Selbstgespräche sind super
Solange ich mich erinnern kann, führe ich Selbstgespräche. Sie laufen intern ab, niemand würde sie von außen bemerken, und sie sind ein nahezu konstanter Begleiter in meinem Leben. Ich habe dabei verschiedene Formen von Selbstgesprächen: Manche sind ein Dialog, bei dem ich mich mit mir selbst unterhalte, andere sind eher wie eine kommentierende oder erklärende Stimme und manche sind wie störende Zwischenrufer.
Ich empfinde meine innere Stimme die meiste Zeit als hilfreich. Sie hilft mir beim Strukturieren meiner Gedanken, sie bietet mir Trost und Ermutigung und sie erleichtert es, Ereignisse zu verarbeiten und zu memorieren.
Manchmal benutzen aber auch meine Angststörung, die Depression oder die posttraumatische Belastungsstörung die innere Stimme und dann ist sie gefährlich für mich, denn sie formuliert dann sehr viel Negatives, erzählt mir von allem, was schief gehen könnte und von allem, was schon mal schief gegangen ist, sie nimmt die Stimme meiner Traumaverursacher an und ahmt sie nach und erzählt mir, was für ein schlechter Mensch ich doch wäre, oder sie zerlegt eine Situation in lauter Einzelteile und analysiert sie endlos auf mögliche Fehler meinerseits.
Ich würde sagen, dass DAS nicht wirklich mein innerer Dialog ist. Es ist eine gekaperte, vergiftete Version davon und sie hat einen eigenen Namen: Intrusive (aufdringliche) Gedanken. Ich mag sie nicht.
Die anderen, die echten Selbstgespräche, die mag ich aber, empfinde sie als wichtigen und hilfreichen Teil von mir. Dennoch dachte ich mein Leben lang, dass meine inneren Dialoge seltsam wären und etwas, für das ich mich zu schämen hätte. Nie hätte ich jemandem davon erzählt – oder zumindest nicht so, dass ich es nicht als Witz hätte abtun können. Ich dachte, die Selbstgespräche kämen von meiner Neurodivergenz und wären nur ein weiterer Teil meiner „Seltsamkeit“ – und dann stellte sich heraus, dass dem gar nicht so ist. Oder vielleicht doch. Oder wieder auch nicht.
Zunächst: Die meisten Menschen führen Selbstgespräche UND Selbstgespräche sind etwas Gutes!
Wir beginnen im Kindesalter damit, mit uns selbst zu reden. Wir erzählen uns zum Beispiel Handlungsabläufe oder geben unseren Spielsachen Stimmen und lassen sie Situationen ausspielen. Irgendwann gehen diese gesprochenen Selbstgespräche („selbstbezogenes Sprechen“) in innere Selbstgespräche über und werden zu unserer inneren Stimme.
Sie helfen uns weiterhin dabei, Handlungen durchzuführen, Probleme zu lösen oder Situationen zu bewältigen. Der innere Monolog – oder der innere Dialog – motiviert uns, erinnert uns, verbalisiert unsere Empfindungen, bereitet uns auf Gespräche oder Situationen vor, analysiert und bewertet. Unsere innere Stimme hilft uns dabei, die Welt zu verstehen und ein Teil von ihr zu sein.
Wir können unsere Selbstgespräche bewusst initiieren und auch steuern und damit zum Beispiel gegen intrusive Gedanken vorgehen oder wir nutzen sie, um eine schwierige Aufgabe zu erleichtern oder uns auf eine Situation vorzubereiten. Daneben laufen Selbstgespräche aber auch ganz automatisch und unbewusst ab und uns fällt vielleicht gar nicht auf, dass wir gerade mit uns selbst reden.
Wie ist das jetzt mit der Neurodivergenz?
Wir haben schon gesehen: Selbstgespräche sind nicht auf neurodivergente Menschen beschränkt, sondern jeder Mensch hat einen mehr oder weniger stark ausgeprägten inneren Dialog. Die Wissenschaft geht davon aus, dass Selbstgespräche wichtig für die exekutiven Funktionen sind und untersucht daher die Wirkung und Funktionsweise von inneren Gesprächen bei Menschen mit exekutiven Dysfunktionen.
Diese Studie untersucht beispielweise speziell innere Sprache bei Autismus und bei Schizophrenie mit akustisch verbalen Halluzinationen, hat aber auch einen sehr interessanten Abschnitt über ADHS. Sie kommt dabei zu der Vermutung, dass bei Autismus der innere Dialog seltener genutzt wird (vor allem, wenn die sozio-kommunikativen Fähigkeiten eingeschränkt sind), während er bei ADHS unkontrollierter und damit tendenziell störender ist. Beides könnte nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler negative Auswirkungen auf die exekutiven Funktionen haben.
Ich kann aufgrund meiner eigenen Erfahrungen gerade die ADHS-Sicht sehr gut nachvollziehen. Nachts nicht einschlafen können, weil die Gedanken noch durch den Kopf toben? Klingt doch sehr nach unkontrollierten inneren Mono- oder Dialogen! Und auch intrusive Gedanken (die ja auch bei ADHS häufig sind) sind wahrscheinlich eine Form davon.
Man kann also sagen:
- Selbstgespräche – egal ob verbalisiert oder innerlich (innere Stimme, innerer Dialog, innerer Monolog, innerer Sprache, inneres Gespräch…) – sind sowohl für neurotypische als auch für neurodivergente Menschen üblich.
- Selbstgespräche sind äußerst nützlich.
- Selbstgespräche können bewusst eingesetzt werden.
- Selbstgespräche können aber gerade in unkontrollierter Form auch hinderlich oder schädlich sein.
- Unkontrollierte Selbstgespräche können die Form von negativen Selbstgesprächen oder intrusiven Gedanken annehmen. Es ist möglich, diese negativen Selbstgespräche bewusst zu kontern, indem man positive Selbstgespräche dagegen einsetzt.
Ich mag meine eigenen Selbstgespräche jetzt noch mehr und werde mich zukünftig sicher auch nicht mehr dafür schämen, denn was innere Dialoge alles können ist einfach sehr, sehr cool!