosekriterien des DSM keine Berücksichtigung. Es ist nur ein Blick von außen.

Das DSM und die ICD sind ausschließlich für die Klassifizierung (und Diagnose) von Störungen und Krankheiten vorgesehen. Für psychische Störungen gilt dabei laut DSM: „Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten.“

Ich habe also (typischerweise) nur dann eine psychische Störung, wenn ich bedeutsam leide, und damit kommen wir zurück zur Überschrift: Ohne Leid kein Autismus?

Es steckt schon im Namen: Autismus, eigentlich ja Autismus-Spektrum-Störung, ist eine (psychische) Störung und als solche setzt sie also voraus, dass ich leide. Und tatsächlich, die zwingend notwendigen Diagnosekriterien für Autismus laut DSM-5 besagen:

„[Die] Symptome verursachen klinisch signifikante Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen der gegenwärtigen Funktionsweise.“

DSM-5

Im Deutschen wird das häufig als „Leidensdruck“ interpretiert und ich kenne Fälle, in denen bei der Diagnostik tatsächlich abgefragt wurde: „Leiden Sie?“ In anderen Fällen interpretiert die diagnostizierende Person selbst, ob der Patient oder die Patientin zu leiden scheint oder ob die Beeinträchtigungen ausreichend signifikant sind. Ist das Leiden nicht ersichtlich oder werden die Beeinträchtigungen nicht als ausreichend signifikant bewertet (wofür es übrigens keine Skala gibt), erfolgt keine Autismus-Diagnose. Das betrifft auch AD(H)S, denn dort gilt das gleiche Kriterium.

Jetzt kann man natürlich sagen: „Na, wenn du nicht stark beeinträchtigt bist, hast du auch keine Störung. Freu dich doch!“ Vielleicht wirke ich aber nur nicht so stark beeinträchtigt, weil ich es geschafft habe, mein Leben für mich passend einzurichten und mein – letzten Endes ja auch immer subjektives – Leid ist sehr gering.

Nehmen wir eine klassische Frage aus Autismus-Screening-Tests: „Machen Ihnen gesellige Anlässe Spaß?“ Ich würde die Frage mit einem klaren „Nein!“ beantworten. Bei einem geselligen Anlass fühle ich mich äußerst unwohl und möchte eigentlich die ganze Zeit nur weg. Dort leide ich tatsächlich. Das muss ich aber gar nicht, denn ich habe auch die Möglichkeit, nicht hinzugehen! Im Normalfall nehme ich an geselligen Anlässen nicht teil und empfinde somit auch keinen Leidensdruck dabei. Ist es eine Beeinträchtigung für mich, dort nicht hinzugehen? Nein. Die Beeinträchtigung entsteht nur dann, wenn ich hingehen muss und das ist so selten, dass ich dabei nicht von einer „signifikanten Beeinträchtigung“ reden würde. Meine „Strategie“ reduziert also die Wahrscheinlichkeit, dass ich als leidend gesehen werde und somit – laut DSM-5 – auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich Autistin bin!

An der Stelle dreht sich jetzt alles ein wenig im Kreis: Ich brauche solche Strategien, weil ich autistisch bin, entwickle ich aber viele davon, um mit meinem Autismus klarzukommen, habe ich nicht mehr ausreichend Beeinträchtigungen um überhaupt als Autistin zu gelten. Man könnte also sagen: Umso besser ich mit meinem Autismus zurechtkomme, umso weniger bin ich mit Autismus diagnostizierbar. /hj Tonindikator: half-joking

Das ist der für mich größte Kritikpunkt an den aktuellen Diagnosekriterien von Autismus. Autismus ist es offiziell nur dann, wenn ich signifikante Probleme habe, die auch noch jemand anderes so bewerten muss! (Gilt auch für ADHS.)

Das Hauptproblem liegt dabei darin, dass nur psychische Störungen diagnostiziert werden. Eine neurologische Abweichung ist aber nicht automatisch eine Störung, es ist erstmal einfach nur eine Abweichung. Zur diagnostizierbaren Störung – mit dem notwendigen Kriterium der Beeinträchtigung – wird es erst dadurch, dass ich tatsächlich beeinträchtigt werde.

Was bin ich jetzt aber, wenn ich diese Beeinträchtigung nicht so empfinde, mich nicht leidend fühle oder es von außen nicht so wahrgenommen wird? Ehrlich gesagt: Ich fürchte, es gibt keinen Begriff dafür.

Autismus-Spektrum-Störung (Autismus) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind Begriffe für Störungen und alles was keine Störung ist, hat bisher einfach keine Bezeichnung. Ich würde dennoch erstmal sagen: Es ist Autismus. Es ist ADHS. Für die ganz Korrekten vielleicht: Nicht pathologische Autismus-Spektrum-Störung bzw. nicht pathologische ADHS. Oder ich würde allgemein von Neurodivergenz sprechen, was aber leider die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Neurodivergenzen unsichtbar macht, die ja noch mehr umfassen als nur ADHS und Autismus.

Letzten Endes bräuchten wir aber neue Bezeichnungen für die verschiedenen neurodivergenten Ausprägungen. Bezeichnungen, die nicht von Störungen ausgehen und deren Diagnose nicht ausschließlich auf dem basiert, was andere Menschen von uns wahrnehmen. Wir bräuchten Diagnosekriterien, die unsere Innensicht berücksichtigen und uns nicht länger als Krankheit oder Störung betrachten und im allerbesten Fall würden unsere Bedürfnisse, unsere Eigenarten und unsere Andersartigkeit auch ohne Diagnose berücksichtigt werden, weil wir als Gesellschaft lernen würden, auf alle Rücksicht zu nehmen.

Utopisch? Ja. Aber anfangen können wir trotzdem schon mal damit.

Produktivität bringt dir nichts oder: Warum ich Produktivitätstipps hasse

Produktivität bringt dir nichts oder: Warum ich Produktivitätstipps hasse

25. April 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Ich hasse Produktivitäts- und Selbstoptimierungstipps. Also eigentlich hasse ich gar nicht die Tipps an sich – manche sind tatsächlich hilfreich -, sondern vielmehr das, was sie einem vermitteln: Dieses permanente Gefühl, nicht gut genug zu sein, verbunden mit der Botschaft, sich einfach mehr anstrengen zu müssen. Darin schwingt immer das stille Versprechen mit: „Wenn du DAS tust, dann wird dein Leben besser! Noch diese eine Maßnahme und du wirst erfolgreich, berühmt und schön und schwimmst in Geld!“ Wirst du nicht und irgendwo weißt du das auch, aber dennoch regt sich die Hoffnung in dir: „Es könnte doch dieses Mal so sein?“

Kein Wunder, dass ganze Ratgeber darüber geschrieben werden, dass „erfolgreiche“ Menschen regelmäßig nach ihren Geheimtipps gefragt werden – oder sie ganz ungefragt geben – oder dass man mit all den Infografiken zum Thema Selbstoptimierung und Produktivitätssteigerung vermutlich ganze Städte tapezieren könnte.

Die meisten dieser Tipps sind recht klein, schlicht und allgemeingültig und ich dachte daher immer, es wäre meine Schuld, dass ich immer noch nicht erfolgreich war und maximal meine große Zehe in Geld baden konnte. Sicher lag es daran, dass ich sie nicht konsequent genug befolgte, nicht hart genug an mir arbeitete und mein Glas Wasser morgens immer vergaß. /s (Tonindikator: Sarkasmus)

Entsprechend erfreut war ich also, als ich das erste Mal auf Tipps speziell für Menschen mit ADHS stieß: „Juchu! Endlich gibt es auch Menschen, die meine Probleme berücksichtigen!“ Ich erfuhr, dass ich mit Timern arbeiten sollte, meine Termine in einen Kalender eintragen sollte, To-Do-Listen schreiben, Aufgaben zerlegen und strenger mit mir sein sollte. „Hm“, dachte ich mir, „hatten wir das nicht alles schon?“

Zusätzlich tauchten jetzt aber auch Tipps auf, wie ich Putzen und Aufräumen organisieren sollte, wie ich auch meine privaten Termine in strikt geführte Kalender eintragen sollte, mein Leben besser durchtakten sollte und was ich tun konnte, um weniger häufig Dinge zu verlegen und zuverlässiger in meiner Kommunikation mit Freund*innen zu sein. Die Produktivitätsanforderungen hatten eindeutig auch das Privatleben erreicht.

Erst wollte ich unbedingt all diese Tipps ausprobieren, wollte eine bessere Freundin und Partnerin, ein besserer Mensch sein… und dann wurde ich wütend.

All diese Selbstoptimierungstipps und Produktivitätsratgeber gaukeln uns vor, dass es unser oberstes Ziel ist, besser zu werden. Konstant. Noch dazu nicht nur in den Dingen, die uns vielleicht tatsächlich an uns stören, sondern einfach in allem, schlichtweg weil es möglich ist und weil sich jemand einen Tipp dafür überlegt hat.

Bei mir – wie bei vielen Menschen mit ADHS – stößt das auf offene Ohren, denn wir haben oft von klein auf gelernt, dass wir ja so viel Potential hätten, es nur leider nicht ausschöpfen würden und uns eben mehr anstrengen müssten. Wir könnten ja so viel erreichen, wenn wir nur mehr an uns arbeiten würden. Wir könnten so viel bessere Kinder, Freund*innen, Partner*innen, Menschen sein, wenn wir uns einfach nur mehr Mühe geben würden.

Ich glaube mittlerweile, dass ich mich mein ganzes Leben mit Produktivitätstipps beschäftigt habe, um „besser“ zu werden und dieses ominöse Potential zu erfüllen, das andere in mir zu sehen meinten. Irgendwann wurde dieser Glaube, dann zu meinem eigenen und ich sagte mir beständig, dass ich mich mehr und immer mehr anstrengen, mein „Potential“ endlich mal ausschöpfen müsste und machte mir die größten Vorwürfe, dass ich es nie schaffte. Also habe ich den nächsten Produktivitätstipp probiert und den nächsten und den nächsten. Gut genug fühlte ich mich dadurch immer noch nicht.

Genau das ist das Perfide an Produktivitätstipps und Selbstoptimierungsratgebern: Für sie sind wir nie gut genug. Wir können immer noch etwas verbessern und danach noch etwas und selbst wenn wir denken „Jetzt reicht es aber mal“, zeigt uns gleich darauf jemand, dass es doch nicht reicht, weil wir noch nicht das neueste Selbstoptimierungs-Allheilmittel ausprobiert haben und das wäre schließlich der ultimative Tipp!

Unser Drang zu mehr Produktivität und Selbstoptimierung führt am Ende vor allem zu zwei Dingen: Jede Menge Stress und ein reduziertes Selbstwertgefühl.

Ich habe irgendwann aufgehört, produktiver und erfolgreicher sein zu wollen. Auch die Jagd nach meinem angeblichen Potential habe ich aufgegeben. Ich versuche heute nur noch, der Mensch zu sein, mit dem ich mich wohlfühle.

Ich lese immer noch Produktivitätstipps, vor allem jene für Menschen mit ADHS, denn manche davon greifen tatsächlich das auf, was auch ich probiere: MIT dem eigenen Gehirn, der eigenen Denkweise, den eigenen Schwächen zu arbeiten, anstatt dagegen anzukämpfen.

Es geht nicht darum, sich immer noch mehr anzustrengen und zu bemühen und einem unerreichbaren Ideal hinterherzulaufen, sondern darum, herauszufinden, was man tatsächlich braucht und möchte: Im Job, im Privatleben, im Zuhause, in der Partnerschaft… – und was realistisch erreichbar ist. Und dann geht es darum, für sich selbst Wege zu finden, das alles möglichst leicht und mit wenig Aufwand langfristig umzusetzen, denn – große Überraschung: Umso WENIGER man sich in seinem Alltag anstrengen und bemühen muss, umso mehr Energie hat man für das, was man liebt, wofür man brennt und wofür man gerne diese Energie einsetzen möchte – und das ist bei mir nun mal einfach nicht „erfolgreich sein“.

Produktivität an sich bringt dir nichts. Sie macht dich nicht zu einem „besseren“ Menschen und sie wird dich auch nicht reich und berühmt machen und an dir selbst zu arbeiten ist zwar toll, aber du musst dich nicht „optimieren“ – es gibt keine Blaupause dafür wie du sein sollst.

Gute Produktivitätstipps machen deinen Alltag besser und einfacher und das bringt dir mehr als jede noch so große Produktivität.

Neurodiversität
Neurodiversität

Neurodiversität

13. April 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Biodiversität, das sagt uns etwas: „Irgendwas mit Artenvielfalt oder so, nicht wahr?“ Meistens verbinden wir es auch mit etwas Positivem und das ganz zu Recht, denn Biodiversität, die Vielfalt an Lebewesen und Ökosystemen, führt überhaupt erst dazu, dass wir so leben können, wie wir es tun: Trinkwasser, Sauerstoff, Nahrung, … – all das funktioniert nur durch Biodiversität. Die Vielfalt stärkt unsere Ökosysteme und macht sie anpassungs- und widerstandsfähig. Ohne sie wäre der Klimawandel schon längst gelaufen – und das nicht zu unserem Vorteil.

Und Neurodiversität? Um welche Vielfalt geht es da und ist das auch was Gutes?

Bei Neurodiversität geht es – grob formuliert – um die Vielfalt der menschlichen Gehirne, um unterschiedliche Informationsverarbeitung und -wahrnehmung.

Die große Mehrheit der Menschen denkt sehr ähnlich – nicht im Sinne von „Sie haben die gleichen Gedanken“, sondern ihre Wahrnehmung und ihre Reiz- und Informationsverarbeitung ist sehr ähnlich. Diese Menschen gelten als „neurotypisch“, sprich ihr Gehirn arbeitet in „typischen“ Parametern. Klar, sonst wären sie ja nicht die Mehrheit.

Jetzt gibt es aber darüberhinaus auch Menschen, deren Gehirn anders funktioniert: Es ist andersartig, abweichend oder eben neurodivergent.

Unter Neurodivergenz fallen viele psychische „Auffälligkeiten“, wie z.B.: Autismus, ADS/ADHS, Tourette, Schizophrenie, Bipolare Störung, Zwangsstörung; aber auch Lese-Rechtschreibstörung, Dyskalkulie („Rechenschwäche“) oder Sprechstörungen.

Schon daran sieht man: Menschen mit Neurodivergenz werden als gestört betrachtet. Sie funktionieren nicht so, wie es von der (neurotypischen) Mehrheit erwartet wird und sie gelten daher als problematisch und fehlerhaft. Von außen betrachtet ist das durchaus logisch: Das, was als Norm angesehen wird, wird von neurodivergenten Menschen „nicht erfüllt“. Ihr Gehirn funktioniert anders und erfüllt seine Aufgabe in anderer Form als ein Gehirn, das dem der Mehrheit entspricht.

Ist das schlecht? Nun, das kommt auf die Sichtweise an.

Menschliches Zusammenleben basiert stark auf einem gemeinschaftlichen Konsens: Man hat ähnliche Werte, ähnliches Grundwissen, ähnliche Reaktionen, ähnliche Grenzen. Weichen diese Grundannahmen voneinander ab, wird es kompliziert, denn ich „funktioniere“ nicht so, wie mein Gegenüber es erwartet und für sein eigenes Handeln voraussetzt und berücksichtigt.

Wenn ich zum Beispiel mit jemandem ausmache, dass wir uns um 17:30 Uhr treffen, erwartet jede*r von uns, dass wir uns auch tatsächlich um 17:30 Uhr treffen. Was aber, wenn ich Dyskalkulie habe und Zahlen in meinen Kopf einfach tun was sie wollen? Vielleicht übersetze ich es für mich in „5 Uhr 30“ und schon im nächsten Moment verdreht sich die Uhrzeit für mich in 15:30 Uhr. Am Tag des Treffens habe ich keine Ahnung mehr, was denn jetzt die richtige Uhrzeit war. Vielleicht werde ich 2 Stunden warten. Vielleicht wartet aber auch die andere Person auf mich. Die Tatsache, dass mein Gehirn anders funktioniert hat unabsehbare Folgen und ja, das ist störend, nervig, hinderlich.

Was wäre aber, wenn wir davon ausgehen würden, dass Uhrzeiten vielleicht nicht für jeden Menschen so eindeutig wären und uns entsprechende Hilfen überlegen würden? Vielleicht rufen wir am Tag vorher noch einmal an, um die andere Person an die richtige Uhrzeit zu erinnern. Oder wir schicken eine Nachricht: „Hey, bleibt es bei dem Treffen in 2 Stunden?“ Oder wir wissen vielleicht, dass der oder die andere grundsätzlich mit schriftlicher Information besser zurecht kommt und schreiben Termine daher auf. Es ist immer noch eine Störung im „üblichen“ Ablauf, aber an solche kleinen Hilfestellungen kann man sich nicht nur schnell und unproblematisch gewöhnen – sie helfen letzten Ende allen Menschen, egal, ob sie Dyskalkulie haben oder nicht!

Das Spannende ist nämlich: Die meisten neurotypischen Menschen kennen von sich selbst Situationen, in denen sie ähnliche Probleme wie neurodivergente Menschen haben. Vielleicht vergessen sie einen telefonisch ausgemachten Termin, weil sie kurz unaufmerksam waren. Vielleicht hat gerade jemand an der Tür geläutet oder das Kind hatte eine dringende Frage und schon schlüpfte der Termin aus dem Gedächtnis. Vielleicht waren sie auch müde, in einer lauten Umgebung, der Empfang war kurz weg oder sie hatten nichts zum Schreiben zur Hand und bis es soweit ist, haben sie die Uhrzeit schlichtweg vergessen.

Genau daher kommt der Satz: „Das ist doch kein Zeichen für Autismus/ADHS/etc. – das habe ich schliesslich auch!“ oder „Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?“

Neurodivergente Menschen hassen das, denn es fühlt sich meistens so an, als würden dadurch unsere eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten relativiert und heruntergespielt: „So schlimm ist das doch nicht…“

Aus der Sicht neurotypischer Menschen ist der Gedanke durchaus verständlich: Sie kennen das ja tatsächlich von sich – oder zumindest glauben sie das. Was ihnen nämlich nicht bewusst ist: Bei einem neurodivergenten Menschen kommen solche Situationen in einer Häufigkeit und Stärke vor, die für den neurotypischen Menschen – mit eben ganz anderer eigener Erfahrung – schlichtweg nicht vorstellbar ist. Das was bei dem einen „mal“ vorkommt, ist bei dem anderen ein Dauerzustand – und auch noch viel intensiver. Der Grundton mag identisch sein, aber die Ausprägung und ihr Einfluss auf das gesamte Leben und Sein ist ein ganz anderer.

Ist Neurodivergenz jetzt also schlecht? Für mich eindeutig nicht.

Ich kenne natürlich nur meine, die neurodivergente, Art zu denken und ich mag sie sehr. Habe ich dadurch Probleme? Ja, definitiv. Das liegt aber nicht daran, dass neurodivergentes Denken schlecht oder weniger effizient wäre; es passt einfach nur nicht in eine Welt, in der die Mehrheit anders denkt und die für diese Mehrheitsdenkweise ausgelegt ist.

Die Menschheit profitiert jedoch von andersartigem Denken. „Out of the box“-Denken und kreative Lösungsansätze sind gefragt und entstehen überhaupt erst dadurch, dass irgendjemanden eben anders, abweichend, divergent denkt.

Neurodivergentes Denken und Leben ist eine Bereicherung jeder Unterhaltung, jedes Zusammenseins und Neurodiversität – also neurotypisches UND neurodivergentes Denken – führen zu Vielfalt in unserer Gesellschaft. Eine Vielfalt, die wir brauchen und wertschätzen sollten.

Neurodiversität ist genau so gut und wichtig, wie Biodiversität und es ist höchste Zeit, Neurodivergenzen, wie Autismus, AD(H)S, Bipolarität und all die anderen nicht länger als minderwertig anzusehen, sondern als Stärke.

Diversität stärkt eine Gesellschaft. Abweichung stärkt eine Gesellschaft. Abweichung ist wertvoll.

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