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My neurodivergent life is a piece of art

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

5. Februar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Meistens erzähle ich davon, was der Ehemann alles im Alltag für mich übernimmt, wie sehr er mich unterstützt und meine Behinderung – sowohl durch meine chronischen Schmerzen als auch durch meine Neurodivergenz – mitträgt. Heute zeige ich euch aber eine andere Seite, denn behindert zu sein bedeutet bei Weitem nicht, dass der nicht-behinderte Part unheimlich heldenhaft wäre und man als behinderter Mensch nichts zur Beziehung beiträgt.

Fangen wir damit an, dass ich den Ehemann heute angeschrien habe, weil er etwas verschüttet hat.

Nein, das ist nicht mein „toller“ Beitrag zu unserer Partnerschaft, aber es passiert ab und zu, wenn ich sehr viel Stress habe, überreizt, überlastet oder übermüdet bin und nicht so aufmerksam war, wie sonst. Der Ehemann ist nämlich der Typ „zerstreuter Professor“ und ganz oft sehr verpeilt, unaufmerksam und ungeschickt und ich gleiche das im Alltag aus und eliminiere mögliche Probleme, bevor sie passieren, oder bin für ihn „mit aufmerksam“.

Manchmal geht das schief, eben weil ich zu gestresst bin, überreizt oder übermüdet (oder in einer Zyklusphase, wo die Hormone „anstrengend“ sind) und dann explodiere ich innerlich und ein Teil davon landet halt auch äußerlich. Merke ich das rechtzeitig, bitte ich normalerweise den Ehemann darum, an diesem Tag besonders… besonnen zu agieren. Das heißt jetzt nicht, dass er den ganzen Tag Angst haben muss, dass ich wegen Kleinigkeiten explodieren könnte oder er alle eventuellen Fehlerquellen vorweg denken und unbedingt vermeiden muss. Es bedeutet, dass er bewusster handeln muss für diesen Tag.

Auf jemand anderen zu achten ist nämlich ganz schön anstrengend und frisst viel Energie und Nerven und macht es für mich schwierig, abzuschalten, wenn er anwesend ist. All das kann ich bei Stress, Überreizung, Übermüdung etc. einfach nicht leisten und dann muss er das selbst tun.

Ich rede normalerweise nicht darüber. Zu erwähnen, dass man aufpasst, dass der Ehemann nichts unabsichtlich verschüttet oder zerbricht, klingt entweder albern oder übertrieben und ich bekomme dann zu hören, dass ICH da ja wohl wichtiger bin und auf mich selbst achten soll und außerdem: „Er ist doch erwachsen und kann ja wohl selbst aufpassen.“

Aber wisst ihr, ich halte nichts von diesem Konzept, dass jeder Mensch möglichst selbst- und eigenständig zu sein hat und Dinge können muss, weil er eben erwachsen ist. So funktioniert Partnerschaft nicht für uns. Für uns bedeutet Partnerschaft, dass jeder von uns dafür sorgt, dass es dem anderen möglichst gut geht – soweit das halt in unseren Möglichkeiten liegt.

So holt der Ehemann für mich Rezepte und Überweisungen von Ärzt*innen, geht zur Apotheke, kommt beim Einkaufen mit, erledigt die Wäsche, weil man dabei Nachbar*innen begegnen könnte und so weiter; und ich achte auf die Dinge, die für ihn schwierig sind und kümmere mich darum.

Ja, natürlich erwarten wir von Menschen ab einem bestimmten Alter, dass sie all das selbst machen – aufpassen genauso wie einkaufen – und sehen nicht ein, warum „man“ das nicht einfach selbst macht, aber genau das ist es ja: Es ist nicht für jede Person gleich „einfach‘.

Für den Ehemann kostet die notwendige Aufmerksamkeit auf den Alltag Unmengen an Energie – für mich deutlich weniger. Warum sollte ich ihn dazu zwingen seine Energie für etwas zu verpulvern, dass ich ihm zu geringeren „Kosten“ abnehmen kann? Warum sollte er mich dazu zwingen, selbst Rezepte bei Ärzt*innen abzuholen, wenn das für mich super anstrengend ist, während es für ihn eine kleine Aufgabe ist?

Weil jeder von uns erwachsen ist und das können sollte?
Weil wir das „ja mal lernen müssen“?
Weil wir dann nicht zurechtkommen werden, wenn sich unsere Wege trennen sollten?

Sorry, aber das ist halt einfach Quatsch!

Wenn es notwendig ist, schaffen Menschen ganz erstaunliche Dinge. Dinge, die dann Unmengen an Energie und Nerven kosten, aber wir schaffen sie. Falls wir uns irgendwann tatsächlich trennen sollten, wird jeder von uns schon klarkommen und neue Lösungen für die „Problemstellen“ finden.

Solange wir aber zusammen sind, ist es nur logisch, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten die schwachen Stellen der Partnerperson auszugleichen. So sparen wir beide Energie, Kraft, Nerven, Zeit, was weiß ich.

Es hat einfach keinen Sinn, nur zum Lernen oder wegen „Arbeitsteilung“ oder wegen „das muss man aber können“, ständig Dinge zu tun, die super schwierig für einen sind, während jemand danebensteht und es viel einfacher übernehmen könnte. Das heißt ja nicht, dass einer von uns sagt: „Hab‘ keinen Bock auf diese Scheiß-Tätigkeit, die kann ja mein*e Partner*in machen.“

Es ist halt Abwägungssache, Gucken, Ausloten, Diskutieren und so weiter. Es ist der Wunsch, das Leben der Partnerperson so gut und einfach wie möglich zu machen.

Wie möglich! Das bedeutet nicht „dem anderen alles in den Schoß legen“!

„So einfach wie möglich“ bedeutet, dass jeder schaut, wie sich die beste mögliche Variante für alle Beteiligten finden lässt, weil eben alle gleich wertvoll und gleich wichtig sind, ungeachtet ihres Könnens, ihrer Leistungsfähigkeit oder ihres finanziellen Beitrags.

Partnerschaft bedeutet für uns nicht, dass man alles (vermeintlich gerecht) in so viele Teile teilt, wie es Partner gibt und dann jede*r gleich viel leistet. Partnerschaft bedeutet für uns, dass jede*r im Rahmen der eigenen Möglichkeiten daran mitwirkt, dass es allen Personen in der Partnerschaft so gut geht, wie das eben möglich ist, dass alle so viel Zeit und Möglichkeiten haben, ihre Interessen auszuleben, dass alle in den Dingen unterstützt werden, die schwierig für sie sind – egal, wie lächerlich diese Dinge wirken mögen.

Das heißt dann eben auch, dass ich auf den Ehemann „aufpasse“, auch wenn es dazu führt dass ich eher unentspannt bin, wenn er anwesend und nicht längere Zeit „sicher“ beschäftigt ist. Und es heißt, dass ich mich bemühe, ihm Bescheid zu geben, wenn ich nicht ausreichend Energie und/oder Nerven habe, um das zu leisten und er dann eben mehr seiner Energie/Nerven investiert, um selbst auf sich aufzupassen, auch wenn das bedeutet, dass er dann an dem Tag nicht mehr alles so tun kann, wie er das gerne würde.

Es ist ein gegenseitiges auf die jeweiligen Bedürfnisse des anderen achten und dafür sorgen, dass ALLE so viel gute Zeit wie möglich haben können – egal wie die am Ende aussieht.

Neurodivergenz und Schule – das kann auch gutgehen

Neurodivergenz und Schule – das kann auch gutgehen

12. Januar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wenn neurodivergente Menschen über ihre eigene oder die Schulzeit ihrer Kinder erzählen ist das in den meisten Fällen die Erzählung über eine schlimme Zeit in ihrem Leben. Ich komme mir dann immer ein bisschen seltsam und merkwürdig „fehl am Platz“ vor, denn meine eigene Schulzeit war schön und ich war viel, viel lieber in der Schule als zuhause. Okay, das liegt natürlich zum Teil daran, dass es zuhause sehr schlimm war, aber halt auch daran, dass Schule für mich wirklich ein guter Ort war.

Ich will damit absolut nicht sagen, dass andere Erfahrungen falsch sind! So gehäuft, wie sie auftreten, ist ganz klar: Das Schulsystem denkt neurodivergente Menschen nicht mit. Ich möchte euch nur ein klitzekleines bisschen Hoffnung geben, dass Schule nicht schlimm sein muss, sondern auch gut sein kann.

Ich bin in den 1980er und 90er Jahren in Österreich zur Schule gegangen. Ich kann keine wirklichen Vergleiche zum deutschen Schulsystem – weder damals noch heute – ziehen und weder sagen, wie die rechtlichen, noch die tatsächlichen Voraussetzungen sind. Ich kann euch nur erzählen, was Schule für mich gut gemacht hat, und vielleicht bietet das ja Ansatzpunkte – für euch selbst, eure Kinder oder Pädagog*innen.

Die Grundschulzeit

Ich war immer ein „seltsames“ Kind. Schon im Kindergarten war ich anders und merkwürdig, aber die Erklärung dafür fand sich dann – scheinbar – durch die Scheidung meiner Eltern, wie ich fünf Jahre alt war: Ein zerrüttetes Elternhaus. Scheidungskind. Die Arme.

Dazu war ich dick und es erschien jedem ganz klar, dass mich andere Kinder deswegen aufzogen und verspotteten, oder dass ich – gerade im Turnunterricht – Dinge nicht konnte. Gleichzeitig konnte ich aber bereits zu Schulanfang lesen, merkte mir Lieder und Geschichten unheimlich schnell und war ungemein hilfsbereit – und dass, obwohl mir Kinder eher Angst machten und ich viel lieber in der Nähe Erwachsener blieb.

Ab der 2. Klasse hatte ich eine Lehrerin, die sich sehr um mich bemühte. Sie nahm sich im Turnunterricht Zeit, schirmte mich gefühlt von den anderen Kindern ab und ließ mich das, worin ich schlecht war, wieder und wieder probieren – sofern ich es wollte, denn es fühlte sich für mich nie wie Zwang an, sondern tatsächlich wie Unterstützung. In Mathe erkannte sie, wie leicht mir der Umgang mit Zahlen fiel und holte mich in die Förderstunden, die eigentlich für Kinder mit Schwierigkeiten in Mathe gedacht waren, für mich aber zusätzliche Aufgaben und Beschäftigung bedeuteten. Sie kümmerte sich viel darum, dass ich auch außerhalb der üblichen Schulzeiten Zeit an der Schule verbringen konnte und gab mir damit einen sicheren Platz, den ich zuhause nur sehr bedingt hatte.

Mit den anderen Kindern war alles deutlich schwieriger. Ich passte nicht dazu und das bekam ich Tag für Tag zu spüren. Es gab Tage, da versteckte ich mich unter meinem Tisch, weil alles zu viel für mich war und ich einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte – irgendwann warf ich sogar einen Atlas nach einem meiner Mitschüler, weil er einfach nicht aufhörte, mich zu verhöhnen. Besser wurde das für mich, als ein Junge in unsere Klasse kam, mit dem auch niemand etwas zu tun haben wollte, denn er war auf andere Art anders: Er kam nicht aus Österreich. Fortan war ich zumindest nicht mehr ganz alleine, sondern hatte so etwas wie einen Freund an meiner Seite.

Am Gymnasium

Meine Schulnoten waren in der gesamten Grundschulzeit ausgezeichnet und es war immer klar: Ich sollte aufs Gymnasium. Ich war dann auf drei verschiedenen Gymnasien, weil wir mehrfach umzogen und es ging mir dort unterschiedlich gut.

Mitschüler*innen waren immer ein Problem und ich hatte die meiste Zeit keine Freund*innen.

Meine Noten waren dafür großteils gut – ohne, dass ich je wirklich lernen musste -, ließen aber klar erkennen, wo ich mit meinen Lehrer*innen nicht gut klarkam, denn nichts beeinflusste mein Interesse, meine Mitarbeit und meine Leistung so sehr, wie die Lehrkraft, die das Fach unterrichtete. So schwankte ich durchaus 2 bis 3 Noten auf oder ab, je nachdem, wie gut die jeweilige Lehrkraft und ich miteinander klarkamen – nicht, weil sie mich unfair behandelt hätten, sondern weil mein Interesse schlagartig nachließ, wenn ich die Lehrkraft unangenehm fand und ich mich nicht mehr auf den Unterricht und die Themen konzentrieren konnte.

Die 5 besten Schuljahre überhaupt

Nach der 4. Klasse Gymnasium wechselte ich auf eine berufsbildende höhere Schule. In Österreich bedeutet das eine fünfjährige Schulzeit mit Elementen aus dem Gymnasium und berufsqualifizierenden Fächern, die mit einer Hochschulzugangsberechtigung (Matura/Abitur) und einem berufsqualifizierenden Abschluss einhergeht. Mein ursprünglicher Wunsch klappte nicht, dann zogen wir mal wieder um und am Ende landete ich – zu meinem großen Glück – an der Handelsakademie in einem kleinen Ort.

Handelsakademie (HAK) bedeutet, dass man nach 5 Jahren Schule neben der Hochschulzugangsberechtigung einen Abschluss als staatlich geprüfte*r Betriebswirt*in bekommt. Dafür gibt es dann Fächer wie kaufmännisches Rechnen, Rechnungswesen, Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, kaufmännische Software und 2 lebende Fremdsprachen – neben den „klassischen“ Fächern wie Deutsch, Biologie, Geografie usw.

Die Schule war klein, die fünfjährige Variante war erst im Schuljahr davor überhaupt eingeführt worden und wir waren alle zusammen gerade mal 200 Schüler*innen und vielleicht 20 Lehrer*innen. Ich habe es von Anfang an geliebt.

Ich weiß nicht, wie es kam, aber alle Lehrkräfte (bis auf eine bzw. später zwei), die ich dort hatte, waren für mich persönlich genau richtig.

Da war die Englischlehrerin, der Grammatik und Vokabeln zwar wirklich wichtig waren, für die es aber noch viel, viel wichtiger war, dass wir beides anwenden konnten. Wir führten viele Gespräche in ihrem Unterricht und ich lernte die meisten Vokabeln einfach über die Beschäftigung mit dem jeweils aktuellen Thema.

Da war die Rechnungswesen-Lehrerin, in deren Unterrichtsfach mein autistischer Kopf total glücklich war, weil es so viele klare Regeln und Strukturen gab, und die als erste erkannte, wie gut ich darin war, anderen Menschen etwas beizubringen. Sie empfahl mich den Eltern einer Mitschülerin als Nachhilfe und von dem Moment an gab ich nicht nur Nachhilfeunterricht, sondern hatte quasi auch die Erlaubnis in ihrem Unterricht meinen Mitschüler*innen Dinge zu erklären.

Da war die Lehrerin für kaufmännisches Rechnen, die es total okay fand, wenn ich die Aufgaben schneller durchrechnete als der Rest der Klasse und bei der ich dann eben lesen durfte, wenn ich nichts mehr zu tun hatte.

Da war der Betriebswirtschaftslehrer, der später auch Informatik unterrichtete, der von Jahr zu Jahr lockerer wurde und bei dem ich später auch während des Unterrichts anderen Dinge erklären durfte, was für mich definitiv eines der Dinge ist, die für mich und meinen persönlichen Wohlfühlfaktor am wichtigsten waren.

Womit ich nicht klarkam, das waren zwei Lehrkräfte, die einerseits zu wenig klar für mich waren, ständig Dinge anders erklärte oder bei denen ich einfach nicht wusste, woran ich war. Ganz besonders schlimm war für mich eine Lehrkraft die Regeln extrem genau befolgen wollte, allerdings nicht aus dem Bedürfnis und Verständnis heraus, dass Regeln wichtig sind, sondern aus der Angst davor, Fehler zu machen und vielleicht Ärger deswegen zu bekommen.

Ich verstehe dieses Verhalten heute durchaus, aber als Schülerin fand ich es sehr anstrengend – vor allem auch deshalb, weil ich bei vielen andern Lehrer*innen erlebte, dass es nicht darum ging, der „Obrigkeit“ gegenüber alles richtig zu machen, sondern es für uns als Schüler*innen richtig zu machen.

Für mich waren diese fünf Jahre die Zeit mit den größten Freiheiten und dem geringsten Druck zu Konformität. Ich saß in der ersten Reihe, genau vor dem Lehrer*innentisch (weil ich mich dort am wohlsten gefühlt habe) und habe im Unterricht Bücher gelesen, gezeichnet (Stimming) oder habe anderen Dinge erklärt. Ich habe mich dort frei gefühlt, so zu sein, wie ich bin, und habe für dieses Ich-Sein sogar noch Anerkennung bekommen.

Ich hatte zwar auch in dieser Zeit kaum Freund*innen – die meisten fanden mich einfach total seltsam -, aber doch ein paar Mitschülerinnen, mit denen ich ganz gut klarkam, wodurch Gruppenarbeiten einfacher wurden.

Fazit

Rückblickend glaube ich, dass das, was mir am meisten in meiner Schulzeit geholfen hat, Lehrer*innen waren, die bereit waren, sich auf mich einzulassen – auch, wenn es aus den „falschen“ Gründen war, weil ich (in der Grundschule) als Scheidungskind galt, mit dem man besonders sorgsam umgehen musste, dem man „merkwürdiges“ Verhalten oft nachsah, weil man die Scheidung als Grund dafür betrachtete und dem man dadurch einfach mehr Verständnis entgegengebracht hat.

Später war es dann ein überschaubares Umfeld, wenig Veränderungen an Menschen und Orten, das Anerkennen meiner „Eigenarten“ und zum Teil eben auch das bewusste Fördern dieser Eigenarten, weil Lehrkräfte erkannten, dass ich mit meinem Erklären etwas Gutes beizutragen hatte, auch wenn es so im Konzept Schule nicht vorgesehen war.

Ich habe 2000 mein Abi gemacht und mir ist klar, dass sich in diesen mehr als 20 Jahren vieles verändert hat und es heute deutlich mehr Regeln und Vorschriften gibt – und damit auch weniger Freiheiten, Energie und Raum, Dinge auf eine persönliche Art zu lösen. Dennoch glaube ich, dass Schule nicht automatisch furchtbar für neurodivergente Kinder sein muss – immerhin bringen neurodivergente Menschen viele positive Eigenschaften mit, auch für ein schulisches Umfeld!

Ich wünsche mir sehr, dass alle neurodivergenten Kindern so viel Glück mit ihren Lehrkräften haben, wie ich – und dass es vielleicht eines Tages kein Glück mehr ist, sondern Normalität. Schulzeit ist nie einfach, aber sie müsste deutlich weniger schlimm sein, als sie für viele von euch war und für eure Kinder heute ist.

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

Ich bin behindert

Ich bin behindert

3. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

CN: Ableismus

Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ich wusste das nicht und das klingt vielleicht seltsam, denn in den letzten Monaten habe ich gelernt, mich selbst so zu bezeichnen: Behindert.

Immer noch kämpfe ich damit, halte mich für die Selbstbezeichnung an manchen Tagen für arrogant und unverschämt, finde mich „nicht behindert genug“ und so, als würde ich übertreiben. Ich habe keine sichtbare Behinderung. Ich humple manchmal wegen meines Bandscheibenvorfalls, ja, aber sonst sieht man mir nicht an, was mich behindert macht – und selbst das Humpeln versuche ich zu vermeiden, denn: Es könnte ja wem auffallen.

Ich fühle mich privilegiert dadurch. Ich werde nicht wegen meiner Behinderung angestarrt, bekomme keine zu neugierigen Rückfragen, kann fast ganz unauffällig sein, wenn ich das möchte und selbst bestimmen, wofür ich auffallen will, wenn ich auffallen will. Kein Mensch nimmt mir diese Entscheidung einfach ab, weil ich körperlich anders wirke als er und er denkt, dass es dadurch zu meiner Pflicht wird, ihn darüber aufzuklären, warum ich denn so anders bin – also bis auf manchmal, wenn die Menschen denken, dass es sie etwas angeht, dass ich dick bin und doch ist das anders.

Wenn die liebe Freundin mir erzählt, dass sie schon wieder in der Bahn angestarrt wurde oder zu einer Veranstaltung nicht gehen möchte, weil sie nicht abschätzen kann, ob dort ihre Bedürfnisse mitgedacht werden, fühle ich zunächst Scham. Scham darüber, nicht daran gedacht zu haben und auch zu denen zu gehören, die sie nicht mitdenken – und dann fällt mir ein, dass ich zum Teil deswegen nicht bewusst daran denke, weil ich das, was sie erzählt, auch irgendwie kenne und als „normal“ empfinde.

Es ist anders bei mir und ich bin mir viel zu oft nicht bewusst, wo genau ihre Schwierigkeiten liegen, und doch gibt es Gemeinsamkeiten, ein ähnliches Erleben, ähnliche Kämpfe, ähnliches Verpassen und Vermeiden – all das, was Behinderung mit uns macht. Mit mir, mit der lieben Freundin und all den anderen Menschen, die auf die eine oder andere Art behindert sind.

Ich bin grundsätzlich ungern in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Es ist anstrengend, wenn viele Menschen um mich herum sind. Ihre Blicke machen mir Angst, ihr Gelächter und ihr Getuschel. Ich will auch nicht die vorwurfsvollen Mienen sehen, weil ich einen Sitzplatz nutze, obwohl ich dick bin. Lieber stehe ich, vor Schmerzen schwitzend, klammere mich an einen Haltegriff und konzentriere mich auf meinen Atem, immer voller Angst, dass die Schwärze vor meinen Augen mich doch noch umwerfen könnte.

Aber ich muss mir zumindest keine Gedanken darüber machen, ob ich das Verkehrsmittel überhaupt betreten werde können…

Letztens wollte ich einen Workshop besuchen. Weidenflechten. Ich habe mich nicht einmal getraut, mich anzumelden, denn neben der Tatsache, dass fremde Menschen immer schwierig für mich sind und ich in sozialen Situationen große Probleme habe, war mir auch nicht klar, wie ich das machen sollte, dort mehrere Stunden eine körperliche Tätigkeit zu verrichten. Ich bräuchte wahrscheinlich alle 30 Minuten eine Pause, müsste mich hinlegen, weil ich mit Schwindel und Schmerzen zu kämpfen habe und würde den ganzen Workshop aufhalten, weil ich… behindert bin. Aber naja, dann besuche ich den Workshop eben nicht, macht ja nichts.

Und doch: Es MACHT was!

Es macht was mit mir, dass ich nicht einfach so mit einem Bus fahren kann, dass ich nicht einfach so zu einem Vortrag oder einem Workshop gehen kann, dass ich nicht einfach so an unbekannte Plätze gehe, weil ich nicht weiß, was mich dort erwartet und ob ich dort klarkommen werde, ob die Menschen dort Masken tragen werden und auf Abstand achten werden. Es macht etwas mit mir, dass ich mir vor jeder noch so kleinen Unternehmung überlegen muss, ob sie für mich geeignet sein wird, oder ich mich zumindest so weit anpassen können werde, dass ich sie durchhalten kann. Ob sie dann noch Spaß macht, mal vollkommen dahingestellt.

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, einfach irgendwo hinzufahren, eine Reise zu buchen, an einer Veranstaltung teilzunehmen oder einen Ausflug zu machen. Ja, das ist bei mir aus anderen Gründen als bei jemandem, dessen Rollstuhl oder Sehbehinderung mitbedacht werden muss, aber am Ende bin ich dennoch behindert.

Ich muss immer meinen körperlichen und psychischen Zustand mitbedenken, meine Energie, meine Aufgaben für die nächsten Tage und Wochen, meine Leidensfähigkeit, meine sozialen Fähigkeiten, mein Durchhaltevermögen, auch in Bezug auf Reize und Menschen. Ich muss Wochen im Voraus planen – und gleichzeitig immer bereit sein, im letzten Moment die Pläne umzuwerfen, weil es dann doch nicht geht.

Sind andere Menschen involviert, meide ich Pläne dann oft komplett. Ich möchte nicht ständig im letzten Moment absagen, will nicht, dass andere auf mich Rücksicht nehmen müssen, möchte ihnen nicht das Gefühl verleihen, dass sie mir nicht so wichtig sind, dass ich mich nicht einfach „ein bisschen zusammenreiße“. Wie sollte ich ihnen auch erklären, dass es eben nicht „ein bisschen zusammenreißen“ ist, sondern weit über meine Grenzen gehen, tagelang NICHTS mehr machen können und zwar wirklich nichts. Gar nichts.

„Nichts machen“ bedeutet für andere Menschen, dass sie nichts „Sinnvolles“ machen. Sie lesen dann vielleicht, basteln, backen, schauen fern, treffen sich mit Freund*innen. „Nichts“. Mein Nichts bedeutet, dass ich auf der Couch liege und mich mit Instagram-Reels ablenke, weil alles, was darüber hinausgeht, zu anstrengend ist. Mein Nichts bedeutet, dass ich nicht mit Menschen kommunizieren kann, nicht kochen kann, nicht basteln kann, keine Hörbücher hören – geschweige denn lesen – kann, nicht einkaufen kann, ja noch nicht mal rausgehen kann. Mein Nichts bedeutet NICHTS und mein Nichts ist die Folge von dem, was für andere Menschen ganz normale, alltägliche Dinge sind!

Ich bin behindert.

Immer noch bin ich erst am Anfang davon, das für mich als wahr zu verstehen, zu begreifen, dass behindert eben nicht nur das ist, was wir sehen, sondern all das, was uns das Leben so viel schwerer macht als den meisten und was wir meistens überspielen, um für andere nicht zu anstrengend zu sein.

Immer noch bin ich erst dabei, mir selbst klarzumachen, dass auch ich behindert bin: Ohne sichtbare Behinderung, ohne die spezifischen Probleme, die aus diesen Behinderungen entstehen, aber durch andere Behinderungen und deren Folgen.

Ich bin behindert und der 3. Dezember ist auch mein Tag.

Nein, das ist nicht egal.

Nein, das ist nicht egal.

25. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

„Da traut man sich ja gar nichts mehr schreiben!“ In letzter Zeit lese ich immer wieder, dass die neurodivergente Community so ausschließend und besserwisserisch wäre, so empfindlich auf falsche Begriffe reagieren würde (z.B. „neurodivers“ statt „neurodivergent“) und sich Neulinge ja gar nichts schreiben trauen würden aus Angst, von irgendjemandem verbal angefahren zu werden.

Ich verstehe diese Angst. Mir geht das in neuen Räumen eigentlich immer so, dass ich mich erstmal nichts sagen traue, wochen-, ja manchmal monatelang nur mitlese, bis ich endlich den Mut fasse, auch selbst etwas zu schreiben. In allen neuen Räumen (und übrigens am stärksten in neurotypischen). Da spielt sehr stark meine Angst vor Zurückweisung hinein, mein Wunsch, niemanden zu verletzen, vielleicht auch ein gewisser Perfektionismus, aber halt auch meine Liebe zur Sprache und zur richtigen Verwendung von Begriffen.

Begriffe sind bedeutsam. Für uns neurodivergente Menschen vielleicht sogar noch mehr als an anderen Stellen.

Für viele von uns ist es wichtig, den Inhalt einer Aussage wirklich, wirklich, wirklich richtig zu verstehen. Wir sind es gewohnt, nicht immer alles so zu verstehen, wie es gemeint ist und dann deswegen anzuecken. Nur wie es denn etwas gemeint? Wie erfasst man das?

Mein Gehirn bleibt manchmal stecken, wenn ein Satz mehrdeutig – oder zumindest nicht absolut eindeutig – ist. Es versucht dann, jede mögliche Bedeutung des Satzes zu verstehen und abzuwägen, welche der*die Sprecher*in denn genau gemeint haben könnte. Oft klappt das nicht, weil es einfach viel zu viele Möglichkeiten gibt, wie ein einzelner Satz gemeint sein könnte und die tatsächliche Bedeutung lässt sich dann eben nur deuten. Richtige, eindeutige Begriffe helfen da.

Deswegen sind auch Redewendungen und Metaphern vor allem für Autist*innen manchmal schwierig. Wir versuchen nämlich, sie absolut richtig zu verstehen. Redewendungen, die wir nicht kennen, sind dann erstmal verwirrend, denn wir erkennen vielleicht noch nicht einmal, dass es eine Redewendung ist, versuchen, das Gesagte wörtlich zu verstehen und stolpern darüber, dass es wortwörtlich einfach keinen Sinn ergibt. Das wird im Laufe der Jahre oft besser, weil wir immer mehr Redewendungen kennen und sie oft ja auch selbst verwenden – noch mehr, wenn Sprache ein Spezialinteresse ist.

Was aber bleibt ist eine gewisse Unsicherheit an vielen Stellen.

Vielleicht kennst du das, wenn jemand zu dir sagt „Wir treffen uns nächstes Wochenende.“ und du fragst dich: „Ist das in 3 Tagen oder in 10?“ „Nächstes Wochenende“ ist nicht so eindeutig, wie wir oft denken und bei unseren Gesprächspartner*innen lösen wir dann damit Verwirrung aus. Nach einem kurzen peinlichen Moment suchen wir nach besseren Erklärungen und legen uns vielleicht auf ein genaues Datum fest, um alle Missverständnisse zu vermeiden.

Viele Autist*innen lieben es, sich möglichst genau auszudrücken. Wir „oversharen“, wir verwenden Klammern und Gedankenstriche, Fußnoten und Einschübe, denn wir wollen das, was wir von uns geben, so unmissverständlich wie nur irgendwie möglich machen. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten auch immer noch dazu schreiben, in welcher Verfassung ich einen Text gerade verfasst habe, nur damit auch ganz sicher klar ist, wie etwas gemeint ist. Wäre es trotzdem nicht, also kann ich mich bremsen.

Für uns sind genaue Begriffe also tatsächlich wichtig. Sie helfen uns, Klarheit herzustellen und Unsicherheiten zu vermeiden.

Und ja, manchmal sind wir auch ein bisschen besserwisserisch und wollen, dass du den richtigen Begriff verwendest, selbst wenn wir dich auch sonst verstehen. Für mich fühlt es sich nach Wertschätzung an, wenn du dich um die richtigen Begriffe bemühst und im Gegenzug fühle ich mich oft nicht respektiert, wenn dir Begriffe, die für mein Leben wichtig sind, egal sind. Zusätzlich kann ein „neurodivers“ statt „neurodivergent“ bei mir tatsächlich dazu führen, dass ich auf etwas nicht reagieren kann – nicht, um dir eine Lektion zu erteilen, sondern weil mein Gehirn quasi einen Kurzschluss hat und nicht mehr korrekt funktioniert. Ja, wegen einer Kleinigkeit wie einem falschen Wort! Ich bin Autistin. Mein Kopf funktioniert eben so.

Was auch noch eine Rolle bei unserer „Pingeligkeit“ in Bezug auf Begriffe spielt: Viele Autist*innen legen sehr großen Wert auf Regeln. Richtige Begriffe fühlen sich für mich durchaus wie eine Regel an und verwendest du den falschen Begriff, brichst du quasi die geltende Regel und ich winde mich innerlich, weil ich natürlich weiß, dass das keine große, wichtige Regel ist, aber sie sich für mich an dieser Stelle wichtig anfühlt, weil sie „richtig“ von „falsch“ trennt.

Ich verstehe, dass all das dazu führen kann, dass neurodivergente Communities sich beängstigend anfühlen, wenn man das erste Mal mit ihnen in Kontakt kommt. Ich verstehe auch, dass es problematisch ist, so viel Wert auf Begriffe zu legen, die man ja erstmal kennen und lernen muss. Und ja, wir reagieren nicht immer lieb und geduldig, sondern sind auch mal genervt und haben keine Lust, zu erklären, warum der von dir verwendete Begriff falsch ist. Das ist menschlich. Genauso wie es menschlich ist, wenn du einen falschen Begriff verwendest.

Ich nehme es dir nicht übel, wenn du das machst – auch, wenn du dadurch einen inneren Konflikt oder einen Kurzschluss in mir auslöst -, aber wenn ich oder ein anderer neurodivergenter Mensch mal nicht geduldig mit dir ist, denke bitte daran, dass du in unseren Raum kommst und wir diejenigen sind, die dort sie selbst sein können sollten.

Das bedeutet nicht, dass du keine Fehler machen darfst. Aber so, wie du vielleicht von uns erwartest, dass wir dir deine Fehler nachsehen, erwarte ich auch von dir, dass du uns so nimmst, wie wir sind: Autistisch.

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

25. Oktober 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Erst kürzlich tauchte auf einer großen Autismus-Seite mal wieder ein Text zum Thema „Autismus überwinden“ auf. In dem Text ging es hauptsächlich darum, wie falsch es doch wäre, davon auszugehen, dass Autismus ein Teil von einem selbst sei und dass er nicht heilbar wäre. Man müsse nur tüchtig an sich arbeiten und dann wäre der Autismus auch nicht mehr diagnostizierbar und damit geheilt. Wer das Gegenteil behaupte, hätte einfach nur das Problem, sich zu sehr mit seinem Autismus zu identifizieren und das gelte es zu überwinden.

Jetzt ist es so, dass der Artikel ein bisschen schummelt. Der Autor stützt sich auf die DIAGNOSTIZIERBARKEIT von Autismus und wir wissen ja: Autismus wird nur diagnostiziert, wenn die Diagnosekriterien erfüllt sind. Die Diagnosekritierien umfassen aber in erster Linie von außen erkennbare Symptome plus Leidendruck. Wirkt man also auf andere nicht mehr autistisch und hat keinen Leidensdruck mehr – ZACK – geheilt!

Das ist aber eigentlich nur der Punkt, an dem das „Störungsmodell“ psychischer Krankheiten an sein Limit kommt und wo wir nicht über Heilbarkeit, sondern über Diagnostizierbarkeit diskutieren sollten. Diagnosen sind nicht dafür da, um ein anderes Denken, Fühlen oder Wahrnehmen zu beschreiben. Sie sind dafür da, um eine Störung, eine Abweichung im Norm-Verhalten (also dem Verhalten der Mehrheit) zu beschreiben und diese Abweichung möglichst so zu verändern, dass sie nicht mehr „stört“ (meistens eher das Umfeld als die Betroffenen). Ich empfehle hierzu auch sehr den Post „Diagnose nur mit Leidensdruck“ der Autismusambulanz Halle!

Wenn der Autor des genannten Artikels also darüber spricht, dass Autismus „heilbar“ ist, sagt er eigentlich: Man kann als Autist*in so gut lernen, die autistischen Merkmale zu verstecken, dass man nicht mehr als Autist*in erkannt wird. Herzlichen Glückwunsch! /s (Tonindikator: Sarkasmus) Hier wird Masking als Heilung verkauft!

Warum ist es so schwer – auch als Autist*in – zu akzeptieren, dass man für immer autistisch sein wird?
Warum ist der Gedanke daran, nicht „geheilt“ werden zu können, so unerträglich, dass man sich selbst Brücken baut, um sich nicht länger als Autist*in wahrnehmen zu müssen?

Ich fürchte, die Antwort liegt darin, wie Autismus immer noch wahrgenommen wird. Sie liegt in all den Defiziten und den Problemen. Sie liegt in den Diagnosekriterien und sie liegt in den „Therapien“, die allzu oft immer noch darauf abzielen genau das zu erreichen, was der Autor des von mir kritisierten Textes empfiehlt: Benimm‘ dich normal, dann bist du auch kein*e Autist*in mehr! Dann störst du nicht mehr! Dann bist du nicht mehr lästig! Dann muss ich keine Rücksicht mehr auf dich nehmen!

So ist es aber nicht. Autismus hat man für immer – und Rücksicht verdient übrigens jeder Mensch!

Vollkommen egal, ob ich mich autistisch präsentiere oder nicht, ob ich dir in die Augen sehen kann oder nicht, ob ich Sarkasmus und Redewendungen verstehe, Spezialinteressen habe oder diesen Wollpullover, den du so kuschelig findest als unerträglich kratzig bezeichne und sofort wieder ausziehen muss oder ertragen kann – ich bin autistisch.

Autismus, das ist nicht das, was du von außen siehst. Er ist nicht das, was mich für dich anstrengend und seltsam macht. Autismus ist auch nicht das, was für dich unangenehm ist oder mich als pingelig und übersensibel dastehen lässt.

Autismus ist das, was ich empfinde, wie ich wahrnehme, wie ich denke. Autismus ist meine Sicht auf die Welt, nicht deine.

Du findest mich anstrengend, unhöflich, kleinlich und überempfindlich? Aber warum stört dich das überhaupt? Warum nervt es dich, wenn ich dir nicht in die Augen sehe? Warum fühlst du dich davon verletzt, dass ein Pulli, den du angenehm empfindest, für mich kratzt? Warum ist es so schlimm, dass meine Wahrnehmung eine andere als deine ist?

Und warum darf das für dich schlimm sein, aber nicht für mich?

Als Autistin bin ich es gewohnt, dass meine Wahrnehmung als falsch oder unpassend empfunden wird. Ich bin es gewohnt, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, wenn ich etwas anders wahrnehme, dass ich mich dafür entschuldigen muss, wenn neurotypische Menschen mich mal wieder falsch verstehen oder dass ich mich so verhalten muss, wie es für mich unangenehm ist, nur um andere nicht zu enttäuschen oder als unhöflich empfunden zu werden.

Autistisch zu sein ist, als würdest du in eine fremde Kultur geworfen werden, mit einer fremden Sprache und fremden Gesten, Ritualen und Bräuchen und als würden die Mitglieder dieser Kultur überhaupt nicht verstehen, dass es neben ihrer Kultur auch eine andere – nämlich deine – gibt. Sie gehen davon aus, dass alle ihre Kultur und Sprache verstehen, dass ihre die einzig wahre Kultur ist und jede Person, die darin nicht so perfekt ist, ist fehlerhaft und krank.

Natürlich kannst du diese Kultur und Sprache lernen, vielleicht sogar so gut, dass die Mitglieder der Kultur irgendwann gar nicht mehr merken, dass das gar nicht wirklich deine Kultur ist und dich nicht länger als fehlerhaft, sondern als „geheilt“ betrachten. Aber wärst du wirklich „geheilt“? Oder würdest du einfach immer noch alles, was du siehst erstmal „übersetzen“? Würdest du vielleicht auch nach 20 Jahren klammheimlich immer noch vieles in D-Mark umrechnen, weil das das ist, was sich für dich vertraut und sicher anfühlt? Würdest du einen Teil deiner Energie dafür verwenden, in dieser fremden Kultur nicht aufzufallen, obwohl es immer noch nicht DEINE Kultur ist, nur um geheilt zu erscheinen, niemanden zu stören, „normal“ zu sein?

Genau so ist es auch mit der „Heilung“ von Autismus.

Ja, ich kann lernen, mich neurotypisch zu verhalten, aber ich werde nie lernen, neurotypisch zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen. Ich denke, fühle und empfinde neurodivergent, autistisch, adhs-ig… eben so, wie ich bin!

Wenn Comic-Figuren eine Maske überziehen und dann für jemand anderes gehalten werden, erkennen wir alle, dass das in Wirklichkeit überhaupt nicht funktionieren würde. Wenn sich Robin Hood in der Disney-Version einen Schnabel anzieht und auf Stelzen geht, um als Storch am Wettkampf teilzunehmen, wissen wir als Zuschauer*innen natürlich immer noch, dass er in Wirklichkeit Robin Hood ist – auch, wenn er noch so perfekt den Storch mimt und im Film auch als solcher durchgeht. Denn er IST Robin Hood, egal, wie sehr er sich wie ein Storch benimmt.

Und genauso sind wir Autist*innen eben Autist*innen – auch dann, wenn wir eine neurodivergente Maske anziehen, jemandem in die Augen schauen und Metaphern verstehen.

Wenn ich mit anderen Autist*innen (oder auch Menschen mit ADHS) rede, merke ich, wie unsere Denkweisen sich ähneln, wie wir die Welt auf eine ganz andere Art wahrnehmen und verarbeiten, als das bei neurotypischen Menschen der Fall ist. Unser Verständnis der Welt, der Menschen und ihrer Verhaltensweisen ist ganz, ganz anders und unsere Schwierigkeit besteht oft darin, diese Verhaltensweisen für uns zu übersetzen – und im Gegenzug auch uns zu übersetzen, um uns für andere begreifbar zu machen.

Es ist nicht der AUSDRUCK, der uns zu Autist*innen macht (auch wenn es das ist, was diagnostiziert wird). Es ist unser Inneres. Es ist unsere Wahrnehmung. Es ist unsere Denkweise. Es ist unser Fühlen.

Nichts davon kann oder müsste geheilt werden.

Die einzige „Überwindung“ einer Autismusspektrumstörung, die ich mir wünsche ist die, dass Autismus nicht länger als Störung, Defizit oder Defekt verstanden wird, sondern als eine von vielen Möglichkeiten zu sein. Nicht besser, aber eben auch nicht schlechter als neurotypisches Sein.

Autismus hat man für immer und es ist Zeit, das nicht länger als Nachteil zu sehen. Nur so kommen wir zu einem „modernen“ Blick auf Autismus, ADHS und andere Neurodivergenzen. Nur so kommen wir zu einem zeitgemäßen Blick auf Diversität, auf „Normalität“, Abweichungen und Behinderungen.

Es geht nicht um Heilung oder Überwindung. Es geht um Anerkennung jeglicher Lebensrealität als gleichwertig.

Ich pfeife auf offizielle Diagnosen

Ich pfeife auf offizielle Diagnosen

20. Oktober 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Alle paar Monate geht es wieder durch die neurodivergente Bubble: „Sind Selbstdiagnosen valide?“ Die (gefühlt) meisten halten Selbstdiagnosen für absolut valide, während ein paar immer wieder sagen: „Nein, nur offizielle Diagnosen sind gültig.“

Kurzer Einschub: Auch wenn das in solchen Diskursen oft anders rüberkommt: Für jegliche offizielle Unterstützung ist immer auch eine offizielle Diagnose erforderlich und Selbstdiagnosen dienen rein dem eigenen Verständnis, dem Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe der neurodivergenten Menschen und der Selbstbezeichnung. Es geht bei der Frage also letzten Endes nur darum: „Darf ein Mensch sich selbst als Autist*in/ADHSler*in/usw. bezeichnen?“

Der Grundgedanke dabei ist: Nur eine ausgebildete Fachperson, die viele Jahre studiert hat, was Neurodivergenzen sind, wie sie sich präsentieren und worin sie sich unterscheiden, ist in der Lage, eine Neurodivergenz korrekt zu diagnostizieren.

Das Problem dabei: Die meisten Fachpersonen sprechen noch nicht mal von Neurodivergenzen, sondern von psychischen Störungen und ja, sie haben sie studiert – aber viel zu oft beträgt der Studienumfang zum Thema Autismus halt eine einzige Vorlesung oder vielleicht sogar nur ein Kapitel in der Vorlesung „Frühkindliche Entwicklungsstörungen“.

Das Wissen, das an Universitäten über Autismus, ADHS und Co. gelehrt wird, ist teilweise ganz furchtbar veraltet, es herrschen immer noch Meinungen vor, wie „nur Jungen haben das“, oder „das verwächst sich“ – oder, wie es mir letztens passierte, dass ich gefragt wurde, ob mein Autismus denn angeboren sei? „Äh ja, Autismus ist immer angeboren?“ Große Überraschung auf Seiten des Arztes, das hätte er gar nicht gewusst.

Was ich sagen möchte: Wir haben ein unheimlich leuchtendes, reines, perfektes Bild von „ausgebildeten Fachpersonen“. Wir denken, die haben jahrelang studiert, wissen alles über alle psychischen Störungen, bilden sich regelmäßig fort und jede ihrer Diagnosen ist gerechtfertigt.

Nur so ist es leider nicht.

Es gibt keine genauen Zahlen, aber in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung wird zum Beispiel von einer Rate an Fehldiagnosen zwischen 20 und 40 Prozent ausgegangen.

Warum? Zum einen sind viele Symptome – auch in Kombination – nicht eindeutig, zum anderen sind psychische Diagnosen IMMER subjektiv, auch von einer noch so gut ausgebildeten Fachkraft. Es gibt schlichtweg für (die meisten) psychischen Probleme keine Biomarker, also Blut- oder Gewebemerkmale, anhand derer man die Erkrankung einwandfrei bestimmen könnte.

Psychische Diagnosen erfolgen immer anhand von Fragebögen, Gesprächen, Beobachtungen. Sie sind immer beeinflusst vom Verständnis des Fragebogens, vom Zustand der Beteiligten während eines Gesprächs oder einer Beobachtung, sie hängen ab von der Fähigkeit, sich auszudrücken, sich zu reflektieren, etwas von sich zu berichten. Und sie hängen von der Erfahrung der Fachperson mit einer speziellen Störung ab.

Eine Praxis oder Klinik, die sich auf Borderline spezialisiert hat, wird immer einen sehr großen Anteil an Borderline-Diagnosen haben, auch, wenn sie vielleicht falsch sind. Nicht aus Böswilligkeit, oder um besonders viele Patient*innen zu haben, sondern schlichtweg, weil die diagnostizierenden Personen im Bereich Borderline die höchste Expertise haben und alles, was nur ansatzweise darauf hindeutet in diese Richtung interpretieren – auch, wenn es vielleicht auch andere Gründe dafür geben könnte. Sie sind in ihrer eigenen Wahrnehmung und Erfahrung gefangen.

Genau so ist es auch mit Psychiater*innen und Psycholog*innen mit anderen Schwerpunkten.

Überhaupt: Es ist erst seit 2013 – also seit gerade mal knapp 10 Jahren! – überhaupt möglich, Autismus und ADHS zusammen zu diagnostizieren, davor war der offizielle psychiatrische Standard: Es ist entweder das eine ODER das andere. Heute wissen wir, dass zwischen 50 und 80 % (ja nach Quelle) der Autist*innen auch ADHS haben und andersrum.

Oder das Thema Autismus und ADHS bei nicht-weißen und/oder nicht-männlich gelesenen Personen. Bis heute sind beide Neurodivergenzen in BI_PoC unterdiagnostiziert, ebenso in Kindern (und Erwachsenen), die nicht als männlich wahrgenommen werden (das betrifft explizit nicht nur cis Frauen!).

Genauso gibt es heute noch – auch junge – psychologische Fachpersonen, die noch von Asperger-Autismus oder von hochfunktionalem Autismus sprechen! Oder Diagnosekriterien, die nach wie vor eigentlich nur die Außensicht im Blick haben, die Störung, die das Individuum verursacht – so wie Therapien BIS HEUTE darauf basieren, dass neurodivergente Menschen sich eben anpassen sollen.

Das ALLES kommt von ausgebildetem, studiertem, geschulten Fachpersonal! Von den Menschen, die angeblich die einzig wahre Kompetenz besitzen sollen, um festzustellen, ob ich neurodivergent bin und wenn ja, welche Neurodivergenz es denn bitte ist.

Ganz ehrlich: Ich kann offizielle Diagnosen nicht als gesicherter betrachten als eine Selbstdiagnose.

Ja, natürlich sind Selbstdiagnosen subjektiv. Das sind Diagnosen durch Fachpersonen aber auch – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht!

Viele neurodivergente Menschen sind unheimlich selbstreflektiert, recherchieren jahre(!)lang, beschäftigen sich mit Alternativen, probieren aus, hinterfragen und analysieren – und das in einem Ausmaß, dass keine offizielle Diagnose leisten könnte.

Ich wäre daher sehr dafür, dass wir darüber diskutieren, was alles zu einer Diagnose gehören sollte, als darüber, ob man das selbst machen kann, oder dafür eine studierte Person braucht.

Das studierte Fachpersonal sollte ein Lotse sein, der uns auf unserem Diagnoseweg begleitet, uns wo nötig anleitet und unterstützt, das hinterfragt, was wir vielleicht übersehen oder nicht hinterfragen können und uns zu einer Selbsterkenntnis über unsere Neurodivergenz führen – und nicht der Richter darüber sein, ob wir uns autistisch nennen dürfen oder nicht.

Ich pfeife auf offizielle Diagnosen!

Und können wir jetzt vielleicht darüber reden, was für uns zu einer Diagnose gehören würde? Unabhänging davon, wer diese Diagnose am Ende erstellt!

Unser Ziel sollte nämlich sein, dass neurodivergente Menschen früher herausfinden, DASS sie neurodivergent sind und wie sie damit ihr Leben führen können – darum geht es nämlich.

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

13. Oktober 2022 Claudia Comments 0 Comment

Vor vielen, vielen, vielen Jahren war mein Spezialinteresse PHP, eine Skriptsprache, mit der sich viele Online-Anwendungen realisieren lassen. Nicht, dass ich damals schon wusste, was ein Spezialinteresse ist, aber rückblickend, war es definitiv genau das.

Ich hatte 2001 mit PHP angefangen, mich sofort darin vertieft und alles darüber gelernt und ausprobiert, was mir irgendwie in den Sinn kam. Nach kurzer Zeit schrieb ich ein Tutorial dazu – eigentlich nur, um einem Freund PHP zeigen und erklären zu können – und es entwickelte sich zu einer Anlaufstelle für all jene Menschen, die mit den üblichen Programmier-Tutorials nicht zurechtkamen.

In den folgenden Jahren programmierte ich viel für mich selbst, aber auch für andere. Ich liebte die Herausforderung, die Probleme und die Wege zu einer Lösung. Ich liebte die Art zu denken und was mein Gehirn damit machte. Ich suchte mir immer neue Aufgaben, experimentierte mit Dingen, die so gut wie gar nicht dokumentiert waren und probierte einfach herum, bis etwas für mich funktionierte.

PHP war für mich ein ganz großer, wichtiger Teil meines Lebens, ja meiner Identität. Wenn ich mich damit beschäftigte, schien alles zu glitzern und zu funkeln, in meinem Kopf leuchteten die Verbindungen auf, lockten mich, führten mich. Alles war fließend und wunderschön…

… und dann kam ein Tag, an dem alles verschwand.

Ich steckte in einem größeren Projekt, eine Internetseite mit stark personalisiertem Content Management System, hatte viele tolle Ideen, die ich noch einbringen wollte, spannende Überlegungen… und plötzlich verstand ich nichts mehr. Nicht meine eigenen Gedanken, nicht meine Pläne, nichts von dem bereits geschriebenen Code.

Da stand etwas, ja, ich konnte es auch lesen, aber ich verstand nicht mehr, was es tun würde. Ich verstand nicht mehr, was ich davor oder danach oder drumherum brauchte, um etwas damit zu erreichen. Ich verstand nicht mehr, was ich tun musste, um ganz simple Dinge, die ich schon hunderte Mal gemacht hatte, wieder zu machen.

Mein Kopf fühlte sich gleichzeitig komplett leer und übervoll an, alle Verbindungen, die darin immer vorhanden waren und die so wunderschön und verlockend geglitzert hatten, waren abgerissen, nichts leuchtete mehr und diese dunkle Leere schien mich zu verschlucken, während all die kaputten Fetzen mich erdrückten.

Ich quälte mich durch das Projekt – es musste ja fertig werden -, behalf mir mit Copy&Paste und ein paar ziemlich unsauberen Stellen, die meinem Verständnis von mir selbst und meiner Arbeit sehr, sehr zuwider liefen. Gleichzeitig war mir aber klar: Es ging nicht anders.

Jedes Mal, wenn ich versuchte, auch nur aus den Augenwinkeln auf mein ehemals glitzerndes Netz zu schauen, bekam ich Kopfschmerzen, alles schien sich zusammenzuziehen, wie in einem Krampf, jeder Gedanke an Code, Funktionen, Aufgaben, Lösungen war wie ein Schlag ins Gesicht.

Das Projekt habe ich noch abgeschlossen, aber danach hieß es, damit klarzukommen, dass ich einen Teil von mir selbst verloren hatte. Ich liebte coden! Ich liebte diese Denkweise! Ich sehnte mich danach. Aber sie gehörte nicht mehr zu mir….

Ich erinnere mich nicht mehr an die Zeit danach, sie ist für mich wie gelöscht. Meine einzige Erinnerung ist die daran, dass jede Bitte um Wartung einer Internetseite, die ich entwickelt hatte, mich in ein dunkles Loch schleuderte, ich total verzweifelt war und diese Barriere, die da in meinem Kopf war, mich unendlich quälte.

Es waren zum Glück immer nur Kleinigkeiten, die sich dann am Ende doch lösen ließen – mit einem absolut nicht gerechtfertigten Aufwand, aber irgendwie bekam ich sie hin; und war unendlich froh, als die Anfragen immer seltener wurden.

Ich kann bis heute nicht mehr wirklich programmieren. Manchmal versuche ich es noch, sehe eine spannende Aufgabenstellung, mit der ich mich beschäftigen möchte und hin und wieder ist dann für einen Moment sogar wieder das Spielerische, Faszinierende da. Das glitzernde, funkelnde, fließende Netzwerk ist aber nie wieder zurückgekommen und Anfragen zum Thema PHP führen immer noch zu Angst vor der großen, dunklen, alles lähmenden Klammer in meinem Kopf.

Ich weiß bis heute nicht, was da passiert ist, neige aber inzwischen dazu, es als Form eines autistischen Burnouts zu verstehen. Ich weiß nicht, was dazu geführt hat, erinnere mich nur an viel Stress und Druck und Angst und Hilflosigkeit – die meisten Erinnerungen an diese Zeit sind aber einfach weg.

Es fehlt mir immer noch hin und wieder: Das Programmieren, dieser Teil von mir, das wunderschöne Netzwerk, das in meinem Kopf glitzerte, die Zufriedenheit, wenn ich ein Problem lösen konnte, diese Klarheit, die im Code lag… Es war wunderschön.

ADHS und Herausforderungen als Motivation

ADHS und Herausforderungen als Motivation

26. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Fitnesstracker sagt: „8.607 von 1.000 Schritten – Tagesziel übertroffen!“ Er lobt mich auch dafür, dass ich seit 287 Tagen mein Schrittziel erreiche. Mein Schrittziel von 1.000 Schritten. Eintausend. Nicht die üblichen Zehntausend.

Ich liebe Herausforderungen und als ich das erste Mal einen Fitnesstracker hatte, war die Vorgabe von 10.000 Schritte für mich hoch motivierend. Ich wollte unbedingt diese 10.000 Schritte laufen, wollte mein Schrittziel erfüllen und das jeden Tag. Ich weiß noch, wie ich auf dem Parkplatz des Supermarktes auf und ab gelaufen bin, um nur ja auf meine 10.000 Schritte kommen – und noch mehr erinnere ich mich daran, wie gestresst ich war, wann immer ich nicht einmal in die Nähe dieser 10.000 Schritte kam.

Nach wenigen Tagen schon war die Menge der Schritte keine Motivation mehr für mich, sondern eine ewige Drohkulisse: „Wenn du es nicht schaffst, 10.000 Schritte zu machen, dann verlierst du deine Siegessträhne!“ Ich war gestresst, habe mit mir selbst verhandelt, wie schlimm es ist, diese Siegessträhne zu verlieren, mich dazu gezwungen, doch noch eine Runde zu drehen, obwohl ich überhaupt nicht wollte, nur, damit der Schrittzähler zufrieden war. Ging es mir nicht gut und konnte ich mich kaum bewegen, drehten sich meine Gedanken den ganzen Tag darum, wie sich das auf meinen Fitnesstracker auswirken würde und ich war noch verzweifelter als sowieso schon.

Nach einer Weile habe ich schließlich die Schrittanzahl reduziert, zwischendurch sogar bis auf 500, bis ich sie dann irgendwann auf 1.000 gestellt habe. 1.000 Schritte, das schaffe ich jeden Tag, meistens sogar noch am Vormittag und auch an den Tagen, an denen es mir nicht gut geht und an denen ich mich eigentlich nur vom Bett auf die Couch und von der Couch ins Badezimmer und zurück schleppe. 1.000 Schritte, das ist einfach und… es ist keine Herausforderung.

Für die meisten Menschen ist das absurd, denn genau diese Herausforderung ist ja das, weswegen man überhaupt einen Schrittzähler verwendet. Es ist das, was einen dazu motiviert, mehr Schritte zu machen. Dass man abends erschrocken feststellt, dass das Schrittziel ja noch gar nicht erreicht ist und dann noch rasch ein paar Schritte macht, damit der Schrittzähler zufrieden ist – und man selbst auch, denn man hat sein Tagesziel erfüllt -, das ist durchaus so beabsichtigt.

Natürlich ist das großartig. Die 10.000 Schritte sind voll, man hat sich bewegt und das Ziel erreicht, nur… ist das wirklich die Form von Motivation, die gut für uns ist?

Ein hoch gestecktes Ziel, das schwierig zu erreichen ist, ist keine positive Motivation, sondern verursacht in erster Linie Druck und Stress, oft auch noch kombiniert mit Versagensangst.

Fitnesstracker sind dafür ausgelegt, dieses Versagen zu dokumentieren, dir mitzuteilen, dass du am Sonntag aber nicht besonders fleißig warst oder am Mittwoch dein Schrittziel nicht erreicht hast. Du warst nicht gut genug – und sogar deine Elektronik weiß es und teilt dir das mit. Das soll dich dazu motivieren, dich mehr zu bemühen. Vielleicht wirst du dadurch sonntags eine Extrarunde drehen, um damit den Schrittzähler davon zu überzeugen, dass du doch fleißig bist – und vielleicht überzeugst du ja auch dich, dass du sehr wohl gut genug, fleißig genug, fit genug bist, wenn es sogar dein Fitnessarmband sagt.

Vielleicht geht dir das alles aber auch so auf die Nerven, dass du den Schrittzähler immer seltener tragen und ihn schließlich in einer Schublade „vergessen“ wirst, weil du dich einfach nicht länger von einem Gegenstand stressen lassen möchtest und du bist damit nicht allein: Statistisch gesehen lässt die Anfangsmotivation schon nach etwa fünf Wochen nach und nach drei bis sechs Monaten haben die meisten endgültig genug vom Fitnesstracker und er landet – genau – in der Schublade.

Ich glaube, das ist bei vielen Dingen so, die man nutzt, um sich zu verbessern. Am Anfang ist man hochmotiviert, will am liebsten die Anforderungen einer ganzen Woche an nur einem Tag erledigen, brennt geradezu danach, etwas zu tun, vielleicht eine Belohnung in Form eines Badges oder eines Lobs der App zu bekommen oder auch nur sich selbst auf die Schulter klopfen zu können und zu sagen: „Gut gemacht! Du hast dein Ziel erreicht! Du warst fleißig!“

Nach einer Weile stellt man jedoch fest, dass diese ganzen schönen Anforderungen doch zu viel sind. Sie passen irgendwie nicht in den Alltag, überfordern uns, bringen uns dazu, unsere Grenzen und unsere Leistungsfähigkeit zu ignorieren. Dir geht es heute nicht gut? Tja, Pech. Du musst deine 10.000 Schritte vollbekommen!

Vielleicht zwingst du dich dann dazu, hast keinen Spaß dabei, aber – puh – wenigstens hast du dein Ziel erreicht, warst willensstark und diszipliniert! Wie toll! Oder?

Vielleicht stellst du aber auch fest, dass dieses „sich selbst zwingen“ für dich nicht funktioniert und genau das Gegenteil bewirkt und verlierst mehr und mehr die Lust daran, auch nur zu versuchen, dieses Ziel weiterhin zu erreichen.

Dann bemüht man sich noch eine Weile, sie dennoch zu erfüllen – schließlich hat man ja einen Grund dafür -, bis man es entweder immer häufiger nicht schafft und deswegen frustriert ist und sich Selbstvorwürfe macht oder es gelingt einem, einen klaren Schlussstrich zu ziehen und bewusst damit aufzuhören.

Mir ging das mit den 10.000 Schritten genauso. Am Anfang wäre ich am liebsten 15.000 gelaufen oder noch mehr. Ich liebte die Schrittanzeige, liebte es, mich selbst immer wieder zu übertreffen und mir zu beweisen, dass ich mehr und immer noch mehr leisten konnte.

Dann wurde es immer schwieriger, die 10.000 wirklich jeden Tag zu schaffen. Ich drehte die oben erwähnten Parkplatz-Runden – nicht aus Freude an der Bewegung oder wegen der tollen Kulisse, sondern nur aus dem Grund, dass ich wie besessen davon war, dieses Schrittziel zu erreichen.

Dann folgte der erste Tag, an dem es nicht klappte und ich war verzweifelt, schämte mich und ärgerte mich über mich. Ich nahm mir fest vor, dass es eine Ausnahme zu bleiben hatte, dass ich am nächsten Tag wieder 10.000 Schritte gehen würde – oder noch mehr, denn ich hatte die besten Absichten! Trotzdem funktionierte es bald schon wieder nicht und ich ärgerte mich noch mehr und schließlich wollte ich die Smartwatch – diese Zeugin meines Versagens – gar nicht mehr so recht tragen. Trug ich sie doch, machte ich mir automatisch Stress.

Geholfen hat mir schließlich die Reduktion der Schritte.

Im Durchschnitt komme ich auf etwa 6.000 bis 7.000 Schritte pro Tag. Da sind Tage mit 2.000 Schritten ebenso dabei wie solche mit 15.000 oder mehr Schritten. Je nachdem, wie es halt gerade passt, worauf ich Lust habe, was mein Körper zu leisten in der Lage ist, wie ich Zeit habe und was ich so unternehme.

Man kann jetzt natürlich argumentieren, dass ich ganz offensichtlich nicht auf die magischen 10.000 Schritte am Tag komme und mutmaßen, dass das an der fehlenden Motivation liegt, der Punkt ist aber: Diese Form von „Motivation“ war für mich das genaue Gegenteil.

Zu wissen, dass mich 10.000 Schritte pro Tag regelmäßig überfordern und ich dann jedes Mal von mir selbst enttäuscht bin, hat mich massiv demotiviert. Meine 1.000 Schritte sind vielleicht keine Motivation zu mehr Schritten, aber sie sind vor allem auch keine Demotivation, die mich Tag für Tag frustriert, mein Selbstwertgefühl schmälert und mich gänzlich davon abbringt, mich mehr als notwendig zu bewegen.

Es heißt immer, Menschen mit ADHS werden durch Herausforderung motiviert und ich würde das sofort unterschreiben. Was aber oft unterschlagen wird: Wir werden genauso leicht durch etwas (auch nur scheinbar) Unerreichbares demotiviert!

Wir müssen Herausforderungen finden, die für uns machbar sind – es reicht noch nicht einmal, uns zu sagen, dass wir doch nur daran glauben müssen, dass wir es könnten, denn so ein ADHS-Kopf lässt sich nicht so einfach austricksen. Er weiß genau, was er selbst für machbar hält und was wir ihm nur einreden wollen und etwas, das nur eingeredet war, motiviert ihn einfach mal überhaupt nicht.  Im Gegenteil: Er liebt es, dann zu beweisen, dass er von Anfang an recht hatte und es eben nicht möglich war. (Ja, ich finde meine ADHS etwas rechthaberisch.)

Wenn wir etwas als nicht erreichbar betrachten – ob aus Erfahrung oder aus Sturheit -, dann motiviert es uns nicht, sondern demotiviert uns. Es bringt uns nicht dazu, etwas zu versuchen und uns zu bemühen, sondern eher dazu, trotzig in der Ecke zu sitzen und notfalls die Beweise zu vernichten; z.B. die Uhr in der Schublade zu „verlieren“.

Herausforderung ist etwas Wunderbares – gerade für Menschen mit ADHS. Wir müssen allerdings akzeptieren, dass das, was unsere ADHS als Herausforderung betrachtet nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, von dem wir gerne hätten, dass es als Herausforderung betrachtet wird und wir müssen lernen, für uns passende Herausforderungen zu finden, die dann auch wirklich funktionieren.

Sind meine 1.000 Schritte eine Herausforderung? Nein. Aber meine Motivation, spazieren zu gehen und damit Schritte zurückzulegen, liegt auch nicht in einer Herausforderung oder der Anzahl, sondern darin, dass ich Spaß am Spazierengehen an sich habe, dass ich die Natur beobachten kann, dass ich verschiedene Untergründe fühle, Wind auf meiner Haut, Sonnenschein…

Herausforderungen sind eine tolle Motivation – aber nicht immer die Richtige und schon gar nicht die Einzige.

Wie fühlt sich (meine) Neurodivergenz an?

Wie fühlt sich (meine) Neurodivergenz an?

21. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Vieles an meiner Neurodivergenz wird erst dadurch zu einer Auffälligkeit, dass ich in einer nach neurotypischen Bedürfnissen und Vorlieben gestalteten Welt lebe – jedoch wäre ich auch in einer Welt, die auf meine Bedürfnisse ausgelegt wäre, zumindest autistisch und hätte ADHS. Bei der Frage, wie sich Neurodivergenz anfühlt, geht es meiner Meinung nach also nicht darum, wie ich mich in dieser Welt fühle, sondern wie sich meine Neurodivergenz unabhängig davon anfühlt.

Disclaimer: Das hier ist meine persönliche Wahrnehmung und basiert auf meinem persönlichen Neurodivergenzprofil und es ist lediglich der Versuch einer Darstellung – sie mag Ähnlichkeiten zu anderen aufweisen, lässt sich jedoch nicht (oder maximal teilweise) auf andere neurodivergente Menschen übertragen.

Mein Ich

Ich empfinde mich nicht als Einheit, sondern unterscheide stark zwischen „mir“, meinem Kopf und meinem Körper – gerne auch noch zusätzlich in verschiedene Körperteile, wenn sie meiner Meinung nach besondere Bedürfnisse haben, oder „Probleme bereiten“ (also zum Beispiel wehtun). Ist das eigentliche „Ich“ dann meine Seele oder vielleicht eher eine übergeordnete Instanz? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.

Ich unterscheide nicht immer zwischen meinen verschiedenen „Teilen“ und meistens, wenn ich von mir rede, ist „ich“ einfach ich. Sobald ich aber genauer über etwas nachdenke, ist mir sehr bewusst, dass es eben nicht nur eine Gesamtheit von mir gibt, sondern einzelne Teile von mir unterschiedliche Bedürfnisse haben – zum Beispiel, wenn der Kopf gerne noch etwas unternehmen würde, der Körper aber zu müde dafür ist.

Ich spreche auch gerne mal in der dritten Person von mir oder adressiere mich als „jemand“ – normalerweise meine ich damit mich als Gesamtheit und es passiert vor allem dann, wenn ich von mir selbst amüsiert bin und mich ein wenig albern fühle.

Ich bin äußerst selbstreflektiert und hinterfrage mein Empfinden, Denken, Handeln, meine Reaktionen und meine Wahrnehmung (und die Gründe dafür) quasi ständig und verbringe viel Zeit damit mich zu analysieren, zu verstehen und zu erklären.

Mein Denken

Mein Kopf ist eigentlich ständig aktiv und so etwas wie Ruhe kennt er nicht. Es gibt kaum einen Moment, in dem ich nicht denke und schon kleinste Wahrnehmungen oder Reize führen zu neuen Gedanken. Das trägt dazu bei, dass ich oft Dinge vergesse oder mitten in einem Gedanken nicht mehr weiß, worüber ich gerade nachgedacht habe: Ein anderer Gedanke hat sich in diesem Moment in den Vordergrund gedrängt.

Grundsätzlich ist mein Denken sehr vernetzt – ich beschreibe es in erster Linie als Baum mit vielen Zweigen und Blättern, die sich gegenseitig berühren und funkeln, wenn sie einen Gedanken teilen. Manchmal aber auch als Netz, wie das einer Spinne, bei dem ein leises Zupfen an einem Faden ausreicht, um über das gesamte Netz weitergeleitet zu werden.

Viele meiner Gedankengänge laufen unbewusst ab und kommen nur an die Oberfläche, wenn sie eine bewusste Überlegung benötigen oder ich genügend Leerlauf (also eine Abwesenheit von zusätzlichen Reizen) habe. Leerlauf ist für mich sehr wichtig, denn wenn mein Gehirn ständig von neuen Reizen bombardiert wird und ich sie nicht mehr schnell genug verarbeiten kann, überreize ich und lande in einem Overload.

Mein Denken ist sehr schnell und ich erfasse Zusammenhänge meistens in kürzester Zeit und in erstaunlicher Tiefe – oft traue ich meinem schnellen Denken aber nicht über den Weg (weil ich zu oft gehört habe, dass ich „zu schnell“ denke und daher nicht ausreichend „sorgfältig“ sei) und durchdenke Dinge mehrmals und extra langsam, um mir nur ja sicher zu sein.

Ich denke in einer Mischung aus Bildern und (hauptsächlich tonlosen) Szenen, Gefühlen und Verbindungen. Allerdings bin ich es so gewohnt, diese Bilder für andere Menschen zugänglich zu machen, dass ein Teil meines Denkens mittlerweile aus Sätzen und Satzfetzen besteht, die quasi eine Übersetzung meiner Gedanken darstellen.

Mein Orientierungssinn ist ziemlich gut und ich verlaufe mich in fremden Städten selten (mit Handy ja sowieso nicht, aber auch ohne Karte komme ich sehr schnell gut zurecht). Dabei speichere ich einzelne Abschnitte als dreidimensionale Karte in meinem Kopf und orientiere mich dann an bereits bekannten Punkten – das führt allerdings dazu, dass ich für längere Strecken erst mal ALLE relevanten Abschnitte durchgehen muss, um die passenden Verbindungspunkte zu finden.

Unklare Aussagen oder (für mich) nicht sinnvoll erklärbare Handlungen sind für mich Stolpersteine und können mich stundenlang außer Gefecht setzen, weil ich verzweifelt versuche, eine für mich logische Erklärung dafür zu finden – was nicht immer klappt.

Meine Wahrnehmung

Ich nehme oft Muster, kleine Details und Veränderungen wahr – allerdings in erster Linie an meiner Umgebung, Gebäuden, der Natur, Pflanzen oder Objekten. An Menschen fallen mir Veränderungen selten auf und es ist besser, von mir keinen Kommentar zu einer neuen Frisur oder Brille zu erwarten – oder auch nur überhaupt zu erwarten, dass ich dich erkenne, denn ohne den passenden Kontext erkenne ich Menschen oft überhaupt nicht. Ich kann auch bei Menschen, die ich schon oft gesehen habe, nicht sagen, welche Augenfarbe sie haben oder sie sonst irgendwie beschreiben. Haarfarbe und vielleicht noch Haarlänge – mehr ist da selten abgespeichert. Wenn aber in der Straße ein Haus neu gestrichen wurde oder wo ein neues Plakat hängt: Das erkenne ich sofort.

Ich höre oft Geräusche, die andere nicht wahrnehmen – nicht, weil sie nicht vorhanden wären, sondern weil sie für sie zum ausgefilterten Hintergrundrauschen gehören. Es ist mir zum Beispiel sehr bewusst, dass es in der Wohnung nie wirklich still ist, weil der Kühlschrank läuft, Lichter Geräusche machen oder der Verkehr auf der anderen Hausseite zu hören ist. Ich kann aber meistens bekannte Geräusche (sofern sie zu einem gewohnten Zeitpunkt vorhanden sind) auch so weit ausblenden, dass sie mich nicht beeinflussen.

Ich nehme Bewegungen jeder Art sehr bewusst wahr, was dazu führt, dass mich Lichtreflexionen oder wehende Dinge ganz schön ablenken können. Wenn ich mit etwas beschäftigt bin und jemand in meiner Umgebung bewegt sich (und macht vielleicht auch noch zusätzlich Geräusche), komme ich aus dem Konzept und werde unruhig und kann mich nicht mehr konzentrieren.

Mir wird sehr leicht schwindelig und ich hasse Höhen, alles was schnell bergab geht oder sich dreht – neige aber dazu mich zur Selbststimulation auf einem Sessel zu drehen. Und ja, davon wird mir auch schwindelig.

Ich reagiere empfindlich auf Geschmack und vor allem Konsistenz von Nahrungsmitteln. Ich mag zwar gerne viele verschiedene Geschmäcker und Konsistenzen gleichzeitig, wenn sie aber anders sind, als sie sein sollten – oder als ich sie erwarte – fühle ich mich unbehaglich. Vor Molekularküche gruselt es mich daher etwas. Ich probiere an manchen Tagen gerne Neues aus, an anderen geht es wiederum überhaupt nicht, weil ich schon den Gedanken an einen unerwarteten Geschmack oder eine unangenehme Konsistenz nicht ertragen kann. Ich habe deswegen für fast jedes Nahrungsmittel eine Lieblingsmarke und bin sehr gestresst, wenn diese Marke nicht vorhanden ist oder – das Allerschlimmste – die Rezeptur verändert wird.

Gerüche nehme ich je nach Zyklusphase unterschiedlich stark wahr und gegen Zyklusende werde ich sehr empfindlich und finde Deos, verdorbene Lebensmittel und Müll nahezu unerträglich. Ungewohnte Gerüche finde ich oft anstrengend und ich bin sehr pingelig darin, welche Gerüche ich an mich ranlasse: Seifen, Shampoos, Waschmittel – das muss alles lange ausgetestet werden, bis ich das für mich passende finde. Habe ich es aber erstmal, möchte ich es nie wieder wechseln und hasse es, wenn „mein“ Produkt verändert oder aus dem Sortiment genommen wird.

Berührungen von fremden Menschen sind sehr unangenehm für mich; bei entsprechender emotionaler Nähe zu der Person, werde ich aber sehr gerne berührt. Ich mag Umarmungen und – ausreichende emotionale Nähe vorausgesetzt – sanftes, langsames Streicheln.

Etiketten in Klamotten sind furchtbar für mich, weil ich sie als ständiges Kratzen wahrnehme, das bei längerem Tragen auch noch immer schlimmer wird. Auch Wolle kratzt mich oft und ich bestehe auf (geruchslosen) Weichspüler beim Wäsche waschen, weil ich sie sonst als kratzig wahrnehme. Ich trage nicht gerne Socken oder enge Kleidungsstücke, laufe am liebsten barfuß herum und bestehe auf regelmäßig gekehrte oder gestaubsaugte Böden, weil mich die Staubkörner am Boden ganz gewaltig stören.

Overloads

Overloads entstehen bei mir vor allem durch zu viele Reize, dabei kann ich am schlechtesten mit Lärm umgehen, wobei das Hauptproblem weniger die eigentliche Lautstärke ist, sondern eher die Kontrollierbarkeit, die Komplexität und die „Unangenehmheit“ des Geräusches. So sind Konzerte für mich meistens okay, aber ich hasse Staubsauger, Baulärm (außer ich verursache ihn selbst), Verkehrslärm und vor allem Sirenen. Mein zweitgrößtes Problem ist sichtbare Bewegung und Menschenmengen werden dadurch für mich zu einer Qual: Sie verursachen nicht nur Bewegung, sondern auch noch unkontrollierbare, komplexe Geräusche und ich muss zusätzlich versuchen, eventuellen Berührungen zu entgehen.

Bin ich mehr Reizen, als ich gerade ertragen kann, ausgesetzt, werde ich immer unruhiger und unausgeglichener, und jeder zusätzliche Reiz – selbst, wenn er an sich eigentlich überhaupt nicht schlimm wäre – lädt diese Unausgeglichenheit weiter auf. Ich werde dann ärgerlich, wenn jemand mit mir spricht oder etwas von mir möchte oder halte mir bei zusätzlichen Geräuschen zum Beispiel die Ohren zu. Hören die Reize nicht auf, fühle ich mich, als würde mein innerer Halt auseinanderbrechen und ich würde einfach von Unangenehmem überschwemmt werden. Ich will dann auf gar keinen Fall berührt werden, am liebsten nichts sehen und hören und einfach meine Ruhe habe, bis ich mich wieder beruhigt habe.

Mein Empfinden

Ich habe sehr ausgeprägte Gefühle und erlebe sie sehr, sehr stark und körperlich. Glück oder Freude fühlen sich zum Beispiel an, als würde ich mit meinem Kopf inmitten eines Regenbogens stecken, in meiner Brust ein kleines, ploppiges Konfetti-Feuerwerk gezündet werden und meine Haut prickelt wie an einem heißen Sommertag. Trauer legt sich wie eine schwere Last auf meine Schultern und ich fühle mich, als würde ich durch einen tiefen Sumpf waten und immer weiter hinabgezogen werden – jedes Gelenk tut mir dann weh und ich verliere rasend schnell meine Energie.

Es fällt mir leicht, meine Gefühle zu erkennen und in Worte zu fassen – das liegt aber in erster Linie an viel, viel Übung, sowohl im Beschreiben von mir selbst, meinen Gedanken und Gefühlen, als auch im Identifizieren der Gefühle. Ich verfolge sie oft zu ihrem Ursprung zurück und kann sie dann besser erklären.

Meine Gefühle können sehr schnell wechseln und Kleinigkeiten belasten mich oft stark – vor allem, wenn es sehr viele negative Kleinigkeiten in kurzer Zeit sind. Genauso reagiere ich aber auch sehr stark auf positive Kleinigkeiten und kann mich stundenlang über etwas Winziges freuen – vorausgesetzt, ich habe es selbst erlebt oder entdeckt.

Wenn ich mich freue, möchte ich es am liebsten allen sagen – fühle mich deswegen aber oft nervig und lasse es dann lieber sein -, wenn ich traurig bin, bleibe ich lieber für mich und möchte mit niemandem reden. Wenn ich wütend bin, fühle ich mich oft hilflos und werde leicht unfair.

Ich bin unheimlich neugierig und interessiert und kann mich selbst für Themen, die mich eigentlich nicht interessieren, begeistern, wenn sie mit Leidenschaft erzählt werden – gleichzeitig bin ich aber oft zu ängstlich und unsicher, um etwas zu fragen und mein Interesse zu zeigen und halte mich grundsätzlich stark zurück.

Langeweile kenne ich eigentlich nicht, denn es gibt immer irgendetwas, das ich gerade spannend finde und worüber ich mehr wissen möchte, was ich ausprobieren will oder worüber ich nachdenken kann. Mein Energielevel ist das, was mich häufig ausbremst.

Ich fühle mich oft innerlich sehr angespannt, weil sich zum Beispiel irgendetwas gerade „falsch“ für mich anfühlt oder wenn ich das, was ich gerade ausdrücken möchte, nicht ausdrücken kann – oder zu langsam rede oder schreibe. Diese Anspannung ist körperlich schmerzhaft und kann bis zu einem Overload führen.

Meine Interessen

Ich interessiere mich leicht für alles, was bunt ist, leuchtet oder glitzert, was mit EDV oder Nahrung oder menschlichem Verhalten zu tun hat, für Natur und Säugetiere und Sprachen und für Dinge, die ich mit meinen Händen tun kann.

Meine Interessen wechseln oft sehr schnell und ich kann im Vorhinein selten sagen, was mich als nächstes begeistern wird – oder wie lange das anhalten wird. Manchmal finde ich auch etwas zwar spannend, halte mich aber bewusst zurück, weil es zu umständlich, aufwändig oder teuer wäre, dem Interesse tatsächlich nachzugehen.

Wenn ich ein Interesse gefunden habe, „verliere“ ich mich extrem darin, suche Infos zu allen möglichen (unwichtigen) Details, habe viele, viele Ideen dazu und will alles Mögliche ausprobieren. Ich habe dann das extrem starke Bedürfnis, den Großteil meiner Zeit damit zu verbringen, und reagiere ungehalten, wenn ich das nicht kann. Wenn ich es aber kann, fühle ich mich sehr ruhig und entspannt und in mir selbst ruhend – ein eher seltener Zustand außerhalb meiner Interessen.

Die „Obergruppen“ meiner Interessen bleiben langfristig bestehen, allerdings ändert sich häufig die exakte Ausprägung – so liebe ich zum Beispiel seit Ewigkeiten alles, was mit Nahrung zu tun hat, zurzeit ist der Schwerpunkt aber bei Bubble Tea, während er vor ein paar Monaten noch bei französischer Patisserie lag. Diese Schwerpunkte kommen und gehen, manche verschwinden schlagartig, andere werden einfach durch andere ersetzt und manche beende ich ganz bewusst, wenn ich merke, dass sie mir nicht gut tun.

Meine Einstellungen

Ich neige dazu, Menschen und Themen als entweder „gut“ oder „schlecht“ einzustufen und finde die Tatsache, dass sowohl Menschen, als auch Themen durchaus beides gleichzeitig – und noch vieles dazwischen – sein können, sehr schwierig zu begreifen und zu ertragen. Eine einmal getroffene, negative Einstufung wieder zu revidieren, fällt mir nicht leicht und dauert oft sehr, sehr lange – genauso andersrum: Ich suche lange Zeit nach „Entschuldigungen“ für schlechtes Verhalten von Menschen, die ich als positiv eingestuft habe oder für negative Auswirkungen von „guten“ Themen.

Mein Gerechtigkeitssinn ist stark ausgeprägt und ich hadere sehr damit, wenn eine Ungerechtigkeit dennoch rechtlich korrekt ist – auch, wenn ich verstehe, dass Recht nicht jeden Einzelfall abdecken kann.

Wenn ich von etwas fest überzeugt bin, ist es für mich schwierig zu verstehen, dass andere Menschen das anders sehen (können) und ich bin dann oft erstmal empört und verwirrt und will eigentlich gar nichts mit diesen Menschen zu tun haben.

Ich glaube daran, dass Menschen Gründe für ihr Tun und Denken haben und bin bereit, ihnen vieles nachzusehen. Ich bin jedoch auch der Meinung, dass sie diese Gründe reflektieren und an sich arbeiten sollten und kein Recht darauf haben, andere schlecht zu behandeln oder abzuwerten – schon gar nicht wenn diese Gründe nur dafür erfunden wurden, um sich selbst eine (scheinbare) Legitimation für dieses Verhalten zu erschaffen!

Es fällt mir sehr schwer, mir ein Urteil von einer Situation zu bilden, wenn ich nicht alle Seiten und Details kenne. Bei Themen oder Menschen die mir wichtig sind, neige ich aber – wie alle Menschen – dazu, „meiner“ Seite einen Vertrauensvorschuss zu geben.

Mein Handeln

Ich bin sehr hartnäckig und ausdauernd, wenn ich etwas umsetzen möchte und lasse mich zwar von Fehlschlägen kurzfristig aus dem Konzept bringen und frustrieren, nehme aber meistens nach einer Pause einen neuen Anlauf – und dann noch einen, bis es doch noch funktioniert. Aufgeben liegt mir nicht.

Wenn ein Thema oder eine Tätigkeit mich anspricht oder mir wichtig ist, bin ich extrem geduldig und kann in aller Ruhe auch langwierige oder eintönige Arbeiten erledigen und fühle mich dabei sogar entspannt. Diese Geduld lässt sich auch bewusst abrufen, kostet dann aber viel Energie. Ich nutze das häufig, um ruhig und ausführlich Sachverhalte oder Technik erklären zu können – auch mehrfach, wenn es notwendig ist.

Ich sehe sehr oft Verbesserungspotential oder ungenutzte Möglichkeiten – in Menschen, aber noch viel mehr in Dingen, Technik oder Nutzungsmöglichkeiten und -verhalten. Das führt dazu, dass ich häufig etwas erneut ausprobiere oder verbessere – immer und immer wieder, bis ich das Gefühl habe, jetzt die bestmögliche Lösung gefunden zu haben. Zumindest so lange, bis mir wieder etwas auffällt. Das erscheint häufig wie Perfektionismus, aber für mich ist es nur eine logische Nutzung von vorhandenen Möglichkeiten.

Ich kommuniziere deutlich lieber schriftlich als mündlich, was auch daran liegt, dass ich so meine Gedanken leichter für andere „übersetzen“ kann und mehr Kontrolle über die Feinheiten meiner Aussagen habe. Manchmal kann ich auch überhaupt nicht reden – die Worte bleiben dann in meinem Gehirn „stecken“ und ich bekomme sie nicht raus.

Und sonst?

Es fehlt vieles – gefühlt sogar sehr vieles, denn umso mehr ich darüber nachdenke, umso mehr fällt mir ein, was ich vielleicht auch noch erwähnen könnte oder sollte, was für mich einen Teil meiner Neurodivergenz bedeutet und mich ausmacht.

Liegt alles, was ich hier beschreibe an meiner Neurodivergenz? Ja und nein. Es liegt natürlich vieles an meinen Erfahrungen, meinen Unterhaltungen, meinen Informationen. Gleichzeitig ist aber all das von meiner Neurodivergenz beeinflusst, denn sie formt, wie ich Informationen erhalte, aufnehme und verarbeite.

Ich bin, denke, fühle, verarbeite und handle so, wie ich es tue, weil ich neurodivergent bin.

Das bedeutet nicht, dass du ebenso denken, fühlen, verarbeiten und handeln musst, wenn du neurodivergent bist – oder dass du es eben nicht tust, wenn du neurotypisch bist. Es bedeutet nur, dass ICH so bin, weil ich neurodivergent bin – und ich bin sehr gerne so.

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