Skip to content
Unkelbach Art
  • Über mich
  • Schmerzen
    • Schmerzskala
    • Schmerzen im Zyklusverlauf
  • Impressum
  • Datenschutzerklärung
  • Search Icon

Unkelbach Art

My neurodivergent life is a piece of art

Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?

Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?

4. Mai 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ganz am Anfang beginnen: Was ist eine Krankheit? Wann ist man überhaupt krank? Und wann ist man gesund?

Nun, eines vorweg: Die Frage ist viel schwieriger zu beantworten, als man denkt, denn beide Begriffe sind letzten Endes nur sprachliche Konstrukte und so es gibt viele Definitionen für Gesundheit und Krankheit. Die einfachste lautet: Wer nicht gesund ist, ist krank.

Aber wie ist man überhaupt gesund?

Die WHO sagt dazu:

“Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.”

(Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.)

Satzung der Weltgesundheitsorganisation

Das geht weit über das, was wir in unserem Alltag als „Gesundheit“ verstehen, hinaus. Laut der Definition der WHO sind wir nur gesund, wenn unser Wohlbefinden nicht gestört ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist krank aber doch eher etwas, das sich „schlimmer“ anfühlt und wir haben daher für all das, was zwischen diesem „schlimmer“ und „gesund“ liegt das Wort „Befindlichkeitsstörung“ erfunden. Habe ich eine Befindlichkeitsstörung ist mein (Wohl-)befinden durch irgendetwas gestört ist, es „geht mir nicht so gut“.

Im Alltag werden Befindlichkeitstörungen leider meistens abgetan. Es ist ja nichts „Richtiges“, keine echte Krankheit. Aber was ist überhaupt eine Krankheit? In der Wikipedia findet man dazu folgendes:

Krankheit [..] ist ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit, der auf Funktionsstörungen von einem oder mehreren Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus eines Lebewesens beruht.

Wikipedia

Das leuchtet durchaus ein: Habe ich zum Beispiel eine Erkältung ist meine Leistungsfähigkeit ganz klar vermindert. Habe ich mir den Arm gebrochen auch. Jetzt gibt es aber auch Krankheiten, die meine Leistungsfähigkeit vielleicht gar nicht einschränken, oder chronische Krankheiten, die in Schüben auftreten und wo meine Leistungsfähigkeit zwischen den Schüben nicht vermindert ist. Krankheiten sind sie trotzdem.

Und die Befindlichkeitstörung? Ich fürchte, an der Stelle müssen wir sagen: „Es kommt darauf an.“

Die Sache ist die: Die Grenzen zwischen Krankheit, Befindlichkeitsstörung und Gesundheit sind letzten Endes fließend und von unserer sozialen und kulturellen Prägung abhängig. Personen mit den gleichen Symptomen können sich trotzdem unterschiedlich einstufen – die eine empfindet sich vielleicht noch als gesund, während die zweite sich schon deutlich krank fühlt und eine dritte findet, sie wäre „nicht so richtig krank, aber auch nicht gesund“. Wenn diese Personen aber zum Arzt gehen wird sie*er möglicherweise in allen drei Fällen sagen: „Sie sind krank, sie haben…“

An dieser Stelle kommen wir also zu dem, was ganz offensichtlich Krankheiten sind, nämlich das, was Ärztinnen und Ärzte diagnostizieren.

Stellen Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen eine Diagnose, erhält diese Diagnose einen Code gemäß der ICD-10. ICD steht dabei für International Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und wird von der WHO herausgegeben. Die 10 steht für die Versionsnummer und ist in der deutschen Fassung (ICD-10-GM) die aktuell in Deutschland gültige.

In der ICD-10 werden alle Krankheiten mit einem Code verschlüsselt – du kennst das vielleicht von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, da steht häufig ein Buchstabe gefolgt von ein paar Zahlen. Schnupfen hat zum Beispiel den Code J00, Frühkindlicher Autismus ist F84.0, Asperger-Autismus (ein heute von vielen stark abgelehnter Begriff!) hat den Code F84.5. Wie du siehst, unterscheidet die ICD-10 noch verschiedene Typen von Autismus. Das wird in der Folgeversion ICD-11 zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Die Version 11 ist inzwischen von der WHO verabschiedet, wird in Deutschland aber voraussichtlich frühestens in 5 Jahren eingeführt.

Den Diagnosen durch die ICD einen Code zuzuordnen, dient vor allem der statistischen Erfassung von Krankheiten und deren Abrechenbarkeit gegenüber Krankenkassen. In der ICD finden sich aber teilweise auch Diagnosekriterien für Krankheiten.

Für psychische Erkrankungen wurde in den USA zusätzlich das DSM entwickelt, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und statistisches Handbuch für psychische Störungen). Der große Unterschied zur ICD ist, dass das DSM sich deutlich stärker auf die Diagnose der (psychischen) Krankheiten konzentriert. Es gilt heute international als Standardwerk der Psychiatrie. Aktuell liegt es in der 5. Fassung (DSM-5 oder DSM-V) aus dem Jahr 2013 vor, die auch auf Deutsch übersetzt wurde.

Einer der Grundsätze des DSM ist es, für jede psychische Erkrankung Symptome aufzulisten und genaue Kriterien festzulegen, welche davon unbedingt für eine Diagnose erforderlich sind. Die Symptome sind hauptsächlich von außen sichtbare, klinische Merkmale und werden möglichst neutral beschrieben.

Das ist gleichzeitig einer der Kritikpunkte am DSM. Eine rein symptombasierte Diagnostik ist immer subjektiv und unterliegt der Einschränkung dessen, was überhaupt als Symptom von außen erkannt werden kann. Sie lässt andere wichtige Hinweise, wie zum Beispiel das Erbgut oder bildgebende Verfahren (wie MRT oder CT), außen vor. Auch das, was von neurodivergenten Menschen als „andere“ Denkweise betrachtet wird, findet in den Diagnosekriterien des DSM keine Berücksichtigung. Es ist nur ein Blick von außen.

Das DSM und die ICD sind ausschließlich für die Klassifizierung (und Diagnose) von Störungen und Krankheiten vorgesehen. Für psychische Störungen gilt dabei laut DSM: „Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten.“

Ich habe also (typischerweise) nur dann eine psychische Störung, wenn ich bedeutsam leide, und damit kommen wir zurück zur Überschrift: Ohne Leid kein Autismus?

Es steckt schon im Namen: Autismus, eigentlich ja Autismus-Spektrum-Störung, ist eine (psychische) Störung und als solche setzt sie also voraus, dass ich leide. Und tatsächlich, die zwingend notwendigen Diagnosekriterien für Autismus laut DSM-5 besagen:

„[Die] Symptome verursachen klinisch signifikante Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen der gegenwärtigen Funktionsweise.“

DSM-5

Im Deutschen wird das häufig als „Leidensdruck“ interpretiert und ich kenne Fälle, in denen bei der Diagnostik tatsächlich abgefragt wurde: „Leiden Sie?“ In anderen Fällen interpretiert die diagnostizierende Person selbst, ob der Patient oder die Patientin zu leiden scheint oder ob die Beeinträchtigungen ausreichend signifikant sind. Ist das Leiden nicht ersichtlich oder werden die Beeinträchtigungen nicht als ausreichend signifikant bewertet (wofür es übrigens keine Skala gibt), erfolgt keine Autismus-Diagnose. Das betrifft auch AD(H)S, denn dort gilt das gleiche Kriterium.

Jetzt kann man natürlich sagen: „Na, wenn du nicht stark beeinträchtigt bist, hast du auch keine Störung. Freu dich doch!“ Vielleicht wirke ich aber nur nicht so stark beeinträchtigt, weil ich es geschafft habe, mein Leben für mich passend einzurichten und mein – letzten Endes ja auch immer subjektives – Leid ist sehr gering.

Nehmen wir eine klassische Frage aus Autismus-Screening-Tests: „Machen Ihnen gesellige Anlässe Spaß?“ Ich würde die Frage mit einem klaren „Nein!“ beantworten. Bei einem geselligen Anlass fühle ich mich äußerst unwohl und möchte eigentlich die ganze Zeit nur weg. Dort leide ich tatsächlich. Das muss ich aber gar nicht, denn ich habe auch die Möglichkeit, nicht hinzugehen! Im Normalfall nehme ich an geselligen Anlässen nicht teil und empfinde somit auch keinen Leidensdruck dabei. Ist es eine Beeinträchtigung für mich, dort nicht hinzugehen? Nein. Die Beeinträchtigung entsteht nur dann, wenn ich hingehen muss und das ist so selten, dass ich dabei nicht von einer „signifikanten Beeinträchtigung“ reden würde. Meine „Strategie“ reduziert also die Wahrscheinlichkeit, dass ich als leidend gesehen werde und somit – laut DSM-5 – auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich Autistin bin!

An der Stelle dreht sich jetzt alles ein wenig im Kreis: Ich brauche solche Strategien, weil ich autistisch bin, entwickle ich aber viele davon, um mit meinem Autismus klarzukommen, habe ich nicht mehr ausreichend Beeinträchtigungen um überhaupt als Autistin zu gelten. Man könnte also sagen: Umso besser ich mit meinem Autismus zurechtkomme, umso weniger bin ich mit Autismus diagnostizierbar. /hj Tonindikator: half-joking

Das ist der für mich größte Kritikpunkt an den aktuellen Diagnosekriterien von Autismus. Autismus ist es offiziell nur dann, wenn ich signifikante Probleme habe, die auch noch jemand anderes so bewerten muss! (Gilt auch für ADHS.)

Das Hauptproblem liegt dabei darin, dass nur psychische Störungen diagnostiziert werden. Eine neurologische Abweichung ist aber nicht automatisch eine Störung, es ist erstmal einfach nur eine Abweichung. Zur diagnostizierbaren Störung – mit dem notwendigen Kriterium der Beeinträchtigung – wird es erst dadurch, dass ich tatsächlich beeinträchtigt werde.

Was bin ich jetzt aber, wenn ich diese Beeinträchtigung nicht so empfinde, mich nicht leidend fühle oder es von außen nicht so wahrgenommen wird? Ehrlich gesagt: Ich fürchte, es gibt keinen Begriff dafür.

Autismus-Spektrum-Störung (Autismus) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind Begriffe für Störungen und alles was keine Störung ist, hat bisher einfach keine Bezeichnung. Ich würde dennoch erstmal sagen: Es ist Autismus. Es ist ADHS. Für die ganz Korrekten vielleicht: Nicht pathologische Autismus-Spektrum-Störung bzw. nicht pathologische ADHS. Oder ich würde allgemein von Neurodivergenz sprechen, was aber leider die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Neurodivergenzen unsichtbar macht, die ja noch mehr umfassen als nur ADHS und Autismus.

Letzten Endes bräuchten wir aber neue Bezeichnungen für die verschiedenen neurodivergenten Ausprägungen. Bezeichnungen, die nicht von Störungen ausgehen und deren Diagnose nicht ausschließlich auf dem basiert, was andere Menschen von uns wahrnehmen. Wir bräuchten Diagnosekriterien, die unsere Innensicht berücksichtigen und uns nicht länger als Krankheit oder Störung betrachten und im allerbesten Fall würden unsere Bedürfnisse, unsere Eigenarten und unsere Andersartigkeit auch ohne Diagnose berücksichtigt werden, weil wir als Gesellschaft lernen würden, auf alle Rücksicht zu nehmen.

Utopisch? Ja. Aber anfangen können wir trotzdem schon mal damit.

Produktivität bringt dir nichts oder: Warum ich Produktivitätstipps hasse

Produktivität bringt dir nichts oder: Warum ich Produktivitätstipps hasse

25. April 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Ich hasse Produktivitäts- und Selbstoptimierungstipps. Also eigentlich hasse ich gar nicht die Tipps an sich – manche sind tatsächlich hilfreich -, sondern vielmehr das, was sie einem vermitteln: Dieses permanente Gefühl, nicht gut genug zu sein, verbunden mit der Botschaft, sich einfach mehr anstrengen zu müssen. Darin schwingt immer das stille Versprechen mit: „Wenn du DAS tust, dann wird dein Leben besser! Noch diese eine Maßnahme und du wirst erfolgreich, berühmt und schön und schwimmst in Geld!“ Wirst du nicht und irgendwo weißt du das auch, aber dennoch regt sich die Hoffnung in dir: „Es könnte doch dieses Mal so sein?“

Kein Wunder, dass ganze Ratgeber darüber geschrieben werden, dass „erfolgreiche“ Menschen regelmäßig nach ihren Geheimtipps gefragt werden – oder sie ganz ungefragt geben – oder dass man mit all den Infografiken zum Thema Selbstoptimierung und Produktivitätssteigerung vermutlich ganze Städte tapezieren könnte.

Die meisten dieser Tipps sind recht klein, schlicht und allgemeingültig und ich dachte daher immer, es wäre meine Schuld, dass ich immer noch nicht erfolgreich war und maximal meine große Zehe in Geld baden konnte. Sicher lag es daran, dass ich sie nicht konsequent genug befolgte, nicht hart genug an mir arbeitete und mein Glas Wasser morgens immer vergaß. /s (Tonindikator: Sarkasmus)

Entsprechend erfreut war ich also, als ich das erste Mal auf Tipps speziell für Menschen mit ADHS stieß: „Juchu! Endlich gibt es auch Menschen, die meine Probleme berücksichtigen!“ Ich erfuhr, dass ich mit Timern arbeiten sollte, meine Termine in einen Kalender eintragen sollte, To-Do-Listen schreiben, Aufgaben zerlegen und strenger mit mir sein sollte. „Hm“, dachte ich mir, „hatten wir das nicht alles schon?“

Zusätzlich tauchten jetzt aber auch Tipps auf, wie ich Putzen und Aufräumen organisieren sollte, wie ich auch meine privaten Termine in strikt geführte Kalender eintragen sollte, mein Leben besser durchtakten sollte und was ich tun konnte, um weniger häufig Dinge zu verlegen und zuverlässiger in meiner Kommunikation mit Freund*innen zu sein. Die Produktivitätsanforderungen hatten eindeutig auch das Privatleben erreicht.

Erst wollte ich unbedingt all diese Tipps ausprobieren, wollte eine bessere Freundin und Partnerin, ein besserer Mensch sein… und dann wurde ich wütend.

All diese Selbstoptimierungstipps und Produktivitätsratgeber gaukeln uns vor, dass es unser oberstes Ziel ist, besser zu werden. Konstant. Noch dazu nicht nur in den Dingen, die uns vielleicht tatsächlich an uns stören, sondern einfach in allem, schlichtweg weil es möglich ist und weil sich jemand einen Tipp dafür überlegt hat.

Bei mir – wie bei vielen Menschen mit ADHS – stößt das auf offene Ohren, denn wir haben oft von klein auf gelernt, dass wir ja so viel Potential hätten, es nur leider nicht ausschöpfen würden und uns eben mehr anstrengen müssten. Wir könnten ja so viel erreichen, wenn wir nur mehr an uns arbeiten würden. Wir könnten so viel bessere Kinder, Freund*innen, Partner*innen, Menschen sein, wenn wir uns einfach nur mehr Mühe geben würden.

Ich glaube mittlerweile, dass ich mich mein ganzes Leben mit Produktivitätstipps beschäftigt habe, um „besser“ zu werden und dieses ominöse Potential zu erfüllen, das andere in mir zu sehen meinten. Irgendwann wurde dieser Glaube, dann zu meinem eigenen und ich sagte mir beständig, dass ich mich mehr und immer mehr anstrengen, mein „Potential“ endlich mal ausschöpfen müsste und machte mir die größten Vorwürfe, dass ich es nie schaffte. Also habe ich den nächsten Produktivitätstipp probiert und den nächsten und den nächsten. Gut genug fühlte ich mich dadurch immer noch nicht.

Genau das ist das Perfide an Produktivitätstipps und Selbstoptimierungsratgebern: Für sie sind wir nie gut genug. Wir können immer noch etwas verbessern und danach noch etwas und selbst wenn wir denken „Jetzt reicht es aber mal“, zeigt uns gleich darauf jemand, dass es doch nicht reicht, weil wir noch nicht das neueste Selbstoptimierungs-Allheilmittel ausprobiert haben und das wäre schließlich der ultimative Tipp!

Unser Drang zu mehr Produktivität und Selbstoptimierung führt am Ende vor allem zu zwei Dingen: Jede Menge Stress und ein reduziertes Selbstwertgefühl.

Ich habe irgendwann aufgehört, produktiver und erfolgreicher sein zu wollen. Auch die Jagd nach meinem angeblichen Potential habe ich aufgegeben. Ich versuche heute nur noch, der Mensch zu sein, mit dem ich mich wohlfühle.

Ich lese immer noch Produktivitätstipps, vor allem jene für Menschen mit ADHS, denn manche davon greifen tatsächlich das auf, was auch ich probiere: MIT dem eigenen Gehirn, der eigenen Denkweise, den eigenen Schwächen zu arbeiten, anstatt dagegen anzukämpfen.

Es geht nicht darum, sich immer noch mehr anzustrengen und zu bemühen und einem unerreichbaren Ideal hinterherzulaufen, sondern darum, herauszufinden, was man tatsächlich braucht und möchte: Im Job, im Privatleben, im Zuhause, in der Partnerschaft… – und was realistisch erreichbar ist. Und dann geht es darum, für sich selbst Wege zu finden, das alles möglichst leicht und mit wenig Aufwand langfristig umzusetzen, denn – große Überraschung: Umso WENIGER man sich in seinem Alltag anstrengen und bemühen muss, umso mehr Energie hat man für das, was man liebt, wofür man brennt und wofür man gerne diese Energie einsetzen möchte – und das ist bei mir nun mal einfach nicht „erfolgreich sein“.

Produktivität an sich bringt dir nichts. Sie macht dich nicht zu einem „besseren“ Menschen und sie wird dich auch nicht reich und berühmt machen und an dir selbst zu arbeiten ist zwar toll, aber du musst dich nicht „optimieren“ – es gibt keine Blaupause dafür wie du sein sollst.

Gute Produktivitätstipps machen deinen Alltag besser und einfacher und das bringt dir mehr als jede noch so große Produktivität.

Neurodiversität
Neurodiversität

Neurodiversität

13. April 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Biodiversität, das sagt uns etwas: „Irgendwas mit Artenvielfalt oder so, nicht wahr?“ Meistens verbinden wir es auch mit etwas Positivem und das ganz zu Recht, denn Biodiversität, die Vielfalt an Lebewesen und Ökosystemen, führt überhaupt erst dazu, dass wir so leben können, wie wir es tun: Trinkwasser, Sauerstoff, Nahrung, … – all das funktioniert nur durch Biodiversität. Die Vielfalt stärkt unsere Ökosysteme und macht sie anpassungs- und widerstandsfähig. Ohne sie wäre der Klimawandel schon längst gelaufen – und das nicht zu unserem Vorteil.

Und Neurodiversität? Um welche Vielfalt geht es da und ist das auch was Gutes?

Bei Neurodiversität geht es – grob formuliert – um die Vielfalt der menschlichen Gehirne, um unterschiedliche Informationsverarbeitung und -wahrnehmung.

Die große Mehrheit der Menschen denkt sehr ähnlich – nicht im Sinne von „Sie haben die gleichen Gedanken“, sondern ihre Wahrnehmung und ihre Reiz- und Informationsverarbeitung ist sehr ähnlich. Diese Menschen gelten als „neurotypisch“, sprich ihr Gehirn arbeitet in „typischen“ Parametern. Klar, sonst wären sie ja nicht die Mehrheit.

Jetzt gibt es aber darüberhinaus auch Menschen, deren Gehirn anders funktioniert: Es ist andersartig, abweichend oder eben neurodivergent.

Unter Neurodivergenz fallen viele psychische „Auffälligkeiten“, wie z.B.: Autismus, ADS/ADHS, Tourette, Schizophrenie, Bipolare Störung, Zwangsstörung; aber auch Lese-Rechtschreibstörung, Dyskalkulie („Rechenschwäche“) oder Sprechstörungen.

Schon daran sieht man: Menschen mit Neurodivergenz werden als gestört betrachtet. Sie funktionieren nicht so, wie es von der (neurotypischen) Mehrheit erwartet wird und sie gelten daher als problematisch und fehlerhaft. Von außen betrachtet ist das durchaus logisch: Das, was als Norm angesehen wird, wird von neurodivergenten Menschen „nicht erfüllt“. Ihr Gehirn funktioniert anders und erfüllt seine Aufgabe in anderer Form als ein Gehirn, das dem der Mehrheit entspricht.

Ist das schlecht? Nun, das kommt auf die Sichtweise an.

Menschliches Zusammenleben basiert stark auf einem gemeinschaftlichen Konsens: Man hat ähnliche Werte, ähnliches Grundwissen, ähnliche Reaktionen, ähnliche Grenzen. Weichen diese Grundannahmen voneinander ab, wird es kompliziert, denn ich „funktioniere“ nicht so, wie mein Gegenüber es erwartet und für sein eigenes Handeln voraussetzt und berücksichtigt.

Wenn ich zum Beispiel mit jemandem ausmache, dass wir uns um 17:30 Uhr treffen, erwartet jede*r von uns, dass wir uns auch tatsächlich um 17:30 Uhr treffen. Was aber, wenn ich Dyskalkulie habe und Zahlen in meinen Kopf einfach tun was sie wollen? Vielleicht übersetze ich es für mich in „5 Uhr 30“ und schon im nächsten Moment verdreht sich die Uhrzeit für mich in 15:30 Uhr. Am Tag des Treffens habe ich keine Ahnung mehr, was denn jetzt die richtige Uhrzeit war. Vielleicht werde ich 2 Stunden warten. Vielleicht wartet aber auch die andere Person auf mich. Die Tatsache, dass mein Gehirn anders funktioniert hat unabsehbare Folgen und ja, das ist störend, nervig, hinderlich.

Was wäre aber, wenn wir davon ausgehen würden, dass Uhrzeiten vielleicht nicht für jeden Menschen so eindeutig wären und uns entsprechende Hilfen überlegen würden? Vielleicht rufen wir am Tag vorher noch einmal an, um die andere Person an die richtige Uhrzeit zu erinnern. Oder wir schicken eine Nachricht: „Hey, bleibt es bei dem Treffen in 2 Stunden?“ Oder wir wissen vielleicht, dass der oder die andere grundsätzlich mit schriftlicher Information besser zurecht kommt und schreiben Termine daher auf. Es ist immer noch eine Störung im „üblichen“ Ablauf, aber an solche kleinen Hilfestellungen kann man sich nicht nur schnell und unproblematisch gewöhnen – sie helfen letzten Ende allen Menschen, egal, ob sie Dyskalkulie haben oder nicht!

Das Spannende ist nämlich: Die meisten neurotypischen Menschen kennen von sich selbst Situationen, in denen sie ähnliche Probleme wie neurodivergente Menschen haben. Vielleicht vergessen sie einen telefonisch ausgemachten Termin, weil sie kurz unaufmerksam waren. Vielleicht hat gerade jemand an der Tür geläutet oder das Kind hatte eine dringende Frage und schon schlüpfte der Termin aus dem Gedächtnis. Vielleicht waren sie auch müde, in einer lauten Umgebung, der Empfang war kurz weg oder sie hatten nichts zum Schreiben zur Hand und bis es soweit ist, haben sie die Uhrzeit schlichtweg vergessen.

Genau daher kommt der Satz: „Das ist doch kein Zeichen für Autismus/ADHS/etc. – das habe ich schliesslich auch!“ oder „Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?“

Neurodivergente Menschen hassen das, denn es fühlt sich meistens so an, als würden dadurch unsere eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten relativiert und heruntergespielt: „So schlimm ist das doch nicht…“

Aus der Sicht neurotypischer Menschen ist der Gedanke durchaus verständlich: Sie kennen das ja tatsächlich von sich – oder zumindest glauben sie das. Was ihnen nämlich nicht bewusst ist: Bei einem neurodivergenten Menschen kommen solche Situationen in einer Häufigkeit und Stärke vor, die für den neurotypischen Menschen – mit eben ganz anderer eigener Erfahrung – schlichtweg nicht vorstellbar ist. Das was bei dem einen „mal“ vorkommt, ist bei dem anderen ein Dauerzustand – und auch noch viel intensiver. Der Grundton mag identisch sein, aber die Ausprägung und ihr Einfluss auf das gesamte Leben und Sein ist ein ganz anderer.

Ist Neurodivergenz jetzt also schlecht? Für mich eindeutig nicht.

Ich kenne natürlich nur meine, die neurodivergente, Art zu denken und ich mag sie sehr. Habe ich dadurch Probleme? Ja, definitiv. Das liegt aber nicht daran, dass neurodivergentes Denken schlecht oder weniger effizient wäre; es passt einfach nur nicht in eine Welt, in der die Mehrheit anders denkt und die für diese Mehrheitsdenkweise ausgelegt ist.

Die Menschheit profitiert jedoch von andersartigem Denken. „Out of the box“-Denken und kreative Lösungsansätze sind gefragt und entstehen überhaupt erst dadurch, dass irgendjemanden eben anders, abweichend, divergent denkt.

Neurodivergentes Denken und Leben ist eine Bereicherung jeder Unterhaltung, jedes Zusammenseins und Neurodiversität – also neurotypisches UND neurodivergentes Denken – führen zu Vielfalt in unserer Gesellschaft. Eine Vielfalt, die wir brauchen und wertschätzen sollten.

Neurodiversität ist genau so gut und wichtig, wie Biodiversität und es ist höchste Zeit, Neurodivergenzen, wie Autismus, AD(H)S, Bipolarität und all die anderen nicht länger als minderwertig anzusehen, sondern als Stärke.

Diversität stärkt eine Gesellschaft. Abweichung stärkt eine Gesellschaft. Abweichung ist wertvoll.

Neueste Beiträge

  • Weil wir wertvoll sind
  • ADHS und Herausforderung als Motivationsfaktor
  • Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?
  • Produktivität bringt dir nichts oder: Warum ich Produktivitätstipps hasse
  • Unterstützung beim Studium mit Neurodivergenz

Kategorien

  • Neurodivergenz
    • ADHS
    • Allgemein
    • Autismus
    • Tipps

Archiv

  • Mai 2022
  • April 2022
© 2022   All Rights Reserved.