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My neurodivergent life is a piece of art

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

Ich bin behindert

Ich bin behindert

3. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

CN: Ableismus

Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ich wusste das nicht und das klingt vielleicht seltsam, denn in den letzten Monaten habe ich gelernt, mich selbst so zu bezeichnen: Behindert.

Immer noch kämpfe ich damit, halte mich für die Selbstbezeichnung an manchen Tagen für arrogant und unverschämt, finde mich „nicht behindert genug“ und so, als würde ich übertreiben. Ich habe keine sichtbare Behinderung. Ich humple manchmal wegen meines Bandscheibenvorfalls, ja, aber sonst sieht man mir nicht an, was mich behindert macht – und selbst das Humpeln versuche ich zu vermeiden, denn: Es könnte ja wem auffallen.

Ich fühle mich privilegiert dadurch. Ich werde nicht wegen meiner Behinderung angestarrt, bekomme keine zu neugierigen Rückfragen, kann fast ganz unauffällig sein, wenn ich das möchte und selbst bestimmen, wofür ich auffallen will, wenn ich auffallen will. Kein Mensch nimmt mir diese Entscheidung einfach ab, weil ich körperlich anders wirke als er und er denkt, dass es dadurch zu meiner Pflicht wird, ihn darüber aufzuklären, warum ich denn so anders bin – also bis auf manchmal, wenn die Menschen denken, dass es sie etwas angeht, dass ich dick bin und doch ist das anders.

Wenn die liebe Freundin mir erzählt, dass sie schon wieder in der Bahn angestarrt wurde oder zu einer Veranstaltung nicht gehen möchte, weil sie nicht abschätzen kann, ob dort ihre Bedürfnisse mitgedacht werden, fühle ich zunächst Scham. Scham darüber, nicht daran gedacht zu haben und auch zu denen zu gehören, die sie nicht mitdenken – und dann fällt mir ein, dass ich zum Teil deswegen nicht bewusst daran denke, weil ich das, was sie erzählt, auch irgendwie kenne und als „normal“ empfinde.

Es ist anders bei mir und ich bin mir viel zu oft nicht bewusst, wo genau ihre Schwierigkeiten liegen, und doch gibt es Gemeinsamkeiten, ein ähnliches Erleben, ähnliche Kämpfe, ähnliches Verpassen und Vermeiden – all das, was Behinderung mit uns macht. Mit mir, mit der lieben Freundin und all den anderen Menschen, die auf die eine oder andere Art behindert sind.

Ich bin grundsätzlich ungern in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Es ist anstrengend, wenn viele Menschen um mich herum sind. Ihre Blicke machen mir Angst, ihr Gelächter und ihr Getuschel. Ich will auch nicht die vorwurfsvollen Mienen sehen, weil ich einen Sitzplatz nutze, obwohl ich dick bin. Lieber stehe ich, vor Schmerzen schwitzend, klammere mich an einen Haltegriff und konzentriere mich auf meinen Atem, immer voller Angst, dass die Schwärze vor meinen Augen mich doch noch umwerfen könnte.

Aber ich muss mir zumindest keine Gedanken darüber machen, ob ich das Verkehrsmittel überhaupt betreten werde können…

Letztens wollte ich einen Workshop besuchen. Weidenflechten. Ich habe mich nicht einmal getraut, mich anzumelden, denn neben der Tatsache, dass fremde Menschen immer schwierig für mich sind und ich in sozialen Situationen große Probleme habe, war mir auch nicht klar, wie ich das machen sollte, dort mehrere Stunden eine körperliche Tätigkeit zu verrichten. Ich bräuchte wahrscheinlich alle 30 Minuten eine Pause, müsste mich hinlegen, weil ich mit Schwindel und Schmerzen zu kämpfen habe und würde den ganzen Workshop aufhalten, weil ich… behindert bin. Aber naja, dann besuche ich den Workshop eben nicht, macht ja nichts.

Und doch: Es MACHT was!

Es macht was mit mir, dass ich nicht einfach so mit einem Bus fahren kann, dass ich nicht einfach so zu einem Vortrag oder einem Workshop gehen kann, dass ich nicht einfach so an unbekannte Plätze gehe, weil ich nicht weiß, was mich dort erwartet und ob ich dort klarkommen werde, ob die Menschen dort Masken tragen werden und auf Abstand achten werden. Es macht etwas mit mir, dass ich mir vor jeder noch so kleinen Unternehmung überlegen muss, ob sie für mich geeignet sein wird, oder ich mich zumindest so weit anpassen können werde, dass ich sie durchhalten kann. Ob sie dann noch Spaß macht, mal vollkommen dahingestellt.

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, einfach irgendwo hinzufahren, eine Reise zu buchen, an einer Veranstaltung teilzunehmen oder einen Ausflug zu machen. Ja, das ist bei mir aus anderen Gründen als bei jemandem, dessen Rollstuhl oder Sehbehinderung mitbedacht werden muss, aber am Ende bin ich dennoch behindert.

Ich muss immer meinen körperlichen und psychischen Zustand mitbedenken, meine Energie, meine Aufgaben für die nächsten Tage und Wochen, meine Leidensfähigkeit, meine sozialen Fähigkeiten, mein Durchhaltevermögen, auch in Bezug auf Reize und Menschen. Ich muss Wochen im Voraus planen – und gleichzeitig immer bereit sein, im letzten Moment die Pläne umzuwerfen, weil es dann doch nicht geht.

Sind andere Menschen involviert, meide ich Pläne dann oft komplett. Ich möchte nicht ständig im letzten Moment absagen, will nicht, dass andere auf mich Rücksicht nehmen müssen, möchte ihnen nicht das Gefühl verleihen, dass sie mir nicht so wichtig sind, dass ich mich nicht einfach „ein bisschen zusammenreiße“. Wie sollte ich ihnen auch erklären, dass es eben nicht „ein bisschen zusammenreißen“ ist, sondern weit über meine Grenzen gehen, tagelang NICHTS mehr machen können und zwar wirklich nichts. Gar nichts.

„Nichts machen“ bedeutet für andere Menschen, dass sie nichts „Sinnvolles“ machen. Sie lesen dann vielleicht, basteln, backen, schauen fern, treffen sich mit Freund*innen. „Nichts“. Mein Nichts bedeutet, dass ich auf der Couch liege und mich mit Instagram-Reels ablenke, weil alles, was darüber hinausgeht, zu anstrengend ist. Mein Nichts bedeutet, dass ich nicht mit Menschen kommunizieren kann, nicht kochen kann, nicht basteln kann, keine Hörbücher hören – geschweige denn lesen – kann, nicht einkaufen kann, ja noch nicht mal rausgehen kann. Mein Nichts bedeutet NICHTS und mein Nichts ist die Folge von dem, was für andere Menschen ganz normale, alltägliche Dinge sind!

Ich bin behindert.

Immer noch bin ich erst am Anfang davon, das für mich als wahr zu verstehen, zu begreifen, dass behindert eben nicht nur das ist, was wir sehen, sondern all das, was uns das Leben so viel schwerer macht als den meisten und was wir meistens überspielen, um für andere nicht zu anstrengend zu sein.

Immer noch bin ich erst dabei, mir selbst klarzumachen, dass auch ich behindert bin: Ohne sichtbare Behinderung, ohne die spezifischen Probleme, die aus diesen Behinderungen entstehen, aber durch andere Behinderungen und deren Folgen.

Ich bin behindert und der 3. Dezember ist auch mein Tag.

Nein, das ist nicht egal.

Nein, das ist nicht egal.

25. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

„Da traut man sich ja gar nichts mehr schreiben!“ In letzter Zeit lese ich immer wieder, dass die neurodivergente Community so ausschließend und besserwisserisch wäre, so empfindlich auf falsche Begriffe reagieren würde (z.B. „neurodivers“ statt „neurodivergent“) und sich Neulinge ja gar nichts schreiben trauen würden aus Angst, von irgendjemandem verbal angefahren zu werden.

Ich verstehe diese Angst. Mir geht das in neuen Räumen eigentlich immer so, dass ich mich erstmal nichts sagen traue, wochen-, ja manchmal monatelang nur mitlese, bis ich endlich den Mut fasse, auch selbst etwas zu schreiben. In allen neuen Räumen (und übrigens am stärksten in neurotypischen). Da spielt sehr stark meine Angst vor Zurückweisung hinein, mein Wunsch, niemanden zu verletzen, vielleicht auch ein gewisser Perfektionismus, aber halt auch meine Liebe zur Sprache und zur richtigen Verwendung von Begriffen.

Begriffe sind bedeutsam. Für uns neurodivergente Menschen vielleicht sogar noch mehr als an anderen Stellen.

Für viele von uns ist es wichtig, den Inhalt einer Aussage wirklich, wirklich, wirklich richtig zu verstehen. Wir sind es gewohnt, nicht immer alles so zu verstehen, wie es gemeint ist und dann deswegen anzuecken. Nur wie es denn etwas gemeint? Wie erfasst man das?

Mein Gehirn bleibt manchmal stecken, wenn ein Satz mehrdeutig – oder zumindest nicht absolut eindeutig – ist. Es versucht dann, jede mögliche Bedeutung des Satzes zu verstehen und abzuwägen, welche der*die Sprecher*in denn genau gemeint haben könnte. Oft klappt das nicht, weil es einfach viel zu viele Möglichkeiten gibt, wie ein einzelner Satz gemeint sein könnte und die tatsächliche Bedeutung lässt sich dann eben nur deuten. Richtige, eindeutige Begriffe helfen da.

Deswegen sind auch Redewendungen und Metaphern vor allem für Autist*innen manchmal schwierig. Wir versuchen nämlich, sie absolut richtig zu verstehen. Redewendungen, die wir nicht kennen, sind dann erstmal verwirrend, denn wir erkennen vielleicht noch nicht einmal, dass es eine Redewendung ist, versuchen, das Gesagte wörtlich zu verstehen und stolpern darüber, dass es wortwörtlich einfach keinen Sinn ergibt. Das wird im Laufe der Jahre oft besser, weil wir immer mehr Redewendungen kennen und sie oft ja auch selbst verwenden – noch mehr, wenn Sprache ein Spezialinteresse ist.

Was aber bleibt ist eine gewisse Unsicherheit an vielen Stellen.

Vielleicht kennst du das, wenn jemand zu dir sagt „Wir treffen uns nächstes Wochenende.“ und du fragst dich: „Ist das in 3 Tagen oder in 10?“ „Nächstes Wochenende“ ist nicht so eindeutig, wie wir oft denken und bei unseren Gesprächspartner*innen lösen wir dann damit Verwirrung aus. Nach einem kurzen peinlichen Moment suchen wir nach besseren Erklärungen und legen uns vielleicht auf ein genaues Datum fest, um alle Missverständnisse zu vermeiden.

Viele Autist*innen lieben es, sich möglichst genau auszudrücken. Wir „oversharen“, wir verwenden Klammern und Gedankenstriche, Fußnoten und Einschübe, denn wir wollen das, was wir von uns geben, so unmissverständlich wie nur irgendwie möglich machen. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten auch immer noch dazu schreiben, in welcher Verfassung ich einen Text gerade verfasst habe, nur damit auch ganz sicher klar ist, wie etwas gemeint ist. Wäre es trotzdem nicht, also kann ich mich bremsen.

Für uns sind genaue Begriffe also tatsächlich wichtig. Sie helfen uns, Klarheit herzustellen und Unsicherheiten zu vermeiden.

Und ja, manchmal sind wir auch ein bisschen besserwisserisch und wollen, dass du den richtigen Begriff verwendest, selbst wenn wir dich auch sonst verstehen. Für mich fühlt es sich nach Wertschätzung an, wenn du dich um die richtigen Begriffe bemühst und im Gegenzug fühle ich mich oft nicht respektiert, wenn dir Begriffe, die für mein Leben wichtig sind, egal sind. Zusätzlich kann ein „neurodivers“ statt „neurodivergent“ bei mir tatsächlich dazu führen, dass ich auf etwas nicht reagieren kann – nicht, um dir eine Lektion zu erteilen, sondern weil mein Gehirn quasi einen Kurzschluss hat und nicht mehr korrekt funktioniert. Ja, wegen einer Kleinigkeit wie einem falschen Wort! Ich bin Autistin. Mein Kopf funktioniert eben so.

Was auch noch eine Rolle bei unserer „Pingeligkeit“ in Bezug auf Begriffe spielt: Viele Autist*innen legen sehr großen Wert auf Regeln. Richtige Begriffe fühlen sich für mich durchaus wie eine Regel an und verwendest du den falschen Begriff, brichst du quasi die geltende Regel und ich winde mich innerlich, weil ich natürlich weiß, dass das keine große, wichtige Regel ist, aber sie sich für mich an dieser Stelle wichtig anfühlt, weil sie „richtig“ von „falsch“ trennt.

Ich verstehe, dass all das dazu führen kann, dass neurodivergente Communities sich beängstigend anfühlen, wenn man das erste Mal mit ihnen in Kontakt kommt. Ich verstehe auch, dass es problematisch ist, so viel Wert auf Begriffe zu legen, die man ja erstmal kennen und lernen muss. Und ja, wir reagieren nicht immer lieb und geduldig, sondern sind auch mal genervt und haben keine Lust, zu erklären, warum der von dir verwendete Begriff falsch ist. Das ist menschlich. Genauso wie es menschlich ist, wenn du einen falschen Begriff verwendest.

Ich nehme es dir nicht übel, wenn du das machst – auch, wenn du dadurch einen inneren Konflikt oder einen Kurzschluss in mir auslöst -, aber wenn ich oder ein anderer neurodivergenter Mensch mal nicht geduldig mit dir ist, denke bitte daran, dass du in unseren Raum kommst und wir diejenigen sind, die dort sie selbst sein können sollten.

Das bedeutet nicht, dass du keine Fehler machen darfst. Aber so, wie du vielleicht von uns erwartest, dass wir dir deine Fehler nachsehen, erwarte ich auch von dir, dass du uns so nimmst, wie wir sind: Autistisch.

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

13. Oktober 2022 Claudia Comments 0 Comment

Vor vielen, vielen, vielen Jahren war mein Spezialinteresse PHP, eine Skriptsprache, mit der sich viele Online-Anwendungen realisieren lassen. Nicht, dass ich damals schon wusste, was ein Spezialinteresse ist, aber rückblickend, war es definitiv genau das.

Ich hatte 2001 mit PHP angefangen, mich sofort darin vertieft und alles darüber gelernt und ausprobiert, was mir irgendwie in den Sinn kam. Nach kurzer Zeit schrieb ich ein Tutorial dazu – eigentlich nur, um einem Freund PHP zeigen und erklären zu können – und es entwickelte sich zu einer Anlaufstelle für all jene Menschen, die mit den üblichen Programmier-Tutorials nicht zurechtkamen.

In den folgenden Jahren programmierte ich viel für mich selbst, aber auch für andere. Ich liebte die Herausforderung, die Probleme und die Wege zu einer Lösung. Ich liebte die Art zu denken und was mein Gehirn damit machte. Ich suchte mir immer neue Aufgaben, experimentierte mit Dingen, die so gut wie gar nicht dokumentiert waren und probierte einfach herum, bis etwas für mich funktionierte.

PHP war für mich ein ganz großer, wichtiger Teil meines Lebens, ja meiner Identität. Wenn ich mich damit beschäftigte, schien alles zu glitzern und zu funkeln, in meinem Kopf leuchteten die Verbindungen auf, lockten mich, führten mich. Alles war fließend und wunderschön…

… und dann kam ein Tag, an dem alles verschwand.

Ich steckte in einem größeren Projekt, eine Internetseite mit stark personalisiertem Content Management System, hatte viele tolle Ideen, die ich noch einbringen wollte, spannende Überlegungen… und plötzlich verstand ich nichts mehr. Nicht meine eigenen Gedanken, nicht meine Pläne, nichts von dem bereits geschriebenen Code.

Da stand etwas, ja, ich konnte es auch lesen, aber ich verstand nicht mehr, was es tun würde. Ich verstand nicht mehr, was ich davor oder danach oder drumherum brauchte, um etwas damit zu erreichen. Ich verstand nicht mehr, was ich tun musste, um ganz simple Dinge, die ich schon hunderte Mal gemacht hatte, wieder zu machen.

Mein Kopf fühlte sich gleichzeitig komplett leer und übervoll an, alle Verbindungen, die darin immer vorhanden waren und die so wunderschön und verlockend geglitzert hatten, waren abgerissen, nichts leuchtete mehr und diese dunkle Leere schien mich zu verschlucken, während all die kaputten Fetzen mich erdrückten.

Ich quälte mich durch das Projekt – es musste ja fertig werden -, behalf mir mit Copy&Paste und ein paar ziemlich unsauberen Stellen, die meinem Verständnis von mir selbst und meiner Arbeit sehr, sehr zuwider liefen. Gleichzeitig war mir aber klar: Es ging nicht anders.

Jedes Mal, wenn ich versuchte, auch nur aus den Augenwinkeln auf mein ehemals glitzerndes Netz zu schauen, bekam ich Kopfschmerzen, alles schien sich zusammenzuziehen, wie in einem Krampf, jeder Gedanke an Code, Funktionen, Aufgaben, Lösungen war wie ein Schlag ins Gesicht.

Das Projekt habe ich noch abgeschlossen, aber danach hieß es, damit klarzukommen, dass ich einen Teil von mir selbst verloren hatte. Ich liebte coden! Ich liebte diese Denkweise! Ich sehnte mich danach. Aber sie gehörte nicht mehr zu mir….

Ich erinnere mich nicht mehr an die Zeit danach, sie ist für mich wie gelöscht. Meine einzige Erinnerung ist die daran, dass jede Bitte um Wartung einer Internetseite, die ich entwickelt hatte, mich in ein dunkles Loch schleuderte, ich total verzweifelt war und diese Barriere, die da in meinem Kopf war, mich unendlich quälte.

Es waren zum Glück immer nur Kleinigkeiten, die sich dann am Ende doch lösen ließen – mit einem absolut nicht gerechtfertigten Aufwand, aber irgendwie bekam ich sie hin; und war unendlich froh, als die Anfragen immer seltener wurden.

Ich kann bis heute nicht mehr wirklich programmieren. Manchmal versuche ich es noch, sehe eine spannende Aufgabenstellung, mit der ich mich beschäftigen möchte und hin und wieder ist dann für einen Moment sogar wieder das Spielerische, Faszinierende da. Das glitzernde, funkelnde, fließende Netzwerk ist aber nie wieder zurückgekommen und Anfragen zum Thema PHP führen immer noch zu Angst vor der großen, dunklen, alles lähmenden Klammer in meinem Kopf.

Ich weiß bis heute nicht, was da passiert ist, neige aber inzwischen dazu, es als Form eines autistischen Burnouts zu verstehen. Ich weiß nicht, was dazu geführt hat, erinnere mich nur an viel Stress und Druck und Angst und Hilflosigkeit – die meisten Erinnerungen an diese Zeit sind aber einfach weg.

Es fehlt mir immer noch hin und wieder: Das Programmieren, dieser Teil von mir, das wunderschöne Netzwerk, das in meinem Kopf glitzerte, die Zufriedenheit, wenn ich ein Problem lösen konnte, diese Klarheit, die im Code lag… Es war wunderschön.

ADHS und Herausforderungen als Motivation

ADHS und Herausforderungen als Motivation

26. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Fitnesstracker sagt: „8.607 von 1.000 Schritten – Tagesziel übertroffen!“ Er lobt mich auch dafür, dass ich seit 287 Tagen mein Schrittziel erreiche. Mein Schrittziel von 1.000 Schritten. Eintausend. Nicht die üblichen Zehntausend.

Ich liebe Herausforderungen und als ich das erste Mal einen Fitnesstracker hatte, war die Vorgabe von 10.000 Schritte für mich hoch motivierend. Ich wollte unbedingt diese 10.000 Schritte laufen, wollte mein Schrittziel erfüllen und das jeden Tag. Ich weiß noch, wie ich auf dem Parkplatz des Supermarktes auf und ab gelaufen bin, um nur ja auf meine 10.000 Schritte kommen – und noch mehr erinnere ich mich daran, wie gestresst ich war, wann immer ich nicht einmal in die Nähe dieser 10.000 Schritte kam.

Nach wenigen Tagen schon war die Menge der Schritte keine Motivation mehr für mich, sondern eine ewige Drohkulisse: „Wenn du es nicht schaffst, 10.000 Schritte zu machen, dann verlierst du deine Siegessträhne!“ Ich war gestresst, habe mit mir selbst verhandelt, wie schlimm es ist, diese Siegessträhne zu verlieren, mich dazu gezwungen, doch noch eine Runde zu drehen, obwohl ich überhaupt nicht wollte, nur, damit der Schrittzähler zufrieden war. Ging es mir nicht gut und konnte ich mich kaum bewegen, drehten sich meine Gedanken den ganzen Tag darum, wie sich das auf meinen Fitnesstracker auswirken würde und ich war noch verzweifelter als sowieso schon.

Nach einer Weile habe ich schließlich die Schrittanzahl reduziert, zwischendurch sogar bis auf 500, bis ich sie dann irgendwann auf 1.000 gestellt habe. 1.000 Schritte, das schaffe ich jeden Tag, meistens sogar noch am Vormittag und auch an den Tagen, an denen es mir nicht gut geht und an denen ich mich eigentlich nur vom Bett auf die Couch und von der Couch ins Badezimmer und zurück schleppe. 1.000 Schritte, das ist einfach und… es ist keine Herausforderung.

Für die meisten Menschen ist das absurd, denn genau diese Herausforderung ist ja das, weswegen man überhaupt einen Schrittzähler verwendet. Es ist das, was einen dazu motiviert, mehr Schritte zu machen. Dass man abends erschrocken feststellt, dass das Schrittziel ja noch gar nicht erreicht ist und dann noch rasch ein paar Schritte macht, damit der Schrittzähler zufrieden ist – und man selbst auch, denn man hat sein Tagesziel erfüllt -, das ist durchaus so beabsichtigt.

Natürlich ist das großartig. Die 10.000 Schritte sind voll, man hat sich bewegt und das Ziel erreicht, nur… ist das wirklich die Form von Motivation, die gut für uns ist?

Ein hoch gestecktes Ziel, das schwierig zu erreichen ist, ist keine positive Motivation, sondern verursacht in erster Linie Druck und Stress, oft auch noch kombiniert mit Versagensangst.

Fitnesstracker sind dafür ausgelegt, dieses Versagen zu dokumentieren, dir mitzuteilen, dass du am Sonntag aber nicht besonders fleißig warst oder am Mittwoch dein Schrittziel nicht erreicht hast. Du warst nicht gut genug – und sogar deine Elektronik weiß es und teilt dir das mit. Das soll dich dazu motivieren, dich mehr zu bemühen. Vielleicht wirst du dadurch sonntags eine Extrarunde drehen, um damit den Schrittzähler davon zu überzeugen, dass du doch fleißig bist – und vielleicht überzeugst du ja auch dich, dass du sehr wohl gut genug, fleißig genug, fit genug bist, wenn es sogar dein Fitnessarmband sagt.

Vielleicht geht dir das alles aber auch so auf die Nerven, dass du den Schrittzähler immer seltener tragen und ihn schließlich in einer Schublade „vergessen“ wirst, weil du dich einfach nicht länger von einem Gegenstand stressen lassen möchtest und du bist damit nicht allein: Statistisch gesehen lässt die Anfangsmotivation schon nach etwa fünf Wochen nach und nach drei bis sechs Monaten haben die meisten endgültig genug vom Fitnesstracker und er landet – genau – in der Schublade.

Ich glaube, das ist bei vielen Dingen so, die man nutzt, um sich zu verbessern. Am Anfang ist man hochmotiviert, will am liebsten die Anforderungen einer ganzen Woche an nur einem Tag erledigen, brennt geradezu danach, etwas zu tun, vielleicht eine Belohnung in Form eines Badges oder eines Lobs der App zu bekommen oder auch nur sich selbst auf die Schulter klopfen zu können und zu sagen: „Gut gemacht! Du hast dein Ziel erreicht! Du warst fleißig!“

Nach einer Weile stellt man jedoch fest, dass diese ganzen schönen Anforderungen doch zu viel sind. Sie passen irgendwie nicht in den Alltag, überfordern uns, bringen uns dazu, unsere Grenzen und unsere Leistungsfähigkeit zu ignorieren. Dir geht es heute nicht gut? Tja, Pech. Du musst deine 10.000 Schritte vollbekommen!

Vielleicht zwingst du dich dann dazu, hast keinen Spaß dabei, aber – puh – wenigstens hast du dein Ziel erreicht, warst willensstark und diszipliniert! Wie toll! Oder?

Vielleicht stellst du aber auch fest, dass dieses „sich selbst zwingen“ für dich nicht funktioniert und genau das Gegenteil bewirkt und verlierst mehr und mehr die Lust daran, auch nur zu versuchen, dieses Ziel weiterhin zu erreichen.

Dann bemüht man sich noch eine Weile, sie dennoch zu erfüllen – schließlich hat man ja einen Grund dafür -, bis man es entweder immer häufiger nicht schafft und deswegen frustriert ist und sich Selbstvorwürfe macht oder es gelingt einem, einen klaren Schlussstrich zu ziehen und bewusst damit aufzuhören.

Mir ging das mit den 10.000 Schritten genauso. Am Anfang wäre ich am liebsten 15.000 gelaufen oder noch mehr. Ich liebte die Schrittanzeige, liebte es, mich selbst immer wieder zu übertreffen und mir zu beweisen, dass ich mehr und immer noch mehr leisten konnte.

Dann wurde es immer schwieriger, die 10.000 wirklich jeden Tag zu schaffen. Ich drehte die oben erwähnten Parkplatz-Runden – nicht aus Freude an der Bewegung oder wegen der tollen Kulisse, sondern nur aus dem Grund, dass ich wie besessen davon war, dieses Schrittziel zu erreichen.

Dann folgte der erste Tag, an dem es nicht klappte und ich war verzweifelt, schämte mich und ärgerte mich über mich. Ich nahm mir fest vor, dass es eine Ausnahme zu bleiben hatte, dass ich am nächsten Tag wieder 10.000 Schritte gehen würde – oder noch mehr, denn ich hatte die besten Absichten! Trotzdem funktionierte es bald schon wieder nicht und ich ärgerte mich noch mehr und schließlich wollte ich die Smartwatch – diese Zeugin meines Versagens – gar nicht mehr so recht tragen. Trug ich sie doch, machte ich mir automatisch Stress.

Geholfen hat mir schließlich die Reduktion der Schritte.

Im Durchschnitt komme ich auf etwa 6.000 bis 7.000 Schritte pro Tag. Da sind Tage mit 2.000 Schritten ebenso dabei wie solche mit 15.000 oder mehr Schritten. Je nachdem, wie es halt gerade passt, worauf ich Lust habe, was mein Körper zu leisten in der Lage ist, wie ich Zeit habe und was ich so unternehme.

Man kann jetzt natürlich argumentieren, dass ich ganz offensichtlich nicht auf die magischen 10.000 Schritte am Tag komme und mutmaßen, dass das an der fehlenden Motivation liegt, der Punkt ist aber: Diese Form von „Motivation“ war für mich das genaue Gegenteil.

Zu wissen, dass mich 10.000 Schritte pro Tag regelmäßig überfordern und ich dann jedes Mal von mir selbst enttäuscht bin, hat mich massiv demotiviert. Meine 1.000 Schritte sind vielleicht keine Motivation zu mehr Schritten, aber sie sind vor allem auch keine Demotivation, die mich Tag für Tag frustriert, mein Selbstwertgefühl schmälert und mich gänzlich davon abbringt, mich mehr als notwendig zu bewegen.

Es heißt immer, Menschen mit ADHS werden durch Herausforderung motiviert und ich würde das sofort unterschreiben. Was aber oft unterschlagen wird: Wir werden genauso leicht durch etwas (auch nur scheinbar) Unerreichbares demotiviert!

Wir müssen Herausforderungen finden, die für uns machbar sind – es reicht noch nicht einmal, uns zu sagen, dass wir doch nur daran glauben müssen, dass wir es könnten, denn so ein ADHS-Kopf lässt sich nicht so einfach austricksen. Er weiß genau, was er selbst für machbar hält und was wir ihm nur einreden wollen und etwas, das nur eingeredet war, motiviert ihn einfach mal überhaupt nicht.  Im Gegenteil: Er liebt es, dann zu beweisen, dass er von Anfang an recht hatte und es eben nicht möglich war. (Ja, ich finde meine ADHS etwas rechthaberisch.)

Wenn wir etwas als nicht erreichbar betrachten – ob aus Erfahrung oder aus Sturheit -, dann motiviert es uns nicht, sondern demotiviert uns. Es bringt uns nicht dazu, etwas zu versuchen und uns zu bemühen, sondern eher dazu, trotzig in der Ecke zu sitzen und notfalls die Beweise zu vernichten; z.B. die Uhr in der Schublade zu „verlieren“.

Herausforderung ist etwas Wunderbares – gerade für Menschen mit ADHS. Wir müssen allerdings akzeptieren, dass das, was unsere ADHS als Herausforderung betrachtet nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, von dem wir gerne hätten, dass es als Herausforderung betrachtet wird und wir müssen lernen, für uns passende Herausforderungen zu finden, die dann auch wirklich funktionieren.

Sind meine 1.000 Schritte eine Herausforderung? Nein. Aber meine Motivation, spazieren zu gehen und damit Schritte zurückzulegen, liegt auch nicht in einer Herausforderung oder der Anzahl, sondern darin, dass ich Spaß am Spazierengehen an sich habe, dass ich die Natur beobachten kann, dass ich verschiedene Untergründe fühle, Wind auf meiner Haut, Sonnenschein…

Herausforderungen sind eine tolle Motivation – aber nicht immer die Richtige und schon gar nicht die Einzige.

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 3

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 3

5. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Das hier ist eine Aufstellung an Tipps, die MIR (mit ADHS, Autismus, einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, einer sozialen Angststörung und chronischen Schmerzen) im und für den Urlaub helfen. Mir ist klar, dass vieles davon nicht für jede*n machbar ist – zum Beispiel aus finanziellen Gründen, weil Kinder mitbedacht werden müssen oder die persönlichen Bedürfnisse einfach ganz andere sind. Auch wird das, was für mich gut ist, nicht zwingend auch für dich gut sein. Neurodivergenz ist individuell und genauso sind unsere Probleme (und das, was uns keine Probleme bereitet) sehr individuell.

Verstehe das hier also bitte mehr als: „Da könnte ich mal darüber nachdenken, ob das auch was für mich wäre, oder wie ich es für mich anpassen könnte.“ anstatt als direkte oder ultimative Lösung.

Dieses Mal geht es darum, wie du deinen Urlaub für dich passend gestaltest.

Erholungszeit

Ich habe das schon in Teil 1 kurz angesprochen: Ich brauche mehr Zeit als andere, um mich von der Anreise zu erholen und einzugewöhnen. Es ist tatsächlich so, dass ich erstmal zwei bis drei Tage so gut wie gar nichts tue und erst dann offen für Urlaubserlebnisse bin.

In diesen ersten Tagen kümmere ich mich um Essen und verbringe die übrige Zeit mit den Dingen, die mir gerade gut tun. Und ja, das ist oft einfach nur herumliegen und fernsehen oder durch Instagram scrollen und daran ist überhaupt nichts schlecht. Körper und Geist brauchen einfach Erholung von den Reisevorbereitungen und der Reise selbst und möchten sich langsam an die neue Umgebung gewöhnen.

Aber auch danach brauche ich oft mehr Erholung als andere. Ich verbringe zwischen Unternehmungen oft Stunden mit „Nichtstun“, bin mal ganze Vor- oder Nachmittage nicht ansprechbar und bei langen Urlauben kommt es auch schon vor, dass ich zwischendurch einfach für zwei Tage nichts mehr tun kann: Erholungsmodus.

Jetzt ist das Bild von Urlaub natürlich durchaus, dass man sich dabei erholt, aber die Vorstellung, wie diese Erholung auszusehen hat, ist eher nicht, dass man im Bett oder auf der Couch herumliegt und fernsieht – da hätte man ja auch gleich zuhause bleiben können /hj (Tonindikator: half-joking) Wir stellen uns Erholung eher so vor, dass das gesamte Urlaubserlebnis Erholung zu sein hat: Ein anderer Ort, spannende Erlebnisse, gutes Essen, vielleicht am Strand liegen – das prägt unser Bild von Erholung(surlaub)!

Ich weiß nicht ob das bei anderen Menschen eher zutrifft, bei mir ist es definitiv nicht so. Urlaub ist Stress. Urlaub ist ohne Zweifel auch toll, er bringt mir viele tolle Momente und Erinnerung, aber als Erholung würde ich ihn wirklich nicht bezeichnen.

Mein Rat wäre daher: Freunde dich mit dem Gedanken an, dass du DEINE persönliche Form von Erholung finden musst und vollkommen egal, was für dich tatsächlich erholsam ist, es ist richtig! Auch im Urlaub.

Lass den Gedanken los, dass du im Urlaub etwas erleben oder Dinge tun musst. Höre auf deine Bedürfnisse! Du fühlst dich nicht so richtig fit? Mach‘ Pause! Du bist überreizt und überfordert? Mach‘ Pause! Dir ist gerade nicht nach einer Unternehmung? Mach‘ Pause!

Ehrlich. Du musst in deinem Urlaub keinen Besichtigungsrekord aufstellen oder alles, was nur irgendwie möglich erscheint, in deine Urlaubstage pressen. Es ist DEIN Urlaub und du holst das für dich Beste dadurch heraus, dass du auf dich und deine Bedürfnisse achtest – und wenn das bedeutet, dass du die Hälfte deines Urlaubs verschläfst, dann ist das eben so. Dein Wohlbefinden ist das Wichtigste.

Das ist unheimlich schwierig, weil wir es so gewohnt sind, vorgelebt zu bekommen, wie Urlaub angeblich zu sein hat – mit Party und Abenteuern und Erlebnissen -, dass wir denken, genau diese Dinge wären es, was einen Urlaub toll machen würde. Das stimmt aber überhaupt nicht. Urlaub ist dann toll, wenn es dir gut geht – und das hat meistens überhaupt nichts mit unserem Bild von Urlaub zu tun.

Wenn das bedeutet, dass der für dich beste Urlaub darin besteht, gar nicht erst in Urlaub zu fahren ist das übrigens genauso gut!

Urlaubserlebnisse

Wenn wir jetzt aber tatsächlich an einem anderen Ort sind und Lust haben, etwas zu tun – was wollen wir überhaupt tun?

Mein großer Tipp: Orientiere dich an deinen Spezialinteressen und an dem, was dir grundsätzlich Freude bereitet!

Bei mir ist das zum Beispiel nahezu alles, was mit Nahrungsmitteln und Kochen zu tun, dazu liebe ich Natur und Wasser, Säugetiere und Farben. Ich habe kein großes Interesse an den meisten klassischen Sehenswürdigkeiten und Touristenattraktionen – ganz abgesehen davon, dass diese sowieso oft total überlaufen sind und ich Menschenmassen hasse.

Klassische Reiseführer bringen mir daher nicht gerade viel. Was ich aber oft toll finde, sind Reiseführer, die Routen anbieten, um eine Stadt zu Fuß zu erkunden – da gibt es oft richtig spannende Orte zu entdecken.

Meistens gehe ich im Urlaub aber so vor, dass ich mir überlege, worauf ich gerade Lust habe und dann einen Ausflug mit Hilfe Google Maps plane. Ich habe Lust auf Wasser? Dann scrolle ich durch die Umgebung und suche nach Teichen oder Seen und wie ich dort hin komme. Ich hätte jetzt gerne ein Eis? Dann suche ich nach Eisdielen und wähle eine aus, die vielleicht ein Stück weiter weg ist, um mich auf dem Weg von der Umgebung überraschen zu lassen.

Ganz grundsätzlich folge ich oft Wegen, die spannend aussehen, auch wenn sie nicht direkt zum Ziel führen. Manchmal sind sie ein unnötiger Umweg, manchmal entdecke ich dabei großartige Orte, die ich sonst wahrscheinlich nie gesehen hätte.

Letzten Endes geht es immer nur um eines: Was würde dir gerade gut tun?

Du machst Urlaub, vergiss das nicht. Du hast nichts zu erledigen oder abzuarbeiten. Auch wenn du am historisch bedeutendsten Ort der Welt Urlaub machst: Es ist nicht deine Aufgabe, all die historischen Orte auch zu besichtigen! Selbst wenn du historische Orte liebst! Schau dir jene an, die dir am wichtigsten sind und selbst davon nur so viele, wie du wirklich genießen kannst – und den Rest kannst du vielleicht bei einem weiteren Urlaub in der Zukunft sehen.

Dir läuft nichts davon! Ehrlich. Auch wenn du mal irgendein Ereignis verpasst: Es wird andere dafür geben. Es geht nicht um ein spezielles, umwerfendes, einmaliges Urlaubserlebnis. Es geht um schöne Erinnerungen und die bekommst du in den Momenten, wo du es am wenigstens erwartest.

Planen oder nicht planen?

Meine ersten Urlaube als Erwachsene waren immer vollgestopft mit Plänen und Erlebnissen. Ich kaufte Reiseführer, las sie sorgfältig durch und dachte dann, ich müsste ganz, ganz viel aus diesem Reiseführer auch tatsächlich tun, alles besichtigen, alles erleben. So, als wäre der Reiseführer eine To-Do-Liste, die ich abzuarbeiten hatte.

Irgendwann fing ich dann – sehr zur Verwirrung anderer Menschen – damit an, KEINE Pläne mehr zu machen. Wenn man mich fragte, was ich am Urlaubsort alles geplant hätte, antwortete ich immer, dass ich keine Pläne hätte und einfach alles auf mich zukommen lassen würde. Nur um dann prompt eine Liste an Dingen zu bekommen, die ich unbedingt tun sollte, wenn ich dort wäre! Urlaubs-To-Do-Listen! It’s a thing!

Ich plane heute also eigentlich nicht mehr – ich recherchiere aber sehr, sehr viel. Egal also ob vorab oder erst direkt im Urlaub: Kommen wir zur Recherche.

Recherche

Mein bester Freund für die Recherche ist Google Maps. Nicht nur, dass ich darüber Wasserflächen und Parks – und auch gleich den Weg dorthin – finden kann, ich kann auch nach Lokalen und Geschäften suchen und bekomme bereits einen Einblick in das Angebot.

In Städten, in denen Street View funktioniert, ist auch das eine tolle Möglichkeit, um sich schon mal umzusehen und herauszufinden, wie zugänglich ein Ort ist.

Ich stöbere auch sehr gerne auf den Internetseiten von Unternehmen und Veranstaltern, denn so kann ich mich im Voraus auf das, was mich erwartet, vorbereiten – manchmal führen die Informationen (oder ihre Abwesenheit) aber auch dazu, dass ich einen Ort von Anfang an meide, weil ich bereits ahne, dass ich dort nicht klarkommen – oder mich nicht willkommen fühlen – werde.

Städte selbst bieten auf ihren Internetseiten oft Infos für Touristen an – die Qualität ist sehr unterschiedlich und natürlich stark an klassischen Touristeninteressen orientiert, aber es gibt dennoch immer wieder spannende Tipps. Auch Veranstaltungstermine finden sich meistens auf den Internetseiten der Städte – vielleicht ist ja was für dich dabei?

Wenn du ein Spezialinteressen hast, empfehle ich eine Internetsuche nach „Spezialinteresse + Reiseziel“. Oft findest du dann Tipps von anderen Menschen, die das selbe Interesse haben und vor Ort wohnen oder schon mal dort im Urlaub waren und lernst dadurch coole Orte kennen, die du sonst nicht gefunden hättest.

Planen!

So wenig ich auch ein Freund von festen Plänen für den Urlaub bin: Manchmal möchte man etwas unternehmen, für das man sich bereits im Vorfeld anmelden muss, Tickets benötigt oder was nur zu bestimmten Zeiten möglich ist. Da hilft dann alles nichts und das entsprechende Event muss im Voraus festgelegt werden.

Ich weiß mittlerweile aber, dass fixe Termine für mich sehr, sehr schwierig sind – ich kann einfach nie vorher wissen, ob ich zum entsprechenden Termin auch tatsächlich fit genug sein werde. Ich verzichte daher (zumindest derzeit) komplett auf so etwas.

Abgesehen davon bietet es sich oft an, Tickets für Sehenswürdigkeiten und Museen bereits im Voraus zu buchen. Oft kann man dann die lange Schlange am Eingang umgehen und eine „Fast Lane“ benutzen. Manchmal sind vorab gebuchte Eintrittskarten auch günstiger.

Viele Museen bieten darüber hinaus freien Eintritt an bestimmten Tagen – zum Beispiel montags oder am ersten Sonntag im Monat.

Von A nach B

Eine fremde Umgebung stellt immer gewisse Anforderungen an die Fortbewegung. Ich bin meistens zu Fuß unterwegs und freue mich sehr über die vielen unerwarteten Dinge, die ich so zu sehen bekomme. Zur Navigation nutze ich meistens Google Maps – allerdings ohne mich tatsächlich navigieren zu lassen, sondern mehr wie eine gute, alte Landkarte.

Ich bin aber nicht nur wegen der schönen Umgebung zu Fuß unterwegs oder weil ich halt einfach gerne zu Fuß gehe, sondern auch, weil ich immer erst meine Scheu vor Menschen und öffentlichen Verkehrsmitteln bekämpfen muss. Zu Fuß ist der Unternehmungsradius allerdings etwas begrenzt und so schaffe ich es meistens erst im späteren Verlauf des Urlaubs, auch Dinge, die weiter weg sind zu unternehmen.

Die meistens Städte habe ein eigenes System an öffentlichen Verkehrsmitteln mit eigenen Abrechnungssystemen und man muss sich an jedes einzelne davon erst einmal gewöhnen. Normalerweise gibt es aber eine dazugehörige App, die auch eine Fahrplanauskunft beinhaltet und über die man Tickets kaufen kann. Es kann sich lohnen, sich die App schon im Vorfeld zu installieren, sich eventuell anzumelden und sich schon einmal mit ihr vertraut zu machen.

In manchen Städten benötigt man spezielle Karten, um die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Diese kann man meistens an Automaten am Bahnhof oder an größeren Haltestellen kaufen und eventuell aufladen. In London zum Beispiel genügt aber auch eine Kreditkarte mit NFC, um jederzeit Fahrkarten zu lösen.

Google Maps ist auch für öffentliche Verkehrsmittel hilfreich und bietet inzwischen in vielen Städten und Regionen Fahrplanauskünfte!

Falls Leih-Räder oder -Roller eine Möglichkeit für dich sind: Auch die gibt es in vielen Städten und du kannst sie über Apps ausleihen.

Essen im Urlaub

Obwohl ich unheimlich gerne neues Essen ausprobieren, bin ich halt trotzdem Autistin und umso gestresster ich bin, umso eher möchte ich mein Safe Food. Da gerade die ersten Urlaubstage immer Stress bedeuten ernähre ich mich an diesen Tagen oft sehr eingeschränkt.

Ich mag es, noch am ersten Urlaubstag – nachdem ich das Reisegepäck in der Unterkunft abgestellt habe – in einen Laden zu gehen und etwas zu essen zu kaufen. Das ist dann erstmal nur Safe Food und vielleicht ein bisschen Obst, aber damit komme ich über die ersten paar Tage.

Wenn einkaufen für dich stressig ist: Nimm dir doch was von zuhause mit, mit dem du dich ganz sicher wohl fühlst!

Im späteren Urlaubsverlauf gehe ich dann durchaus auch mal essen – zumindest, wenn der Ehemann dabei ist, denn alleine fällt mir das oft sehr schwer. In den meisten Urlauben koche ich aber in erster Linie selbst oder esse Brot/Brötchen mit Belag – deswegen ist es für mich bei der Unterkunft auch so wichtig eine Küche, oder zumindest einen Kühlschrank zu haben!

Ich denke, die Essensfrage im Urlaub ist sehr stark davon abhängig, was für dich weniger Stress ist (selber kochen oder essen gehen) und was dir an Geld zur Verfügung steht, denn Essen ist leider auch immer eine Preisfrage.

Wenn du dich sowieso schon gestresst fühlst und das ganze Thema Essen dich noch zusätzlich stresst: Es ist auch total in Ordnung einen ganzen Urlaub lang, nur dein(e) Safe Food(s) zu essen! Echt. Das ist ja kein dauerhafter Zustand, sondern ein vorübergehender Urlaub und wie immer ist das wichtigste dabei, dass du dich wohlfühlst. Wenn das über dein Safe Food funktioniert, dann iss es!

Wenn du gerne kochst sind lokale Läden und Märkte immer ein toller Ort – und wenn du vom Schauen und Riechen schon total überfordert bist, dann kaufst du dort vielleicht trotzdem nichts, sondern bleibst lieber bei deinem Safe Food. Auch das ist überhaupt nicht schlimm.

Auch Convenience Food – vorgeschnittenes Obst, fertige Salate, belegte Brote – ist oft extrem praktisch im Urlaub!

Trinken – auch für unterwegs

Ich trinke hauptsächlich Wasser und habe auch immer eine Wasserflasche mit, die ich einfach mit Leitungswasser fülle. Manchmal schmeckt mir das Wasser am Urlaubsort aber nicht und nachdem ich mich einmal tagelang damit gequält habe, dieses Wasser trotzdem zu trinken, mache ich es jetzt so, dass ich in so einem Fall eben Wasser oder andere Getränke kaufe. Klingt total simpel, aber manchmal braucht ein neurodivergentes Gehirn dafür eine Erlaubnis.

Auch unterwegs habe ich meine Wasserflasche mit – manchmal nur halb gefüllt, wenn ich nicht so viel tragen kann. Man kann die Wasserflasche meistens unterwegs auffüllen, zum Beispiel am Waschbecken von (öffentlichen) Toiletten, bei speziellen Trinkbrunnen oder es gibt Läden, wo man die Wasserflasche wieder füllen lassen kann – und die ich wegen meiner sozialen Angststörung natürlich noch nie ausprobiert habe. Aber es gibt sie!

Ansonsten: Kauf dir was zu trinken! Echt. Kopfschmerzen wegen zu wenig Flüssigkeit sind uncool.

Die Comfort Zone (nicht) verlassen

Ich weiß, viele Menschen nutzen den Urlaub, um aus ihrer „Comfort Zone“ zu kommen. Wenn du neurodivergent oder auf andere Weise marginalisiert bist, ist es aber häufig so, dass ohnedies große Teile deines Lebens außerhalb deiner Comfort Zone ablaufen. Daher bitte: Stresse dich im Urlaub nicht zusätzlich damit, dass du dich dazu zwingst, Dinge zu tun, die dir schwerfallen. Bleibe ruhig IN der Comfort Zone. Tue das, von dem du weißt, dass du dich damit wohlfühlst. Urlaub ist Erholung, kein Selbstoptimierungstrip!

Dein Urlaub hat nur eine Aufgabe: DIR gut zu tun. Alles, was dazu beiträgt ist eine gute Maßnahme und es ist vollkommen egal, wie passend das für einen Urlaub erscheint. Wenn es für dich passt, dann ist es richtig.

Schlusswort

Urlaub stellt uns vor viele Herausforderungen und selbst wenn wir wissen, was uns gut tut, sind uns oft finanzielle – oder andere – Grenzen gesetzt und wir können unseren Urlaub nicht so gestalten, wie wir das brauchen würden.

Gerade dann ist es aber umso wichtiger, herauszufinden, was für dich persönlich wichtig ist und was du benötigst, um dich erholen zu können, deswegen will ich dich darin bestärken, deine ganz eigene Art von Urlaub für dich zu (er)finden. Wenn es dir hilft, dann fahre alleine, mache Urlaub „gleich ums Eck“, liege drei Tage im Bett und schaue fern und iss dabei nichts als dein Safe Food!

Wenn Geld, Zeit und Nerven aber gar keinen Wegfahr-Urlaub zulassen – oder du so viele Abstriche machen müsstest, dass er mehr Stress als Urlaub wäre: Vielleicht kannst du dein Zuhause für die Urlaubszeit so gestalten, dass du dort Abstand vom Alltag bekommst.

Das ist nämlich das, was Urlaub für uns zum Urlaub macht: Alles für eine Weile zurücklassen, Post, Termine und Verpflichtungen ignorieren und die Außenwelt einfach außen sein lassen, denn im Urlaub geht es um uns. Nur um uns.

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 2

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 2

4. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Das hier ist eine Aufstellung an Tipps, die MIR (mit ADHS, Autismus, einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, einer sozialen Angststörung und chronischen Schmerzen) im und für den Urlaub helfen. Mir ist klar, dass vieles davon nicht für jede*n machbar ist – zum Beispiel aus finanziellen Gründen, weil Kinder mitbedacht werden müssen oder die persönlichen Bedürfnisse einfach ganz andere sind. Auch wird das, was für mich gut ist, nicht zwingend auch für dich gut sein. Neurodivergenz ist individuell und genauso sind unsere Probleme (und das, was uns keine Probleme bereitet) sehr individuell.

Verstehe das hier also bitte mehr als: „Da könnte ich mal darüber nachdenken, ob das auch was für mich wäre, oder wie ich es für mich anpassen könnte.“ anstatt als direkte oder ultimative Lösung.

Die Urlaubstipps beziehen sich auf Urlaub mit dem Auto oder dem Zug, in erster Linie innerhalb Deutschlands, mit Übernachtung in einem Airbnb und mit einer Aufenthaltsdauer von einer Woche oder mehr.

Reisegepäck

Sofern du nicht mit dem Auto in Urlaub fährst, versuche immer, dein Gepäck so weit wie möglich zu reduzieren! Ich verreise normalerweise mit einem Koffer, einem Rucksack und einer kleineren Tasche oder einem kleineren Rucksack, die ich aber im Koffer transportiere, um nicht zu viele Gepäckstücke zu haben.

Wähle Gepäckstücke aus, die du gut transportieren kannst und in denen dein Gepäck sicher verstaut ist. Ich bevorzuge Koffer, am liebsten mit 4 Rollen – weiche Rollen machen weniger Lärm, gehen aber schneller kaputt. Es gibt auch Reisetaschen mit Rollen, wobei ich zwar die Rollen praktisch finde, aber in Taschen fliegt meistens alles wild herum. Als „Handgepäck“ liebe ich Rucksäcke, weil sich das Gewicht gut verteilt und man immer die Hände frei hat.

Wenn ich mein Gepäck unterwegs nicht ständig im Auge haben kann, weil es zum Beispiel auf einer Sammelablage im Zug liegt oder ich es für den Flug aufgebe, dann verwende ich Schlösser. Mein Lieblingskoffer hat ein integriertes Schloss, für den Rucksack habe ich ein kleines Vorhängeschloss, dass sich mit Fingerabdruck entsperren lässt.

Außerdem verwende ich als kleine Tasche für den Urlaubsalltag (und auch für den normalen Alltag) eine Tasche von Pacsafe. Die haben sich auf Taschen mit Diebstahlsicherung spezialisiert und zum Beispiel Drähte in den Umhängeschlaufen, ein Drahtgewebe unter dem Stoff oder clevere Reißverschluss-Lösungen, die man sicherer verschließen kann. Seit mir in Paris mein Portemonnaie aus einer ganz normalen Handtasche geklaut wurde, verwende ich nur noch Pacsafe-Taschen und fühle mich damit deutlich sicherer.

Koffer packen

Ich kann Koffer packen nicht ausstehen und schiebe es meistens bis zum letztmöglichen Zeitpunkt hinaus – sprich bei Autofahrten bis zum Tag der Abfahrt, bei Zugfahrten bis zum Vorabend. Ich mache mir allerdings im Vorfeld schon oft Gedanken darüber und weiß dadurch bei vielen Dingen schon, dass sie mitkommen sollen – oder nicht.

Grundsätzlich: Ich erstelle Stapel für alles, was ich mitnehmen möchte und ordne es dabei in Kategorien, die für mich Sinn ergeben. Erst, wenn ich alle Stapel fertig habe, packe ich sie in den Koffer – ohne Packwürfel, weil ich die nicht mag.

Normalerweise passt das. Manchmal muss ich danach noch reduzieren – und reduzieren heißt, dass ich schaue, dass ich nach dem Packen noch freien Platz im Koffer habe, denn es gibt immer Urlaubsmitbringsel und wir haben bereits mehr Taschen, als wir je verwenden können, weil wir regelmäßig IM Urlaub welche nachgekauft haben, weil wir keinen Platz mehr hatten.

Meine Stapel (die beziehen sich auf Auto- oder Zugfahrten, beim Fliegen ist es oft komplizierter wegen Handgepäck und Flüssigkeiten usw.):

Medikamente

Meine Medikamente sind super wichtig und ich darf sie auf keinen Fall vergessen, daher ist das der allererste Stapel, um den ich mich kümmere. Ich packe alle meine täglichen Medikamente in Tablettenboxen und ich verwende so viele, wie ich brauche, um den gesamten Urlaub abzudecken. Dazu kommen ein paar Hilfsmittel (z.B. Nadeln für den Insulin-Pen), die ich in Zip-Lock-Beuteln transportiere. Wenn du Medikamente hast, die gekühlt werden müssen: Ein Kühlkissen hilft da schon.

Ansonsten nehme ich Medikamente mit, die ich häufig benötige, wie:

  • Wund- und Heilcreme (z.B. Bepanthen)
  • Aciclovir (Herpescreme)
  • Schmerzmittel
  • Fenistil (bei Insektenstichen und allergischen Reaktionen)
  • Otriven (Nasenspray)
  • Pflaster

Alles, was rezeptfrei ist, lässt sich aber meistens auch problemlos vor Ort in einer Apotheke kaufen, wirklich wichtig sind deine rezeptpflichtigen Medikamente.

Wichtig! Denke rechtzeitig daran, Rezepte und Medikamente nachzubestellen, damit du über den gesamten Urlaub kommst!

Kleiner Hinweis für Auslandsreisen mit Medikamenten, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen (alles, wofür du ein Betäubungsmittel-Rezept bekommst): Es gibt dafür bestimmte Regeln und du benötigst eine Bescheinigung. Die Bescheinigung muss dein*e Arzt*Ärztin ausfüllen und sie muss von der für dich zuständigen Behörde beglaubigt werden! Du findest die Bescheinigung und eine Liste der zuständigen Stellen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Grundsätzlich darfst du im Schengen-Raum Betäubungsmittel für bis zu 30 Tage mitnehmen. Kümmere dich frühzeitig um diese Bescheinigung!

Kulturbeutel

Wir haben einen Kulturbeutel, in dem der Reisebedarf dauerhaft verstaut ist: Vor allem Zahnbürsten und -creme, Rasierbedarf, Bürste, Shampoo, Sonnencreme, Nagelset (super praktisch). Ich schaue diesen Kulturbeutel vor der Abreise noch mal durch, aber es ist bei den wenigsten Dingen dramatisch, wenn sie fehlen, denn man kann sie im Normalfall vor Ort nachkaufen.

Von daher: Achte darauf, dass du die Produkte, die schwierig zu besorgen sind, mit hast, bei allen anderen ist es nicht so wichtig.

Klamotten

Du brauchst weniger als du denkst. Wenn du eine Waschmaschine in deiner Unterkunft hast, brauchst du noch weniger.

Wann immer ich kann, wähle ich eine Unterkunft mit Waschmaschine, dadurch muss ich deutlich weniger mitnehmen. Ich verreise meistens im Frühsommer oder -herbst und dafür packe ich ein:

  • 4 x Unterwäsche + Socken
  • 2 x Hosen
  • 1 x Rock (weil ich Röcke mag, sonst einfach weglassen)
  • 4 x Shirts
  • 1 x Schlafshirt
  • 2 x „Schlumpf“-Klamotten (Sachen, die ich nur zuhause trage, die super bequem sind und die gerne auch dreckig werden dürfen)
  • 1 x Schuhe
  • 1 x Jacke oder Cardigan

Die Shirts müssen zu allen Hosen und Röcken passen, ebenso die Socken und Schuhe. Alles (außer Schlaf- und Schlumpf-Sachen) muss miteinander kombinierbar sein, so dass ich beliebig wechseln kann. Und alles müssen Dinge sein, die ich WIRKLICH gerne trage! Es ist hübsch, aber unbequem? Es bleibt da! Das gilt auch für Schuhe.

Nimm unbedingt bequeme Schuhe mit! Am besten sowohl die, die du im Koffer hast, als auch die, die du für die Reise anziehst. Bei mir ist das meistens ein paar bequeme Sandalen und ein Paar Sportschuhe. Lass Schuhe, bei denen du dir nicht sicher bist, ob du blasenfrei längere Strecken laufen kannst, direkt zuhause – egal, wie hübsch sie sind! (Ich spreche aus Erfahrung xD)

Periodenzeit

Wenn ich weiß, dass ich im Urlaub meine Periode bekommen werde, kommen zusätzlich meine Menstruationstasse und Menstruationsunterwäsche mit, sowie ein Badetuch, das ich nachts im Bett unterlegen kann. Ich fühle mich dann sicherer, auch wenn ich dank Menstruationstasse kaum noch Probleme habe.

Technik

Eine Mehrfachsteckdose ist im Urlaub oft praktisch – wir verwenden mittlerweile aber ein USB-Ladegerät, das je zwei USB-C- und USB-A-Anschlüsse hat und zwei Ladekabel, die USB-C- und Mikro-USB-Anschlüsse kombinieren, so dass wir Laptop, Handys, Tablets und Noise-Cancelling-Kopfhörer damit laden können. Zusätzlich nehmen wir die Ladekabel für unsere Smartwatches mit (die leider jeweils ein ganz eigenes System haben).

Außerdem haben wir ein bis zwei einzelne USB-Netzteile mit für alles, was vielleicht an einer anderen Stelle Strom bekommen soll.

An Geräten nehmen wir unsere Smartphones, die Laptops, die Tablets und die Noise-Cancelling-Kopfhörer mit. Wir sind allerdings ein Geek-Haushalt und so kommen bei uns auch noch ein kleiner Echo und ein Chromecast mit in den Urlaub.

Bei langen Ausflügen kann eine Powerbank echt hilfreich sein.

Wenn ich genug Platz habe, packe ich auch gerne noch anderen technischen Kram ein (der Insektenvernichter ist z.B. echt toll!), gebe aber zu, dass das nicht unbedingt notwendig ist.

Unterhaltung + Stim Toys

Meine liebsten Stim Toys kommen mit in den Urlaub, ebenso wie ein paar Dinge für meine aktuellen Hyperfixierungen. Dieses Mal waren das Stifte und Papier und Sachen zur Schmuckherstellung, letztere habe ich dann aber überhaupt nicht verwendet und eigentlich hatte ich das auch beim Packen schon vermutet, aber konnte sie dennoch nicht zuhause lassen.

Bücher lesen wir fast nur noch elektronisch, das geht auf dem Tablet sehr gut, wobei der Ehemann seinen E-Book-Reader mithatte.

Durch den Chromecast können wir auch im Urlaub am Fernseher Serien oder Filme streamen – geht natürlich auch am Laptop.

Nimm Dinge mit, die dir guttun, die dich entspannen und ausgleichen und die dir vertraut sind – und es sollten die Dinge sein, die du tatsächlich aktuell gerne verwendest, sonst geht es dir wie mir mit Schmucksachen, die ich einfach nur einmal hin und her transportiert habe.

Dokumente

Die meisten solcher Listen beginnen ja mit den Dokumenten, die man mitnehmen soll, aber für mich sind das entweder Dinge, die ich sowieso bei mir habe (Personalausweis oder Krankenkassenkarte sind zB im Portemonnaie und das kommt sowieso mit) oder die ich in digitaler Form habe. Buchungsbestätigungen habe ich als E-Mails vorliegen, im Voraus gekaufte Tickets funktionieren meistens direkt über QR-Code oder lassen sich notfalls vor Ort ausdrucken.

Vor größeren Reisen mache zusätzlich Fotos meiner wichtigsten Dokumente und speichere sie in der Cloud.

Sonstiges

Ich finde es immer praktisch, eine Wasserflasche dabei zu haben, außerdem einen Stift und irgendeine Form von Papier und in meiner Tasche finden sich immer ein bis zwei kleine, zusammenlegbare Taschen für Einkäufe.

Wenn ich weiß, dass ich eine Küche haben werde, packe ich immer mein liebstes Kochmesser (in Geschirrtücher gewickelt) ein. Meistens auch noch ein kleines Messer und meinen Kartoffelschäler (weil ich da ein bestimmtes Modell bevorzuge, aber die Einzige zu sein scheine, die dieses Modell mag) und den verstellbaren Hobel. Dieses Mal hatte ich auch noch mein Schneidebrett dabei, aber das geht wirklich nur, wenn wir mit dem Auto in Urlaub fahren.

Die Frage ist einfach: Was brauchst du für diesen Urlaub sonst noch?

Was vergessen?

Es ist nicht weiter schlimm, wenn du etwas vergisst, weil sich die meisten Dinge im Notfall vor Ort beschaffen lassen – gerade Körperpflegeartikel sind – sofern du nicht ganz spezielle verwendest – überhaupt kein Problem. Klamotten sind für mich auf Grund meiner Kleidergröße schwieriger, Schuhe wiederum sind unproblematisch. Deine elektronischen Geräte solltest du nicht vergessen – Ladekabel wiederum kannst du einfach vor Ort kaufen.

Gibt es das, was du benötigst nicht vor Ort, hast du – selbst ohne Postanschrift am Urlaubsort – die Möglichkeit, online zu bestellen.

Packstation

Innerhalb Deutschlands kannst du als registrierte*r Packstation-Kund*in jede beliebige Packstation nutzen, um deine Pakete dorthin liefern zu lassen. Du brauchst dafür die Post&DHL-App und musst dich VOR der Reise als Packstation-Kund*in registrieren – du bekommst im Registrierungsvorgang eine PIN per Brief.

Wenn du registriert bist, kannst du jede beliebige Packstation verwenden und musst nur die Nummer der gewünschten Packstation (findet sich auf der Packstation oder online) und deine Postnummer (die findet sich in der App unter „Mehr“) angeben.

Es liefern allerdings nicht alle Shops an Packstationen.

Amazon Locker

Die zweite Möglichkeit ist eine Bestellung über Amazon mit Lieferung an einen Amazon Locker. Davon gibt es meistens mehrere pro Stadt und du kannst dir den für dich am besten gelegenen aussuchen und deine Bestellung einfach dorthin schicken lassen.

Wenn sie geliefert wurde, bekommst du eine Benachrichtigung per Mail, in der du einen Abholcode findest, den gibst du am Locker ein, das entsprechende Fach geht auf und du bekommst dein Paket.

Gerade bei vergessenem Elektronikzubehör ist das oft eine großartige Lösung.

Voraus denken

Was du bereits vor dem Packen erledigen solltest:

  • Dauermedikation für die gesamte Urlaubsdauer nachbestellen
  • Evtl. Betäubungsmittelbescheinigung besorgen
  • Schauen, ob dein Personalausweis oder Reisepass noch gültig sind
  • Tickets für Veranstaltungen buchen und evtl. ausdrucken
  • Evtl. für den Packstation-Service anmelden

Teil 3

Alles was „im Urlaub“ betrifft, packe ich mal in einen dritten Teil – das hier wird schon wieder deutlich länger, als ich dachte.

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 1

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 1

31. Juli 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Das hier ist eine Aufstellung an Tipps, die MIR (mit ADHS, Autismus, einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, einer sozialen Angststörung und chronischen Schmerzen) im und für den Urlaub helfen. Mir ist klar, dass vieles davon nicht für jede*n machbar ist – zum Beispiel aus finanziellen Gründen, weil Kinder mitbedacht werden müssen oder die persönlichen Bedürfnisse einfach ganz andere sind. Auch wird das, was für mich gut ist, nicht zwingend auch für dich gut sein. Neurodivergenz ist individuell und genauso sind unsere Probleme (und das, was uns keine Probleme bereitet) sehr individuell.

Verstehe das hier also bitte mehr als: „Da könnte ich mal darüber nachdenken, ob das auch was für mich wäre, oder wie ich es für mich anpassen könnte.“ anstatt als direkte oder ultimative Lösung.

Reisezeit

Meine perfekte Reisezeit ist der September, alternativ Mitte April bis Mitte Mai. Da ist das Wetter meistens ziemlich gut und die Temperaturen sind angenehm. Im Sommer (Mitte Mai bis August) ist es mir zu heiß, im Winter (November bis Februar) mag ich selten nach draußen – in diesen Monaten versuche ich Reisen also grundsätzlich zu vermeiden.

Die grundsätzliche Frage dabei ist: Zu welcher Jahreszeit fühlst du dich am wohlsten? Bist du eher Typ „Sommer und warm“ oder magst du Temperaturen um die 20 Grad? Wähle deine Reisezeit so aus, dass Wetter und Temperaturen am Reiseziel für dich passen (sollten).

Aufenthaltsdauer

Ich habe früher immer Kurz-/Wochenendtrips unternommen, weil ich dachte, das wäre perfekt, um mein Zuhause nicht zu lange zu vermissen. Inzwischen weiß ich aber: Das Gegenteil ist der Fall. Kurztrips stressen mich SEHR!

Ich brauche nach der Anreise erstmal mindestens zwei, eher drei Tage, um mich von der Reise zu erholen und mich in einer neuen Umgebung einzuleben. Meine optimale Reisedauer liegt also schon mal bei mehr als vier Tagen, weil ich sonst schlichtweg gar nichts vom Urlaub habe. Optimal für mich sind 10 bis 14 Tage, ich verreise aber wenn es möglich ist auch gerne noch länger. Das längste waren bisher 4 1/2 Wochen und das gefiel mir sehr.

Die wichtige Frage ist hierbei: Wie lange brauchst du, um wirklich anzukommen? Wenn du das bisher nicht in deinen Urlaub einplanst, versuche vielleicht mal deine übliche Urlaubsdauer um diese Zeit (am besten plus einen zusätzlichen Tag) zu verlängern und schau, ob das für dich gut ist, oder du es doch lieber kürzer (oder vielleicht noch länger) magst.

Und dann nimm dich an deinen „Ankunftstagen“ tatsächlich zurück: Ruh‘ dich aus, erhole dich, komm‘ an. Du hast noch genug Zeit um alles zu erleben!

Grundsätzlich: Umso mehr dich Urlaubsvorbereitungen und Anreise stressen, umso eher würde ich selteneren, aber dafür längeren Urlaub empfehlen.

Urlaubsort

Ich bevorzuge Großstädte – sofern sie nicht ZU groß sind. So von 200.000 bis max. 2 Millionen Einwohner*innen fühle ich mich (im Urlaub) am wohlsten. Wenn es dann noch Wasser und viele Parks gibt und vieles fußläufig erreichbar ist, bin ich glücklich. Am meisten mochte ich Bordeaux, Paris und Wien und auch Wiesbaden ist echt toll. London und Berlin waren mir hingegen zu groß (sie sind trotzdem cool).

Ich mag keinen reinen „Badeurlaub“, sondern will was „sehen“, wobei ich mir nichts aus Sehenswürdigkeiten mache, aber halt auch nichts aus am Strand herumliegen – bei 7 Tagen am Strand würde meine ADHS wahrscheinlich vor Langeweile toben. Am liebsten laufe ich einfach durch die Stadt, folge vielleicht grob einem Ziel oder einer spannend aussehenden Straße – oder dem Klang von Musik oder der Aussicht auf Wasser.

Die Hauptfrage hierfür ist: Was macht dir in deinem Alltag Freude? Was interessiert dich? Was stresst dich? Du willst deinen Urlaub so gestalten, dass du Dinge tun kannst, die dir IMMER Spaß machen. Keine Experimente – außer natürlich, du liebst Experimente.

Badeurlaub ist nichts für Menschen, die es schon hassen, einen Nachmittag im Freibad zu verbringen und ruhiges Landleben kann für ADHSler*innen schnell mal zu langweilig werden. Großstädte wiederum überfordern reizüberflutete Autist*innen sehr leicht.

Unterschätze nicht den Faktor Erreichbarkeit! Wenn du lange Fahrten hasst, wirst du mit einem Urlaub in deiner Nähe deutlich glücklich sein. Wenn du mit der Bahn anreist, suche dir ein Urlaubsziel, das für dich gut und unproblematisch mit dem Zug erreichbar ist.

Wichtig ist: Du wirst im Urlaub nicht plötzlich an den Dingen Freude haben, die dich sonst langweilen, nur weil sie zu deinem Bild von Urlaub dazugehören. Ich mag zum Beispiel das Bild von einem Urlaub, wo ich auf einer einsamen Almhütte bin und den ganzen Tag über die Wiesen schaue und nichts tue. In Wirklichkeit würde ich mich furchtbar langweilen (und dann vielleicht wandern gehen und mich ärgern, dass ich das nicht gleich in einer flacheren Umgebung angefangen habe).

Reisebegleitung

Klingt vielleicht hart, aber meine beste Reisebegleitung ist: Niemand.

Nicht nur brauche ich sehr viel Ruhe und Zeit nur für mich, ich mag noch zusätzlich, dass ich mich nicht an andere Menschen anpassen muss, mich nicht um ihre Vorlieben sorgen muss, mich nicht mit ihnen abstimmen muss, sie schlichtweg einfach nicht berücksichtigen muss. Ich fahre gerne mit dem Ehemann in Urlaub, denn es ist auch schön, Erlebnisse zu teilen (und momentan hilft seine Anwesenheit mir enorm bei meiner Angststörung), aber am liebsten ist mir dennoch ein Urlaub ganz alleine und ich hoffe, dass auch das irgendwann wieder für mich möglich sein wird.

Frage dich auch hier, wie du dich am wohlsten fühlst: Wenn du viel Zeit alleine brauchst und möchtest, kann ein Urlaub alleine großartig für dich sein. Ich liebe es, alleine in Urlaub zu fahren, kann das momentan wegen meiner sozialen Angststörung aber nicht. Bei mir ist der Ehemann aber ein sehr guter Reisepartner.

Hast du – so wie ich derzeit – Angst, alleine unterwegs zu sein, dann nimm jemanden mit, aber achte darauf, dass du dich in der Nähe deiner angedachten Reisebegleitung auch wirklich entspannt fühlst, dass du deine Bedürfnisse kommunizieren kannst und dich nicht schlecht fühlst, wenn du gerade etwas nicht kannst, Unterstützung brauchst oder andere auf dich Rücksicht nehmen sollen.

Es kann auch hilfreich sein, bereits im Vorfeld darauf hinzuweisen, dass du Zeit alleine brauchen wirst, oder vielleicht nicht jeden Tag etwas unternehmen wirst wollen, dass du dich vielleicht häufiger ausruhen möchtest oder bei manchen Dingen Unterstützung brauchen wirst.

Unterkunft

Ich fühle mich am wohlsten, wenn keine anderen Menschen in der Nähe sind. Das schließt viele Unterkunftsmöglichkeiten von Anfang an aus. Wenn der Ehemann dabei ist (und im absoluten Notfall auch alleine), ist Hotel akzeptabel, meine liebste Variante ist aber Airbnb (und Vergleichbares) – noch lieber, wenn man eigenständig einchecken kann und somit gar keinen Kontakt mit Menschen haben muss.

Weitere Vorteile daran sind, dass ich eine Küche zur Verfügung habe und ich achte meistens darauf, auch eine Waschmaschine zu haben – das spart enorm viel Gepäck und erleichtert das Leben sehr. Außerdem sind es Vermieter*innen auf Airbnb gewohnt, dass man schriftlich mit ihnen kommuniziert, man sieht vor dem Buchen sämtliche Kosten und Verfügbarkeiten. Die Option „sofort buchen“ ist dabei deutlich angenehmer, als Buchungen anfragen zu müssen – letzteres ist für mich sehr anstrengend.

Ich suche mir meistens Unterkünfte, die entweder in (fußläufiger) Zentrumsnähe sind oder so gelegen, dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht zu erreichen sind – bei Anreise mit dem Auto auch so, dass sie Parkmöglichkeiten haben (siehe auch unter „Anreise“). Auch ein Park oder Wasser in der Nähe ist immer gut.

Grundsätzlich ist die Unterkunft natürlich der Faktor, der am meisten ins Geld geht und mit dem ich mich am wohlsten fühlen muss und damit auch der, mit dem ich am längsten beschäftigt bin. Ich stöbere oft wochenlang auf Airbnb, bis ich etwas finde, mit dem ich zufrieden bin.

Grundsätzlich: Länger im Voraus zu planen hilft sehr! Und das bei allen möglichen Formen von Unterkünften.

Billiger wird es natürlich, wenn Jugendherbergen oder Campingplätze für dich okay sind. Auch Hotels können (vor allem wenn man alleine reist) zum Teil deutlich günstiger sein. Airbnb-Vermieter*innen bieten aber oft Rabatte für längere Aufenthalte an.

Anreise

Ich reise äußerst ungern mit dem Flugzeug (obwohl ich fliegen an sich liebe). All das „Drumherum“ stresst mich enorm. Da muss ich auch noch überlegen, wie ich denn zum Flughafen komme, dann muss ich einchecken, durch die Security, aufs Boarding warten, auf den Start warten und so weiter. Fliegen ist in so viele einzelne Schritte aufgeteilt, dass ich quasi schon beim Gedanken daran Stress empfinde.

Ich mag dafür Bahnfahren sehr gerne – allerdings unter der Voraussetzung, dass ich maximal zweimal umsteigen muss, dafür ausreichend Zeit habe und am besten ICE fahren kann und das außerhalb von üblichen Urlaubs- oder Reisezeiten (Dienstag bis Donnerstag ist zum Beispiel toll). Regionalzüge finde ich anstrengend – während der Urlaubszeit noch viel mehr.

Autofahren ist je nach Ziel auch in Ordnung, sollte dann aber nicht länger als zwei, maximal drei Stunden dauern und ich brauche eine im Voraus geplante Parkoption. In Wiesbaden haben wir das zum Beispiel so gelöst, dass wir erstmal in ein Parkhaus gefahren sind, das Auto danach auf einen Park+Ride-Parkplatz gestellt haben und am Ende des Urlaubs wieder abgeholt haben.

Sei dir in jedem Fall bewusst, dass die Anreise IMMER stresst – vollkommen egal, welches Verkehrsmittel du wählst. Die Frage ist also: Welches Verkehrsmittel stresst dich am wenigsten und wie kannst du Stress zumindest reduzieren?

Flug:
Vermeide Flüge. Ehrlich. Flüge sind einfach immer stressig.

Wenn du sie nicht vermeiden kannst/willst: Bei frühen Flügen kann es den Stress reduzieren, wenn man bereits am Vortag in die Stadt des Flughafens reist (und eventuell den Vorabend-Checkin nutzt).

Suche dir frühzeitig die Verbindungen zum und vom Flughafen heraus und plane Puffer ein – ein ausgefallener oder stark verspäteter Zug zum Flughafen führt unter Garantie zu Panik!

Echt… vermeide Flüge einfach. Der Stress ist enorm.

Bus:
Ich halte das wie mit Flügen, aber sie sind zumindest etwas weniger stressig, weil man sich zumindest Security & Co. spart.

Zug:
Suche eine Reisemöglichkeit mit möglichst wenig Umstiegen, auch auf den „letzten Metern“. Wenn du von x Stunden Fahrt total erschöpft bist, möchtest du nicht auch noch 3 verschiedene öffentliche Verkehrsmittel nehmen müssen, um zu deiner Unterkunft zu gelangen.

Fernzüge sind angenehmer als Regionalzüge, weil sie zum einen bequemer sind und natürlich auch schneller am Ziel.

Plane großzügige Pufferzeiten – vor allem bei komplizierten Umstiegen oder wenn eines der Verkehrsmittel nur selten fährt.

Bei Zug-, Bus- und Flugreisen helfen Noise Cancelling Kopfhörer ENORM. Sie unterdrücken nicht nur den Lärm des Verkehrsmittels, sondern filtern auch die Mitreisenden zum Teil aus.

Wenn du nicht mit dem Auto anreist:
Reduziere dein Gepäck soweit es geht und nimm nicht mehr als zwei Gepäckstücke mit. Auch keine zusätzlichen Taschen! Umso öfter du umsteigen musst, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass du was vergisst.

Auto:
Suche dir ein Ziel, das nicht weiter weg ist, als du als Fahrtzeit angenehm findest und informiere dich frühzeitig über Parkmöglichkeiten. In Städten kann es eine Möglichkeit sein, zum Aus- und Einladen bis zur Unterkunft zu fahren und das Auto später auf einen Park+Ride-Parkplatz etwas außerhalb zu parken.

Grundsätzlich:
Wähle (wenn möglich) deine Reisetage so, dass weniger andere Menschen unterwegs sind. So ist Dienstag bis Donnerstag bei Fernzügen oft gut und außerhalb der Ferienzeiten zu verreisen ist grundsätzlich deutlich entspannter (natürlich nicht für alle möglich, schon klar).

Plane die Anreise. Wirklich – auch wenn du Planung hasst.

Und vor allem: Berücksichtige die Anreise bei deiner gesamten Urlaubsplanung. Ein Reiseziel, das weniger Stress bei der Anreise verursacht, wird den gesamten Urlaub viel erholsamer machen – und auch eine entspannte Rückreise ist nicht zu verachten!

Zwischenfazit

Urlaub, der auf die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen abgestimmt ist, ist oft teurer und erfordert viel Planung im Voraus. Beides ist für neurodivergente Menschen oft problematisch. Mein bester Tipp ist: Mache lieber selten Urlaub, aber wenn möglich, (etwas) länger. Du planst jeden Urlaub nur EINMAL, du hast nur einmal die Anreise, nur einmal Packen und so weiter.

Bonustipp: Wenn du dich wo wohlfühlst, überlege, ob du dort nicht wieder Urlaub machen möchtest. Das reduziert oft viel Planung und Unsicherheit – kann aber natürlich auch langweilig für dich sein.

Teil 2

Um hier nicht noch mehr auf einmal zu schreiben, gibt es dann irgendwann auch noch einen zweiten Teil zum Thema Reisegepäck und Urlaubserlebnisse.

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

5. Juli 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Viele unserer Tätigkeiten passieren ganz oder großteils automatisch, man spricht auch vom Autopiloten. Wenn du etwas trinken möchtest, gehst du zum Beispiel zum Schrank, nimmst ein Glas heraus und füllst es mit deinem üblichen Getränk. Du denkst normalerweise nicht darüber nach, welches Glas du nimmst, wo du es abstellst, um es zu füllen oder wie voll du es machen wirst. All das passiert ganz von selbst.

Die meiste Zeit kann ich das auch, aber wenn meine exekutiven Funktionen gerade nicht auf der Höhe sind, setzt dieser Autopilot aus.

Das beginnt dann schon damit, dass ich darüber nachdenke, wie ich denn den Schrank mit den Gläsern überhaupt öffne. Muss ich meinen Arm heben? Aber tut mir nicht die Schulter weh? Wird der Schmerz schlimm sein? Wo greife ich die Schranktür an? Wie viel Kraft brauche ich, um sie zu öffnen?

All das, was eigentlich eine ganz automatisch ablaufende Handlung ist, wird mit einem Mal in lauter einzelne Teile zerlegt.

Oder ich muss ganz bewusst darüber nachdenken, in welcher Reihenfolge ich etwas mache. Erst die Schranktür öffnen? Oder erst den Wasserhahn aufdrehen?

Stell dir vor, dich würde jemand fragen, ob du beim Händewaschen erst das Wasser aufdrehst und die Hände nass machst oder erst die Seife nimmst. Oder drehst du vielleicht das Wasser auf, nimmst aber erst Seife und machst die Hände dann nass?

Wenn du die Aufgabe in einzelne Schritte zerlegst, wird sie plötzlich kompliziert, du musst sie dir vielleicht genau vorstellen und vielleicht bekommst du sogar Zweifel, ob du es wirklich so machst, wie du denkst.

Bei einer Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen entsteht genau dieses Nachdenken und diese Unsicherheit. Gerne noch zusätzlich verbunden mit konstantem Hinterfragen: Mache ich das richtig? Brauche ich das wirklich? Geht es nicht vielleicht doch anders? Was kommt als nächstes?

Du wäschst dir nicht mehr einfach die Hände, holst dir nicht mehr einfach ein Glas Wasser, sondern die simple Tätigkeit wird zu einer riesengroßen Aufgabe.

Es gibt verschiedene Hilfen dafür.

Manchen hilft es, wenn sie visuelle oder auditive Anweisungen bekommen, zum Beispiel Zeichnungen, wie man Zähne putzt.

Anderen hilft es, die einzelnen Schritte aufzuschreiben, um das Chaos im Kopf ein wenig zu sortieren und sich einen Plan zurechtlegen zu können.

Bei mir hilft am Besten, nicht darüber nachzudenken.

Ich versuche, den Moment der Verwirrung und des Planens zu überspringen und doch wieder in den Automatismus zu kommen, indem ich an einer „späteren“ Stelle ansetze.

Vielleicht kennst du die Taktik von der Eingabe von Passwörtern oder PINs.

Wenn du ein Passwort häufig benutzt, tippen es deine Finger quasi automatisch, du denkst nicht bewusst darüber nach. Wenn du aber längere Zeit im Urlaub warst, fällt dir vielleicht am Abend des letzten Urlaubstags ein: „Mist, ich habe mein Passwort vergessen!“ Du denkst darüber nach und es fällt dir einfach nicht ein oder du erinnerst dich an alte Passwörter oder die für ganz andere Accounts.

Am nächsten Tag öffnest du trotzdem das Anmeldefenster, willst noch ein letztes Mal darüber nachdenken und mit einem Mal tippen deine Finger ganz automatisch das Passwort ein. Das richtige Passwort. Du hast nicht darüber nachgedacht, dich nicht bewusst erinnert, deine Finger wussten einfach, was zu tun ist. Das ist das Muskel- oder Körpergedächtnis.

Genau das nutze ich bei Phasen von exekutiver Dysfunktion. Ich denke nicht über das, was ich tun möchte, nach, sondern überlasse dem Körper die Führung.

Es funktioniert nicht bei Tätigkeiten, die ich noch nicht oft genug gemacht habe oder die ganz neu sind oder wenn ich einer Anleitung folgen muss. Deswegen kann ich in solchen Phasen zum Beispiel nicht backen. Ich kann aber damit zum Beispiel trotz exekutiver Dysfunktion die Küche aufräumen – WENN es mir gelingt, den Schritt des Nachdenkens zu überspringen und das Muskelgedächtnis aktiviert wird.

Wenn nicht… tja, dann kann ich für eine ganze Weile gar nichts mehr tun, weil ich einerseits versuche, mich dazu zu bringen, diese Sache zu machen, es aber andererseits nicht schaffe und quasi „feststecke“.

Wichtig für mich ist also immer: NICHT NACHDENKEN! TUN!

… und mich nicht darüber ärgern, wenn es mal wieder nicht funktioniert. Dann räume ich die Küche halt ein anderes Mal auf und backe den Kuchen dann, wenn die exekutiven Funktionen besser sind.

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

30. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wisst ihr noch, als ich gesagt habe, ich würde verstehen, dass sich so viele Menschen für „ein bisschen autistisch“ halten würden? Oder, dass sie der Meinung wären, ADHS-Merkmale wären „normal“? Ich verstehe es immer noch, denn vieles von dem, wovon neurodivergente Menschen erzählen, gleicht dem, was andere Menschen auch mal erleben. Es ist nur weit davon entfernt, unserer Lebensrealität zu entsprechen, denn die Intensität, die Häufigkeit und die Einschränkungen, die damit einhergehen, sind ganz, ganz anders.

Ich dachte daher, ich erzähle davon, wie mein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein aussieht, denn das gehört auch zu diesen Dingen, die ja jede*r kennt… oder vielleicht doch nicht?

In vorpandemischen Zeiten war es so, dass mein Mann morgens das Haus verließ, bevor ich aufstand. Er kam nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr zurück und wir hatten dann etwa sechs gemeinsame Stunden, bevor wir schlafen gingen. Am Wochenende verbrachten wir mehr Zeit zusammen, aber im Großen und Ganzen kann man sagen, ich hatte jede Woche etwa 50 bis 60 wache Stunden für mich alleine – und ich brauchte sie nicht nur, sie waren mir auch oft nicht genug.

Durch die Pandemie hat sich viel verändert, der Ehemann hat vermehrt Homeoffice gemacht und ich fand es sehr, sehr schwierig, mich daran zu gewöhnen. Von einem Moment auf den anderen hatte ich gar keine Zeit mehr für mich! Wir waren ständig zusammen und Rückzug bedeutete auf einmal mich hinter meinem Laptop und meinen Noise-Cancelling-Kopfhörern zu verstecken, aber keine echte Ruhe, kein echtes Alleinsein mehr zu haben.

Ich habe mich damit arrangiert, habe mich abgelenkt, habe versucht, damit klarzukommen und dann kam der Moment, als er zurück ins Büro sollte. So wie mich davor der Wechsel von „viel Zeit alleine“ zu „gar keine Zeit alleine“ beeinträchtigt hatte, so ging es mir auch jetzt wieder mit dem Gegenteil. Ich hatte Angst alleine. Ich fühlte mich nicht wohl. Ich lag stundenlang wie erstarrt auf der Couch oder futterte mich durch den Kühlschrank auf der Suche nach emotionaler Regulation. Es war furchtbar.

Wir suchten Lösungen wie ein gemeinsames Mittagessen, damit ich nicht ganz alleine war, und mit der Zeit wurde es besser. Ich fing langsam wieder an, die Zeit alleine zu genießen, sie tatsächlich für mich zu nutzen, anstatt in einen tagtäglichen Wartemodus zu verfallen, wo ich nur darauf wartete, dass er wiederkam.

Und langsam begann auch der konstante Stress nachzulassen, die konstante Überreizung durch die so lange ständige Anwesenheit einer anderen Person bei gleichzeitig fehlender Erholungszeit wurde weniger und ich merkte, dass ich mich endlich wieder ruhiger fühlte.

Momentan habe ich drei Wochentage, wo ich alleine zuhause bin, an einem davon essen wir noch gemeinsam zu Mittag, an den übrigen vier Tagen ist der Mann die ganze Zeit anwesend. Das funktioniert meistens sehr gut, ich merke aber auch: In stressigen Zeiten reicht mir diese Menge an Alleinzeit nicht aus.

Die letzten fünf Wochen habe ich viel, viel Energie in Projekte für andere Menschen gesteckt. Ich mochte das und dennoch hat es mich gleichzeitig sehr, sehr angestrengt. Dazu kamen ein emotional sehr schwieriges Wochenende und das letzte Drittel meines Zyklus und Anfang dieser Woche war ich zu nichts mehr fähig. Totale Überlastung.

Ich konnte keine Gespräche mehr führen, erinnere mich an große Teile der Zeit überhaupt nicht mehr, weiß nicht einmal mehr so recht, was wir gegessen haben. Ich konnte nicht mehr nachdenken, nicht mehr schreiben, nicht mal mehr Ideen haben. Alles war weg und ich unendlich erschöpft.

Ich habe dann den Home-Office-Tag des Mannes mit Noise-Cancelling-Kopfhörern und einer Serie verbracht, habe auch an den anderen Tagen viel, viel Zeit mit nichts als Serie gucken und essen verbracht und dazwischen geputzt und aufgeräumt, weil mir das Gefühl von Ordnung und Kontrolle gut getan hat. Am ersten Tag alleine habe ich ein bisschen herumgemalt, Konzentration war noch schwierig und ich habe immer nur ein Blümchen oder ein Steinchen ausgemalt. Abends habe ich mich hinter meine Serie verkrochen, wollte meine Ruhe haben und es ging mir definitiv nicht gut. Am zweiten Tag allein habe ich den Ehemann darum gebeten, das gemeinsame Frühstück ausfallen zu lassen, damit ich mehr Zeit für mich hatte und am Nachmittag ging es mir immerhin so gut, dass ich meinen Bandwebstuhl bespannen konnte – Serienzeit für mich alleine brauchte ich dennoch. Heute ist Tag 3, an dem ich Zeit nur für mich habe, die Serie ist zu Ende geguckt, ich kann meine Gedanken wieder in Worte fassen und ich hoffe, ich schaffe es heute, etwas zu kochen.

Morgen ist Home-Office-Tag und so sehr ich mich darauf freue, dass der Ehemann anwesend ist – denn ich verbringe wirklich gerne Zeit mit ihm -, so sehr weiß ich auch jetzt schon, dass mir noch ein, zwei oder noch mehr Tage nur für mich sehr gut tun würden.

Ich BRAUCHE diese Zeit nur für mich. Ich brauche Zeit, in der nichts außer mir und meinen Gedanken anwesend ist, in der ich mich auf mich konzentrieren kann, die ich ohne Druck oder Notwendigkeiten steuern und gestalten kann. Ich tue viele Dinge für uns in dieser Zeit – ich kümmere mich um den Haushalt, schmiede Pläne, organisiere Sachen… was man halt normalerweise so nach Feierabend noch erledigen muss. Das kann ich aber wiederum nur, weil diese Tätigkeiten eingebettet sind in Ruhephasen und in Zeiten, in denen mein Kopf nicht mit der Anwesenheit einer anderen Person beschäftigt ist.

(Es gibt eine Szene in der BBC-Serie Sherlock, wo Sherlock einen Polizisten aus dem Raum schickt, weil seine Anwesenheit ihn beim Denken stört. Ich finde diese Szene sehr, sehr nachvollziehbar!)

Mit einem „normalen“ Leben sind 50-60 Stunden Alleinsein pro Woche nicht zu vereinbaren. Also zumindest, wenn man in der Zeit auch Wachsein möchte, denn da kommen ja noch mal 50-60 Stunden Schlaf dazu. Bei 168 Stunden pro Woche heißt das, dass ich selbst eine mir sehr, sehr nahestehende Person im Wachzustand gerade mal rund 40 Stunden ertrage… besser weniger. Und bei weniger nahestehenden Personen sind noch mal deutlich weniger Stunden erträglich.

Mein Leben – unser Leben – ist so weit wie möglich auf meine Bedürfnisse abgestimmt. (Disclaimer: Auch auf die des Ehemanns!) Wir haben das große Glück – das Privileg! -, dass das möglich ist – nicht ohne Einschränkungen, aber trotzdem möglich! Trotzdem komme ich regelmäßig an meine Grenzen, liege metaphorisch am Boden, weil ich nicht mehr kann und bin überfordert, überlastet, überreizt, am Ende meiner Kräfte, verliere Tage, weil nichts mehr geht – weil so das Leben mit meinen psychischen und physischen Einschränkungen nun mal ist. Weil so das Leben mit Behinderungen ist.

Und dennoch, ich wiederhole es: Ich habe Glück!

So, so viele Menschen haben dieses Glück nicht! Sie MÜSSEN irgendwie funktionieren, auch wenn sie schon am Boden liegen, wenn sie sich seit Wochen, seit Monaten, ja seit Jahren nicht mehr komplett erholen konnten, weil ihre Bedürfnisse im Kapitalismus nicht vorgesehen sind. Weil uns weißgemacht wird, dass, wer nichts „leistet“ auch nichts wert ist. Weil wir darauf gedrillt werden, davon auszugehen, dass alle anderen faul sind, sich auf Kosten anderer bereichern wollen würden oder nur einfach härter arbeiten müssten, damit es ihnen besser ginge.

Aber so ist es nicht.

Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern, sind nicht diejenigen, die arm sind, nicht diejenigen, die krank sind, nicht diejenigen, die als nicht fleißig und leistungsfähig genug gelten. Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern sind diejenigen, die unsere Vorbilder sind: Die Reichen, die Mächtigen, die Bewundernswerten.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Vorbilder zu wechseln.

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