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My neurodivergent life is a piece of art

Deine Neurodivergenz macht dich nicht zum Safe Space

Deine Neurodivergenz macht dich nicht zum Safe Space

10. März 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Als ich das erste Mal online von meinem Autismus erzählte passierte etwas sehr Schönes: Menschen, die ebenfalls Autist*innen waren, begannen, sich mit mir auszutauschen, erzählten mir von ihren Leben, ihren Schwierigkeiten und sofort fühlte ich mich bedeutend weniger alleine.

Eines Tages aber machte ich den „Fehler“ und erzählte davon, dass Duschen für mich oft schwierig wäre, weil ich Wasser auf meiner Haut nicht immer ertragen kann. Eine Person, mit der ich davor sehr viel Kontakt hatte, war empört, beschimpfte mich, beschuldigte mich, ihr das Leben durch solche Aussagen schwerzumachen und erwartete von mir, „so etwas“ nie wieder über Autist*innen zu sagen.

Ich war geschockt. Ich zitterte am ganzen Körper, wiederholte wieder und wieder, was sie gesagt hatte, was sie aufgeregt hatte, was da abgegangen war, sprach mit verschiedenen Menschen darüber und brauchte dennoch am Ende Monate, in denen ich mich auch komplett von Social Media zurückzog, um endlich damit klarzukommen, und die Angst vor einer möglichen weiteren solchen Reaktion zu verlieren.

Irgendwann traute ich mich zurück, traute mich auch wieder, auch „solche“ Dinge zu teilen, aber ich bin bis heute sehr, sehr zurückhaltend, was engeren Kontakt zu anderen Menschen anbelangt – auch und gerade zu anderen neurodivergenten Menschen!

Als marginalisierte Menschen tendieren wir dazu, andere Menschen, die zu unserer Gruppe gehören, automatisch als Safe(r) Space wahrzunehmen. Die sind wie wir! Da müssen wir nicht masken, nicht immer alles erklären, nicht um Verständnis für unsere Probleme bitten, denn wir wissen, dass wir diese Probleme teilen und sie damit verstehen können.

Das passiert in jeder Gruppe: People of Color, Behinderte, neurodivergente Menschen, queere Menschen, Alleinerziehende, Pflegende…. Wir fühlen uns zueinander hingezogen, weil wir ähnliche Kämpfe haben, weil wir wissen, wie es ist, in dieser Gesellschaft nicht immer dazuzugehören und oft sind wir so dankbar dafür, endlich Menschen gefunden zu haben, die so sind wie wir, dass wir vergessen, dass es nicht diese eine Eigenschaft ist, die uns ausmacht, die uns „kompatibel“ zueinander macht, sondern noch viel, viel mehr.

Wir vergessen, dass wir trotz eines identischen Hintergrundes, ganz unterschiedliche weitere Hintergründe haben können, unterschiedliche Werte, unterschiedliche Lebenssituationen und uns in ganz unterschiedlichen Stadien unserer persönlichen Entwicklungsreise befinden können.

Wir haben dennoch etwas gemeinsam – gar keine Frage -, aber all diese anderen Dinge beeinflussen, wie wir miteinander umgehen.

Als ich damals davon erzählte, dass ich Duschen schwierig finde, dass Wasser sich schmerhaft auf meiner Haut anfühlen kann, da war ich total glücklich, denn ich hatte etwas über mich gelernt, das mir schon mein Leben lang Probleme bereitet, mit Scham behaftet ist und mit regelmäßigen inneren Kämpfen verbunden war. Ich war so glücklich, dass es offensichtlich auch anderen Menschen so ging (denn ich hatte in einem Instagram-Post darüber gelesen) und ich wollte diese Freude teilen, damit es noch mehr Menschen so gehen würde, wie mir.

Was mir entgegenkam war Ableismus.

Ich verstehe das heute und ich verstehe auch, dass diese Person ihren internalisierten Ableismus gegen mich gerichtet hat, weil es das Einzige war, was ihr einen Umgang mit ihren eigenen „Schwächen“ ermöglicht hat.

Internalisierter Ableismus der zu einer Waffe gegen andere behinderte Menschen wird, begegnet mir seither immer wieder. Während er mich bei nicht-behinderten Menschen nicht wundert, macht er mich bei anderen behinderten und neurodivergenten Menschen sehr traurig. Ich weiß, dass diese Menschen sich immer wieder selbst dafür verachten, wie sie sind. Ich weiß, dass diese Menschen ihren unreflektierten, internalisierten Ableismus nicht nur gegen andere Menschen richten, sondern auch gegen sich selbst. Ich weiß aber auch, dass es diese Menschen zu einem Risiko für mich und andere behinderte Menschen macht.

Nicht, weil sie denselben ableistischen Gedanken wie die Allgemeinheit anhängen – was schon problematisch genug ist -, sondern weil wir als behinderte und neurodivergente Menschen, dazu neigen, ihnen zu vertrauen, weil sie so sind wie wir. Wir vertrauen ihnen, wir lassen sie an uns heran, wir öffnen uns ihnen gegenüber – und dann werden wir von jenen verraten, denen wir uns eigentlich verbunden fühlen, weil sie ihren eigenen Ableismus noch nicht als Problem erkannt haben, noch nicht ausreichend reflektiert, noch nicht ausreichend überarbeitet haben.

Am stärksten fällt es mir tatsächlich immer wieder in punkto Ableismus auf, aber das ist nicht der einzige dieser Punkte, wo ich merke, dass neurodivergente Menschen für mich oft gefährlicher sind als neurotypische. Auch unterschiedliche Werte, ein unterschiedliches Grundverständnis oder unterschiedliche Basisannahmen können zu einem Risiko werden.

Ich glaube fest an einige Dinge, die mir wichtig sind, die mein Wesen, mein gesamtes Verständnis dieser Welt (mit-)bestimmen und der Punkt ist: Du kannst noch so viele Ähnlichkeiten zu mir haben, noch so viele meiner Marginalisierungen teilen, wenn du in diesen Grundannahmen anders denkst als ich, werden wir einander irgendwann verletzen.

Ich glaube ganz fest daran, dass jede*r von uns selbst für das eigene Handeln verantwortlich ist – aber nicht für das anderer Menschen. Ich glaube ganz fest daran, dass jede*r von uns, das eigene Beste versucht, dieses „Beste“ aber ganz unterschiedlich ist. Ich glaube daran, dass niemand absichtlich anderen schaden sollte. Ich glaube daran, dass wir zur Selbstreflexion fähig sind und regelmäßig unsere eigenen Überzeugungen und Handlungen reflektieren sollten – erst recht, wenn uns jemand einer (anderen) marginalisierten Gruppe für etwas kritisiert.

Ich glaube daran, dass es unser aller Aufgabe ist, die Welt für ALLE Menschen zu einem guten Ort zu machen, und dass wir damit einhergehend alle, die noch weniger eine Stimme als wir selbst haben, ganz selbstverständlich unterstützen müssen und kein Sieg ein echter Sieg ist, wenn er nur für unsere eigene Gruppe errungen wird.

Und ich glaube ganz fest daran, dass jeder Mensch gleich wertvoll ist, egal, ob er reich, berühmt und erfolgreich ist oder nichts davon, egal, ob er Zehntausende Menschen hat, die ihm zuhören, oder gerade mal eine Handvoll. Jeder Mensch ist wertvoll. Jede Stimme ist gleich wichtig.

Daraus folgt auch: Wenn mir viele Menschen zuhören, ist es meine Verpflichtung, meinerseits vielen Menschen zuzuhören! Wenn ich viele Menschen habe, die sich meine Worte zu Herzen nehmen, ist es meine Aufgabe, diese Worte besonders abzuwägen und den Stimmen, die ich selbst nicht bedacht habe, extra Raum zu geben und sie zu verstärken.

Ich weiß heute, dass ich am besten mit Menschen klarkomme, die reflektiert sind, die gelernt haben, auch ihren eigenen Ableismus – und andere (internalisierte) Diskriminierungsformen – zu erkennen und zu hinterfragen, Menschen, die Kritik als Möglichkeit zum Lernen betrachten und bereit sind, zuzuhören, anstatt einfach nur recht haben zu müssen.

Ich mag Menschen mit AuDHS, weil wir oft automatisch Gemeinsamkeiten haben und ich vieles nicht extra erklären muss, aber Neurodivergenz ist nicht das einzige Kriterium, dass jemand zu einem für mich guten Menschen macht.

Und ich glaube, das sollte es auch für dich nicht sein.

Sei wählerisch, wem du vertraust, selbst dann, wenn du unendlich glücklich bist, endlich andere Menschen mit ADHS und/oder Autismus gefunden zu haben. Wir sind nicht alle gut füreinander und du brauchst Menschen, die deine Werte und Überzeugungen unterstützen.

Picture-perfect love🤍

Picture-perfect love🤍

14. Februar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wenn du an Liebe denkst, wie stellst du sie dir vor? Was für ein Bild hast du im Kopf? Wie sieht ein verliebtes Paar für dich aus? Wie siehst du dich als Teil eines solchen Paares? Und was willst du jetzt am liebsten an dir oder deinem Leben verändern, um diese Liebe zu bekommen?

Liebe basiert für uns alle ganz stark auf Bildern und diese Bilder sind in erster Linie geprägt von der medialen Darstellung, von dem, was wir in Büchern lesen oder in Filmen sehen, von dem, wie Liebe von Promis und Influencern zelebriert wird, wie sie online zur Schau gestellt wird oder wie darüber erzählt wird. Ganz automatisch orientieren sich unsere Erwartungen an Liebe daran und ebenso automatisch versuchen wir, unsere Liebe entsprechend zu erleben und auszuleben und ganz automatisch übernehmen wir dabei auch ganz klassische Bilder von Paaren: Mann und Frau.

Also EIN Mann und EINE Frau. Nicht-(cis-)heteronormative oder nicht-monogame Beziehungen sind nach wie vor eher selten sichtbar und damit in den meisten Köpfen als „falsch“ abgelegt (was sie NICHT sind!). Immerhin werden gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen cis-binären Personen inzwischen eher als solche anerkannt, aber immer noch ist es höchst problematisch für allen anderen Formen von Beziehungen.

Dabei sind all diese Bilder von Liebe ohnedies eher Unsinn, als wahr und das, was wir als Liebe und Beziehung gezeigt bekommen, ist in erster Linie ein Mittel für Kommerz. Wir wollen daran glauben, dass Liebe unabhängig vom Kapitalismus funktioniert, dass sie „natürliche Chemie“ ist, unschuldig, zart und rein. Liebe passiert einfach, setzt keine Leistung voraus, keine Selbstoptimierung, keine finanzielle Investition und doch haben natürlich weder Kapitalismus noch Leistungsgesellschaft die Finger davon gelassen und sagen uns, dass es genau das aber doch bitte braucht, damit wir geliebt werden können!

Da braucht es dann weniger Gewicht, mehr Fitness und die richtigen Klamotten, um die richtige Person anzuziehen. Oder Erfolg, Geld und Reisen an die richtigen Orte. Und wenn man diese „richtige“ Person gefunden hat, dann geht es weiter damit: Auf das Gewicht „achten“, sich fit halten, pflegen und natürlich wohl kuratierte Zeit zu zweit: Reisen, romantische Erlebnisse, oder wie wäre es direkt mit dem kuscheligen, zweisamen Van-Life, gerne ergänzt um eine ebenso kuschelige Katze. Was einem halt so – gegen entsprechendes Geld – verkauft werden kann.

Alles natürlich für den „Höhepunkt“ der Liebe: Die Hochzeit.
Oder vielleicht doch lieber erstmal noch die Sterne befragen und am richtigen Mindset arbeiten? (Das ist massiver Sarkasmus! Haltet euch bitte fern von Menschen, die euch erklären, dass ihr an eurem Mindset arbeiten müsst. Ehrlich.)

Aber ernsthaft: Ist euch schon mal aufgefallen, dass so ganz typische Liebesgeschichten in Büchern und Filmen meistens bei der Hochzeit enden? Alles führt zu diesem Ziel, das entsprechend groß und besonders auszufallen hat und danach kommt… ja, was eigentlich? Was kommt denn nach dem Filmende?

Wir bekommen auch da natürlich ein paar Bilder präsentiert und können uns daraus neue Ziele zusammenbauen: Wie wäre es mit einem Haus? Und dann vielleicht ein Hund? Ein Kind. Oder mehrere.

Oder doch erstmal die Karriere und Reisen und die Welt entdecken?

Und dann irgendwann: Gemeinsam alt werden. Das Bild von zwei weißhaarigen Menschen, die immer noch Händchen halten oder sich küssen, denn DAS, das ist doch jetzt wahre Liebe, nicht wahr?

Sorry, auch das ist nichts als ein Bild.

Das ALLES ist Teil unseres Bildes von Liebe und auch, wenn wir das unrealistisch finden: Irgendwo in unserem Inneren leben diese Bilder dennoch und beeinflussen, wie wir uns Liebe vorstellen, wie wir uns Beziehungen, ja unser ganzes Leben vorstellen. Wir träumen davon, so zu lieben, so geliebt zu werden, wie wir es gezeigt bekommen, denn am Ende erleben wir das, was wir am häufigsten sehen, als Normalität und irgendwo wollen dann doch die meisten von uns Normalität.

In Wirklichkeit spielen diese Bilder aber überhaupt keine Rolle und ich glaube, viel mehr Menschen, könnten anfangen ihre eigenen Bilder zu malen, wenn ihnen überhaupt erstmal klar werden würde, wie eingeschränkt die Bilder sind, die wir gezeigt bekommen – oder, dass hinter einem Bild oft viel mehr stecken kann, als wir wahrnehmen. Ich will an der Stelle nur so viel sagen: Der Ehemann und ich wirken nach außen wie ein ganz normales heteronormatives Pärchen. Wir sind es aber nicht. Und ja, ihr dürft euch jetzt gerne alle ausmalen, was das genau bedeutet, vielleicht erzähle ich irgendwann mal ja auch mehr dazu.

Liebe ist kein Bild und du kannst Liebe nicht nach Bildern gestalten.

Liebe hat nichts damit zu tun, welches Geschlecht du oder jemand anderes hat. Liebe ist nicht gemeinsam ausgehen, Blumen schenken und sich zu küssen. Liebe ist kein Ehering, kein gemeinsames Bett und auch kein Sex.

Und doch kann alles davon zu Liebe dazugehören.

Für mich ist Liebe, die gleichen Werte zu teilen, das Wohlbefinden und die Bedürfnisse des anderen zu achten den anderen Menschen ernstzunehmen und da sein zu wollen, wenn er etwas braucht – auch, wenn es vielleicht nicht immer geht. Liebe ist für mich, Ängste ansprechen zu können, traurig sein zu dürfen, anzuerkennen, dass man nicht die einzige wichtige Person im Leben eines anderen Menschen ist. Liebe ist auch Freiraum zu geben, Interesse aneinander zu haben, einander wachsen zu lassen, auch wenn die Wege manchmal in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Liebe ist für mich, zu lächeln, weil ich an jemanden denke und überhaupt, ganz häufig an wen zu denken, auch wenn die Person gar nicht um mich herum ist* und Liebe ist zum Teil auch einfach, geliebt zu werden.

Liebe ist immer anders und das auf unendlich viele Arten und Liebe braucht viel weniger, als wir denken und das, was sie braucht, ist meistens nicht das, was wir auf Bilder bannen könnten. Liebe IST und Liebe hat keinen vorgegebenen Look.

Picture-perfect love existiert nicht – außer du malst dir dein eigenes Bild <3

* Mit-ADHSler*innen verstehen vermutlich, wie das gemeint ist.

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

Let’s talk about: Faulheit

Let’s talk about: Faulheit

13. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wenn ich mich in der Wohnung umsehe, sehe ich Dinge, die herumstehen. Den Drucker, den wir einlagern wollen, den wir dafür aber erst mal ordentlich in den Karton bekommen müssen und der so schwer ist, dass mir die Kraft dafür fehlt und dafür, danach auch nur dabei zu helfen, ihn ins Auto zu bekommen.

Den neuen Abfluss fürs Badezimmer-Waschbecken, den ich nicht montieren konnte, weil Werkzeug fehlte und der seit Monaten als Erinnerung daran, dass ich das noch tun muss, herumliegt.

Den Rest Tiefengrund, der vom Badezimmer übrigblieb, weil ich ihn fürs Schlafzimmer brauche, das ich aber noch nicht angefangen habe, weil meine Ideen zu teuer sind und ich ja auch ständig anderes zu tun finde.

Den Wäscheständer, den ich mal wieder seit Tagen ignoriert habe, dann zwar abgeräumt habe, aber der gleich wieder gefüllt werden wird.

Zwei Töpfe von gestern, als ich köstliche Spaghetti mit Karotten und Zucchini gekocht habe, aber nach dem Essen zu erschöpft zum Spülen war.

Ich schaue mich um und ich sehe Dinge, die herumstehen und ich sehe: „Da ist aber jemand faul!“

„Jemand“ bin natürlich ich, denn ich bin ja hier die „Hausfrau“, diejenigen, die nicht lohnarbeitet, die doch den ganzen Tag Zeit hat, die Dinge, die hier herumstehen, nicht herumstehen zu lassen, sondern wegzuräumen, aufzuräumen, sauber zu machen.

Diejenige, die das nicht macht. Diejenige, die faul ist.

Ich bin aber auch diejenige, die heute Morgen trotz richtig schlechter Nacht, einfach mal zwei Stunden lang das Schlafzimmer aufgeräumt hat, inklusive Schränke und Schubladen sortieren und ausmisten.

Ich bin auch diejenige, die gestern Abend gekocht hat, obwohl ich Schmerzen hatte, obwohl ich danach schon beim Essen total erledigt war und den Rest des Abends nur noch auf der Couch verbringen konnte.

Und ich bin diejenige, die sich fünf Wochen lang einfach so um einen anderen Haushalt und einen Garten kümmert.

Mein Leben lang habe ich gelernt, dass ich faul bin.
Weil ich mich nicht „genügend“ anstrenge. Weil es um mich herum nicht „ausreichend“ ordentlich ist. Weil ich dieses oder jenes nicht mache, von dem die Person, mit der ich gerade rede, aber überzeugt ist, dass es meine Priorität zu sein hätte. Oder weil ich es nicht so mache, wie sie es machen würde.

Oh, und natürlich weil ich dick bin und dicke Menschen halt sowieso faul sind. /s

Wenn du das immer und immer wieder gesagt bekommst, dann glaubst du es. Das ist wie mit Falschnachrichten und Lügen: Es geht überhaupt nicht um den Wahrheitsgehalt, sondern nur um die Wiederholung. Hörst du es nur oft genug, glaubst du es auch und wenn du es erstmal glaubst, findest du plötzlich auch „Beweise“ dafür.

Wenn du erstmal fest daran glaubst, faul zu sein, dann kannst du noch so viel tun, noch so umtriebig sein, noch so vieles bewegen du wirst trotzdem die Töpfe vom Vorabend sehen, den Wäscheständer, den Tiefengrund, den Drucker.

Du wirst sie sehen und du wirst dir sagen, dass du faul bist. Schon wieder!

Vielleicht wirst du dich für einen von Grund auf schlechten Menschen halten, weil du auch das wieder und immer wieder zu hören bekommen hast, bis du es geglaubt hast. Du wirst dich schämen, dich hassen, akzeptieren, dass andere Menschen dich schlecht behandeln, weil ist es nicht das, was du verdient hat, du faules Ding?

Dabei bist du gar nicht faul.

Du tust, was dir möglich ist.

Dein Leben besteht nicht nur aus Aufräumen und Sauberhalten und ordentlich sein, aus Sport treiben und alles im Griff haben.

Nur, weil jemand anderes, andere Prioritäten in seinem Leben setzt und vielleicht lieber eine blitzblanke Wohnung hat, anstatt auf der Couch zu liegen, durch Instagram zu scrollen und zur Ruhe zu kommen, bist du nicht faul.

Vielleicht machst du dafür etwas anderes – vielleicht aber auch nicht. Vielleicht brauchst du mehr Pausen. Vielleicht willst du einfach mehr Pausen.

Du bist deswegen nicht faul.
Du hast einfach nur andere Prioritäten.

Genauso wie ich, wenn die Töpfe stehen bleiben, der Wäscheständer, der Tiefengrund oder der Drucker. Wenn sie wegzuräumen wichtig genug für mich ist, werde ich das schon machen und bis dahin hat halt etwas anderes Priorität. Vielleicht meine Schubladen vielleicht aber auch auf der Couch liegen. Beides ist gleich gut, gleich wichtig, gleich fleißig.

Weil es um mich geht und um das, was mir gut tut. Manchmal ist das Aufräumen. Manchmal halt nicht.

Faulheit existiert nicht.

Faulheit ist nichts als das schlechte Gewissen, das wir uns als Gesellschaft selbst schaffen. Nichts als ein weiterer dieser sinnlosen Maßstäbe, die dazu dienen, uns voneinander abzugrenzen: Die „Guten“ und die „Faulen“… Da will man doch unbedingt bei den „Guten“ sein, nicht wahr?

Weißt du was? Komm‘ lieber zu den „Faulen“! Wir sind nämlich gar nicht faul, wir haben nur unsere eigenen Prioritäten.

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

30. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wisst ihr noch, als ich gesagt habe, ich würde verstehen, dass sich so viele Menschen für „ein bisschen autistisch“ halten würden? Oder, dass sie der Meinung wären, ADHS-Merkmale wären „normal“? Ich verstehe es immer noch, denn vieles von dem, wovon neurodivergente Menschen erzählen, gleicht dem, was andere Menschen auch mal erleben. Es ist nur weit davon entfernt, unserer Lebensrealität zu entsprechen, denn die Intensität, die Häufigkeit und die Einschränkungen, die damit einhergehen, sind ganz, ganz anders.

Ich dachte daher, ich erzähle davon, wie mein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein aussieht, denn das gehört auch zu diesen Dingen, die ja jede*r kennt… oder vielleicht doch nicht?

In vorpandemischen Zeiten war es so, dass mein Mann morgens das Haus verließ, bevor ich aufstand. Er kam nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr zurück und wir hatten dann etwa sechs gemeinsame Stunden, bevor wir schlafen gingen. Am Wochenende verbrachten wir mehr Zeit zusammen, aber im Großen und Ganzen kann man sagen, ich hatte jede Woche etwa 50 bis 60 wache Stunden für mich alleine – und ich brauchte sie nicht nur, sie waren mir auch oft nicht genug.

Durch die Pandemie hat sich viel verändert, der Ehemann hat vermehrt Homeoffice gemacht und ich fand es sehr, sehr schwierig, mich daran zu gewöhnen. Von einem Moment auf den anderen hatte ich gar keine Zeit mehr für mich! Wir waren ständig zusammen und Rückzug bedeutete auf einmal mich hinter meinem Laptop und meinen Noise-Cancelling-Kopfhörern zu verstecken, aber keine echte Ruhe, kein echtes Alleinsein mehr zu haben.

Ich habe mich damit arrangiert, habe mich abgelenkt, habe versucht, damit klarzukommen und dann kam der Moment, als er zurück ins Büro sollte. So wie mich davor der Wechsel von „viel Zeit alleine“ zu „gar keine Zeit alleine“ beeinträchtigt hatte, so ging es mir auch jetzt wieder mit dem Gegenteil. Ich hatte Angst alleine. Ich fühlte mich nicht wohl. Ich lag stundenlang wie erstarrt auf der Couch oder futterte mich durch den Kühlschrank auf der Suche nach emotionaler Regulation. Es war furchtbar.

Wir suchten Lösungen wie ein gemeinsames Mittagessen, damit ich nicht ganz alleine war, und mit der Zeit wurde es besser. Ich fing langsam wieder an, die Zeit alleine zu genießen, sie tatsächlich für mich zu nutzen, anstatt in einen tagtäglichen Wartemodus zu verfallen, wo ich nur darauf wartete, dass er wiederkam.

Und langsam begann auch der konstante Stress nachzulassen, die konstante Überreizung durch die so lange ständige Anwesenheit einer anderen Person bei gleichzeitig fehlender Erholungszeit wurde weniger und ich merkte, dass ich mich endlich wieder ruhiger fühlte.

Momentan habe ich drei Wochentage, wo ich alleine zuhause bin, an einem davon essen wir noch gemeinsam zu Mittag, an den übrigen vier Tagen ist der Mann die ganze Zeit anwesend. Das funktioniert meistens sehr gut, ich merke aber auch: In stressigen Zeiten reicht mir diese Menge an Alleinzeit nicht aus.

Die letzten fünf Wochen habe ich viel, viel Energie in Projekte für andere Menschen gesteckt. Ich mochte das und dennoch hat es mich gleichzeitig sehr, sehr angestrengt. Dazu kamen ein emotional sehr schwieriges Wochenende und das letzte Drittel meines Zyklus und Anfang dieser Woche war ich zu nichts mehr fähig. Totale Überlastung.

Ich konnte keine Gespräche mehr führen, erinnere mich an große Teile der Zeit überhaupt nicht mehr, weiß nicht einmal mehr so recht, was wir gegessen haben. Ich konnte nicht mehr nachdenken, nicht mehr schreiben, nicht mal mehr Ideen haben. Alles war weg und ich unendlich erschöpft.

Ich habe dann den Home-Office-Tag des Mannes mit Noise-Cancelling-Kopfhörern und einer Serie verbracht, habe auch an den anderen Tagen viel, viel Zeit mit nichts als Serie gucken und essen verbracht und dazwischen geputzt und aufgeräumt, weil mir das Gefühl von Ordnung und Kontrolle gut getan hat. Am ersten Tag alleine habe ich ein bisschen herumgemalt, Konzentration war noch schwierig und ich habe immer nur ein Blümchen oder ein Steinchen ausgemalt. Abends habe ich mich hinter meine Serie verkrochen, wollte meine Ruhe haben und es ging mir definitiv nicht gut. Am zweiten Tag allein habe ich den Ehemann darum gebeten, das gemeinsame Frühstück ausfallen zu lassen, damit ich mehr Zeit für mich hatte und am Nachmittag ging es mir immerhin so gut, dass ich meinen Bandwebstuhl bespannen konnte – Serienzeit für mich alleine brauchte ich dennoch. Heute ist Tag 3, an dem ich Zeit nur für mich habe, die Serie ist zu Ende geguckt, ich kann meine Gedanken wieder in Worte fassen und ich hoffe, ich schaffe es heute, etwas zu kochen.

Morgen ist Home-Office-Tag und so sehr ich mich darauf freue, dass der Ehemann anwesend ist – denn ich verbringe wirklich gerne Zeit mit ihm -, so sehr weiß ich auch jetzt schon, dass mir noch ein, zwei oder noch mehr Tage nur für mich sehr gut tun würden.

Ich BRAUCHE diese Zeit nur für mich. Ich brauche Zeit, in der nichts außer mir und meinen Gedanken anwesend ist, in der ich mich auf mich konzentrieren kann, die ich ohne Druck oder Notwendigkeiten steuern und gestalten kann. Ich tue viele Dinge für uns in dieser Zeit – ich kümmere mich um den Haushalt, schmiede Pläne, organisiere Sachen… was man halt normalerweise so nach Feierabend noch erledigen muss. Das kann ich aber wiederum nur, weil diese Tätigkeiten eingebettet sind in Ruhephasen und in Zeiten, in denen mein Kopf nicht mit der Anwesenheit einer anderen Person beschäftigt ist.

(Es gibt eine Szene in der BBC-Serie Sherlock, wo Sherlock einen Polizisten aus dem Raum schickt, weil seine Anwesenheit ihn beim Denken stört. Ich finde diese Szene sehr, sehr nachvollziehbar!)

Mit einem „normalen“ Leben sind 50-60 Stunden Alleinsein pro Woche nicht zu vereinbaren. Also zumindest, wenn man in der Zeit auch Wachsein möchte, denn da kommen ja noch mal 50-60 Stunden Schlaf dazu. Bei 168 Stunden pro Woche heißt das, dass ich selbst eine mir sehr, sehr nahestehende Person im Wachzustand gerade mal rund 40 Stunden ertrage… besser weniger. Und bei weniger nahestehenden Personen sind noch mal deutlich weniger Stunden erträglich.

Mein Leben – unser Leben – ist so weit wie möglich auf meine Bedürfnisse abgestimmt. (Disclaimer: Auch auf die des Ehemanns!) Wir haben das große Glück – das Privileg! -, dass das möglich ist – nicht ohne Einschränkungen, aber trotzdem möglich! Trotzdem komme ich regelmäßig an meine Grenzen, liege metaphorisch am Boden, weil ich nicht mehr kann und bin überfordert, überlastet, überreizt, am Ende meiner Kräfte, verliere Tage, weil nichts mehr geht – weil so das Leben mit meinen psychischen und physischen Einschränkungen nun mal ist. Weil so das Leben mit Behinderungen ist.

Und dennoch, ich wiederhole es: Ich habe Glück!

So, so viele Menschen haben dieses Glück nicht! Sie MÜSSEN irgendwie funktionieren, auch wenn sie schon am Boden liegen, wenn sie sich seit Wochen, seit Monaten, ja seit Jahren nicht mehr komplett erholen konnten, weil ihre Bedürfnisse im Kapitalismus nicht vorgesehen sind. Weil uns weißgemacht wird, dass, wer nichts „leistet“ auch nichts wert ist. Weil wir darauf gedrillt werden, davon auszugehen, dass alle anderen faul sind, sich auf Kosten anderer bereichern wollen würden oder nur einfach härter arbeiten müssten, damit es ihnen besser ginge.

Aber so ist es nicht.

Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern, sind nicht diejenigen, die arm sind, nicht diejenigen, die krank sind, nicht diejenigen, die als nicht fleißig und leistungsfähig genug gelten. Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern sind diejenigen, die unsere Vorbilder sind: Die Reichen, die Mächtigen, die Bewundernswerten.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Vorbilder zu wechseln.

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