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My neurodivergent life is a piece of art

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

5. Februar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Meistens erzähle ich davon, was der Ehemann alles im Alltag für mich übernimmt, wie sehr er mich unterstützt und meine Behinderung – sowohl durch meine chronischen Schmerzen als auch durch meine Neurodivergenz – mitträgt. Heute zeige ich euch aber eine andere Seite, denn behindert zu sein bedeutet bei Weitem nicht, dass der nicht-behinderte Part unheimlich heldenhaft wäre und man als behinderter Mensch nichts zur Beziehung beiträgt.

Fangen wir damit an, dass ich den Ehemann heute angeschrien habe, weil er etwas verschüttet hat.

Nein, das ist nicht mein „toller“ Beitrag zu unserer Partnerschaft, aber es passiert ab und zu, wenn ich sehr viel Stress habe, überreizt, überlastet oder übermüdet bin und nicht so aufmerksam war, wie sonst. Der Ehemann ist nämlich der Typ „zerstreuter Professor“ und ganz oft sehr verpeilt, unaufmerksam und ungeschickt und ich gleiche das im Alltag aus und eliminiere mögliche Probleme, bevor sie passieren, oder bin für ihn „mit aufmerksam“.

Manchmal geht das schief, eben weil ich zu gestresst bin, überreizt oder übermüdet (oder in einer Zyklusphase, wo die Hormone „anstrengend“ sind) und dann explodiere ich innerlich und ein Teil davon landet halt auch äußerlich. Merke ich das rechtzeitig, bitte ich normalerweise den Ehemann darum, an diesem Tag besonders… besonnen zu agieren. Das heißt jetzt nicht, dass er den ganzen Tag Angst haben muss, dass ich wegen Kleinigkeiten explodieren könnte oder er alle eventuellen Fehlerquellen vorweg denken und unbedingt vermeiden muss. Es bedeutet, dass er bewusster handeln muss für diesen Tag.

Auf jemand anderen zu achten ist nämlich ganz schön anstrengend und frisst viel Energie und Nerven und macht es für mich schwierig, abzuschalten, wenn er anwesend ist. All das kann ich bei Stress, Überreizung, Übermüdung etc. einfach nicht leisten und dann muss er das selbst tun.

Ich rede normalerweise nicht darüber. Zu erwähnen, dass man aufpasst, dass der Ehemann nichts unabsichtlich verschüttet oder zerbricht, klingt entweder albern oder übertrieben und ich bekomme dann zu hören, dass ICH da ja wohl wichtiger bin und auf mich selbst achten soll und außerdem: „Er ist doch erwachsen und kann ja wohl selbst aufpassen.“

Aber wisst ihr, ich halte nichts von diesem Konzept, dass jeder Mensch möglichst selbst- und eigenständig zu sein hat und Dinge können muss, weil er eben erwachsen ist. So funktioniert Partnerschaft nicht für uns. Für uns bedeutet Partnerschaft, dass jeder von uns dafür sorgt, dass es dem anderen möglichst gut geht – soweit das halt in unseren Möglichkeiten liegt.

So holt der Ehemann für mich Rezepte und Überweisungen von Ärzt*innen, geht zur Apotheke, kommt beim Einkaufen mit, erledigt die Wäsche, weil man dabei Nachbar*innen begegnen könnte und so weiter; und ich achte auf die Dinge, die für ihn schwierig sind und kümmere mich darum.

Ja, natürlich erwarten wir von Menschen ab einem bestimmten Alter, dass sie all das selbst machen – aufpassen genauso wie einkaufen – und sehen nicht ein, warum „man“ das nicht einfach selbst macht, aber genau das ist es ja: Es ist nicht für jede Person gleich „einfach‘.

Für den Ehemann kostet die notwendige Aufmerksamkeit auf den Alltag Unmengen an Energie – für mich deutlich weniger. Warum sollte ich ihn dazu zwingen seine Energie für etwas zu verpulvern, dass ich ihm zu geringeren „Kosten“ abnehmen kann? Warum sollte er mich dazu zwingen, selbst Rezepte bei Ärzt*innen abzuholen, wenn das für mich super anstrengend ist, während es für ihn eine kleine Aufgabe ist?

Weil jeder von uns erwachsen ist und das können sollte?
Weil wir das „ja mal lernen müssen“?
Weil wir dann nicht zurechtkommen werden, wenn sich unsere Wege trennen sollten?

Sorry, aber das ist halt einfach Quatsch!

Wenn es notwendig ist, schaffen Menschen ganz erstaunliche Dinge. Dinge, die dann Unmengen an Energie und Nerven kosten, aber wir schaffen sie. Falls wir uns irgendwann tatsächlich trennen sollten, wird jeder von uns schon klarkommen und neue Lösungen für die „Problemstellen“ finden.

Solange wir aber zusammen sind, ist es nur logisch, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten die schwachen Stellen der Partnerperson auszugleichen. So sparen wir beide Energie, Kraft, Nerven, Zeit, was weiß ich.

Es hat einfach keinen Sinn, nur zum Lernen oder wegen „Arbeitsteilung“ oder wegen „das muss man aber können“, ständig Dinge zu tun, die super schwierig für einen sind, während jemand danebensteht und es viel einfacher übernehmen könnte. Das heißt ja nicht, dass einer von uns sagt: „Hab‘ keinen Bock auf diese Scheiß-Tätigkeit, die kann ja mein*e Partner*in machen.“

Es ist halt Abwägungssache, Gucken, Ausloten, Diskutieren und so weiter. Es ist der Wunsch, das Leben der Partnerperson so gut und einfach wie möglich zu machen.

Wie möglich! Das bedeutet nicht „dem anderen alles in den Schoß legen“!

„So einfach wie möglich“ bedeutet, dass jeder schaut, wie sich die beste mögliche Variante für alle Beteiligten finden lässt, weil eben alle gleich wertvoll und gleich wichtig sind, ungeachtet ihres Könnens, ihrer Leistungsfähigkeit oder ihres finanziellen Beitrags.

Partnerschaft bedeutet für uns nicht, dass man alles (vermeintlich gerecht) in so viele Teile teilt, wie es Partner gibt und dann jede*r gleich viel leistet. Partnerschaft bedeutet für uns, dass jede*r im Rahmen der eigenen Möglichkeiten daran mitwirkt, dass es allen Personen in der Partnerschaft so gut geht, wie das eben möglich ist, dass alle so viel Zeit und Möglichkeiten haben, ihre Interessen auszuleben, dass alle in den Dingen unterstützt werden, die schwierig für sie sind – egal, wie lächerlich diese Dinge wirken mögen.

Das heißt dann eben auch, dass ich auf den Ehemann „aufpasse“, auch wenn es dazu führt dass ich eher unentspannt bin, wenn er anwesend und nicht längere Zeit „sicher“ beschäftigt ist. Und es heißt, dass ich mich bemühe, ihm Bescheid zu geben, wenn ich nicht ausreichend Energie und/oder Nerven habe, um das zu leisten und er dann eben mehr seiner Energie/Nerven investiert, um selbst auf sich aufzupassen, auch wenn das bedeutet, dass er dann an dem Tag nicht mehr alles so tun kann, wie er das gerne würde.

Es ist ein gegenseitiges auf die jeweiligen Bedürfnisse des anderen achten und dafür sorgen, dass ALLE so viel gute Zeit wie möglich haben können – egal wie die am Ende aussieht.

Ich bin behindert

Ich bin behindert

3. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

CN: Ableismus

Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ich wusste das nicht und das klingt vielleicht seltsam, denn in den letzten Monaten habe ich gelernt, mich selbst so zu bezeichnen: Behindert.

Immer noch kämpfe ich damit, halte mich für die Selbstbezeichnung an manchen Tagen für arrogant und unverschämt, finde mich „nicht behindert genug“ und so, als würde ich übertreiben. Ich habe keine sichtbare Behinderung. Ich humple manchmal wegen meines Bandscheibenvorfalls, ja, aber sonst sieht man mir nicht an, was mich behindert macht – und selbst das Humpeln versuche ich zu vermeiden, denn: Es könnte ja wem auffallen.

Ich fühle mich privilegiert dadurch. Ich werde nicht wegen meiner Behinderung angestarrt, bekomme keine zu neugierigen Rückfragen, kann fast ganz unauffällig sein, wenn ich das möchte und selbst bestimmen, wofür ich auffallen will, wenn ich auffallen will. Kein Mensch nimmt mir diese Entscheidung einfach ab, weil ich körperlich anders wirke als er und er denkt, dass es dadurch zu meiner Pflicht wird, ihn darüber aufzuklären, warum ich denn so anders bin – also bis auf manchmal, wenn die Menschen denken, dass es sie etwas angeht, dass ich dick bin und doch ist das anders.

Wenn die liebe Freundin mir erzählt, dass sie schon wieder in der Bahn angestarrt wurde oder zu einer Veranstaltung nicht gehen möchte, weil sie nicht abschätzen kann, ob dort ihre Bedürfnisse mitgedacht werden, fühle ich zunächst Scham. Scham darüber, nicht daran gedacht zu haben und auch zu denen zu gehören, die sie nicht mitdenken – und dann fällt mir ein, dass ich zum Teil deswegen nicht bewusst daran denke, weil ich das, was sie erzählt, auch irgendwie kenne und als „normal“ empfinde.

Es ist anders bei mir und ich bin mir viel zu oft nicht bewusst, wo genau ihre Schwierigkeiten liegen, und doch gibt es Gemeinsamkeiten, ein ähnliches Erleben, ähnliche Kämpfe, ähnliches Verpassen und Vermeiden – all das, was Behinderung mit uns macht. Mit mir, mit der lieben Freundin und all den anderen Menschen, die auf die eine oder andere Art behindert sind.

Ich bin grundsätzlich ungern in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Es ist anstrengend, wenn viele Menschen um mich herum sind. Ihre Blicke machen mir Angst, ihr Gelächter und ihr Getuschel. Ich will auch nicht die vorwurfsvollen Mienen sehen, weil ich einen Sitzplatz nutze, obwohl ich dick bin. Lieber stehe ich, vor Schmerzen schwitzend, klammere mich an einen Haltegriff und konzentriere mich auf meinen Atem, immer voller Angst, dass die Schwärze vor meinen Augen mich doch noch umwerfen könnte.

Aber ich muss mir zumindest keine Gedanken darüber machen, ob ich das Verkehrsmittel überhaupt betreten werde können…

Letztens wollte ich einen Workshop besuchen. Weidenflechten. Ich habe mich nicht einmal getraut, mich anzumelden, denn neben der Tatsache, dass fremde Menschen immer schwierig für mich sind und ich in sozialen Situationen große Probleme habe, war mir auch nicht klar, wie ich das machen sollte, dort mehrere Stunden eine körperliche Tätigkeit zu verrichten. Ich bräuchte wahrscheinlich alle 30 Minuten eine Pause, müsste mich hinlegen, weil ich mit Schwindel und Schmerzen zu kämpfen habe und würde den ganzen Workshop aufhalten, weil ich… behindert bin. Aber naja, dann besuche ich den Workshop eben nicht, macht ja nichts.

Und doch: Es MACHT was!

Es macht was mit mir, dass ich nicht einfach so mit einem Bus fahren kann, dass ich nicht einfach so zu einem Vortrag oder einem Workshop gehen kann, dass ich nicht einfach so an unbekannte Plätze gehe, weil ich nicht weiß, was mich dort erwartet und ob ich dort klarkommen werde, ob die Menschen dort Masken tragen werden und auf Abstand achten werden. Es macht etwas mit mir, dass ich mir vor jeder noch so kleinen Unternehmung überlegen muss, ob sie für mich geeignet sein wird, oder ich mich zumindest so weit anpassen können werde, dass ich sie durchhalten kann. Ob sie dann noch Spaß macht, mal vollkommen dahingestellt.

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, einfach irgendwo hinzufahren, eine Reise zu buchen, an einer Veranstaltung teilzunehmen oder einen Ausflug zu machen. Ja, das ist bei mir aus anderen Gründen als bei jemandem, dessen Rollstuhl oder Sehbehinderung mitbedacht werden muss, aber am Ende bin ich dennoch behindert.

Ich muss immer meinen körperlichen und psychischen Zustand mitbedenken, meine Energie, meine Aufgaben für die nächsten Tage und Wochen, meine Leidensfähigkeit, meine sozialen Fähigkeiten, mein Durchhaltevermögen, auch in Bezug auf Reize und Menschen. Ich muss Wochen im Voraus planen – und gleichzeitig immer bereit sein, im letzten Moment die Pläne umzuwerfen, weil es dann doch nicht geht.

Sind andere Menschen involviert, meide ich Pläne dann oft komplett. Ich möchte nicht ständig im letzten Moment absagen, will nicht, dass andere auf mich Rücksicht nehmen müssen, möchte ihnen nicht das Gefühl verleihen, dass sie mir nicht so wichtig sind, dass ich mich nicht einfach „ein bisschen zusammenreiße“. Wie sollte ich ihnen auch erklären, dass es eben nicht „ein bisschen zusammenreißen“ ist, sondern weit über meine Grenzen gehen, tagelang NICHTS mehr machen können und zwar wirklich nichts. Gar nichts.

„Nichts machen“ bedeutet für andere Menschen, dass sie nichts „Sinnvolles“ machen. Sie lesen dann vielleicht, basteln, backen, schauen fern, treffen sich mit Freund*innen. „Nichts“. Mein Nichts bedeutet, dass ich auf der Couch liege und mich mit Instagram-Reels ablenke, weil alles, was darüber hinausgeht, zu anstrengend ist. Mein Nichts bedeutet, dass ich nicht mit Menschen kommunizieren kann, nicht kochen kann, nicht basteln kann, keine Hörbücher hören – geschweige denn lesen – kann, nicht einkaufen kann, ja noch nicht mal rausgehen kann. Mein Nichts bedeutet NICHTS und mein Nichts ist die Folge von dem, was für andere Menschen ganz normale, alltägliche Dinge sind!

Ich bin behindert.

Immer noch bin ich erst am Anfang davon, das für mich als wahr zu verstehen, zu begreifen, dass behindert eben nicht nur das ist, was wir sehen, sondern all das, was uns das Leben so viel schwerer macht als den meisten und was wir meistens überspielen, um für andere nicht zu anstrengend zu sein.

Immer noch bin ich erst dabei, mir selbst klarzumachen, dass auch ich behindert bin: Ohne sichtbare Behinderung, ohne die spezifischen Probleme, die aus diesen Behinderungen entstehen, aber durch andere Behinderungen und deren Folgen.

Ich bin behindert und der 3. Dezember ist auch mein Tag.

Nein, das ist nicht egal.

Nein, das ist nicht egal.

25. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

„Da traut man sich ja gar nichts mehr schreiben!“ In letzter Zeit lese ich immer wieder, dass die neurodivergente Community so ausschließend und besserwisserisch wäre, so empfindlich auf falsche Begriffe reagieren würde (z.B. „neurodivers“ statt „neurodivergent“) und sich Neulinge ja gar nichts schreiben trauen würden aus Angst, von irgendjemandem verbal angefahren zu werden.

Ich verstehe diese Angst. Mir geht das in neuen Räumen eigentlich immer so, dass ich mich erstmal nichts sagen traue, wochen-, ja manchmal monatelang nur mitlese, bis ich endlich den Mut fasse, auch selbst etwas zu schreiben. In allen neuen Räumen (und übrigens am stärksten in neurotypischen). Da spielt sehr stark meine Angst vor Zurückweisung hinein, mein Wunsch, niemanden zu verletzen, vielleicht auch ein gewisser Perfektionismus, aber halt auch meine Liebe zur Sprache und zur richtigen Verwendung von Begriffen.

Begriffe sind bedeutsam. Für uns neurodivergente Menschen vielleicht sogar noch mehr als an anderen Stellen.

Für viele von uns ist es wichtig, den Inhalt einer Aussage wirklich, wirklich, wirklich richtig zu verstehen. Wir sind es gewohnt, nicht immer alles so zu verstehen, wie es gemeint ist und dann deswegen anzuecken. Nur wie es denn etwas gemeint? Wie erfasst man das?

Mein Gehirn bleibt manchmal stecken, wenn ein Satz mehrdeutig – oder zumindest nicht absolut eindeutig – ist. Es versucht dann, jede mögliche Bedeutung des Satzes zu verstehen und abzuwägen, welche der*die Sprecher*in denn genau gemeint haben könnte. Oft klappt das nicht, weil es einfach viel zu viele Möglichkeiten gibt, wie ein einzelner Satz gemeint sein könnte und die tatsächliche Bedeutung lässt sich dann eben nur deuten. Richtige, eindeutige Begriffe helfen da.

Deswegen sind auch Redewendungen und Metaphern vor allem für Autist*innen manchmal schwierig. Wir versuchen nämlich, sie absolut richtig zu verstehen. Redewendungen, die wir nicht kennen, sind dann erstmal verwirrend, denn wir erkennen vielleicht noch nicht einmal, dass es eine Redewendung ist, versuchen, das Gesagte wörtlich zu verstehen und stolpern darüber, dass es wortwörtlich einfach keinen Sinn ergibt. Das wird im Laufe der Jahre oft besser, weil wir immer mehr Redewendungen kennen und sie oft ja auch selbst verwenden – noch mehr, wenn Sprache ein Spezialinteresse ist.

Was aber bleibt ist eine gewisse Unsicherheit an vielen Stellen.

Vielleicht kennst du das, wenn jemand zu dir sagt „Wir treffen uns nächstes Wochenende.“ und du fragst dich: „Ist das in 3 Tagen oder in 10?“ „Nächstes Wochenende“ ist nicht so eindeutig, wie wir oft denken und bei unseren Gesprächspartner*innen lösen wir dann damit Verwirrung aus. Nach einem kurzen peinlichen Moment suchen wir nach besseren Erklärungen und legen uns vielleicht auf ein genaues Datum fest, um alle Missverständnisse zu vermeiden.

Viele Autist*innen lieben es, sich möglichst genau auszudrücken. Wir „oversharen“, wir verwenden Klammern und Gedankenstriche, Fußnoten und Einschübe, denn wir wollen das, was wir von uns geben, so unmissverständlich wie nur irgendwie möglich machen. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten auch immer noch dazu schreiben, in welcher Verfassung ich einen Text gerade verfasst habe, nur damit auch ganz sicher klar ist, wie etwas gemeint ist. Wäre es trotzdem nicht, also kann ich mich bremsen.

Für uns sind genaue Begriffe also tatsächlich wichtig. Sie helfen uns, Klarheit herzustellen und Unsicherheiten zu vermeiden.

Und ja, manchmal sind wir auch ein bisschen besserwisserisch und wollen, dass du den richtigen Begriff verwendest, selbst wenn wir dich auch sonst verstehen. Für mich fühlt es sich nach Wertschätzung an, wenn du dich um die richtigen Begriffe bemühst und im Gegenzug fühle ich mich oft nicht respektiert, wenn dir Begriffe, die für mein Leben wichtig sind, egal sind. Zusätzlich kann ein „neurodivers“ statt „neurodivergent“ bei mir tatsächlich dazu führen, dass ich auf etwas nicht reagieren kann – nicht, um dir eine Lektion zu erteilen, sondern weil mein Gehirn quasi einen Kurzschluss hat und nicht mehr korrekt funktioniert. Ja, wegen einer Kleinigkeit wie einem falschen Wort! Ich bin Autistin. Mein Kopf funktioniert eben so.

Was auch noch eine Rolle bei unserer „Pingeligkeit“ in Bezug auf Begriffe spielt: Viele Autist*innen legen sehr großen Wert auf Regeln. Richtige Begriffe fühlen sich für mich durchaus wie eine Regel an und verwendest du den falschen Begriff, brichst du quasi die geltende Regel und ich winde mich innerlich, weil ich natürlich weiß, dass das keine große, wichtige Regel ist, aber sie sich für mich an dieser Stelle wichtig anfühlt, weil sie „richtig“ von „falsch“ trennt.

Ich verstehe, dass all das dazu führen kann, dass neurodivergente Communities sich beängstigend anfühlen, wenn man das erste Mal mit ihnen in Kontakt kommt. Ich verstehe auch, dass es problematisch ist, so viel Wert auf Begriffe zu legen, die man ja erstmal kennen und lernen muss. Und ja, wir reagieren nicht immer lieb und geduldig, sondern sind auch mal genervt und haben keine Lust, zu erklären, warum der von dir verwendete Begriff falsch ist. Das ist menschlich. Genauso wie es menschlich ist, wenn du einen falschen Begriff verwendest.

Ich nehme es dir nicht übel, wenn du das machst – auch, wenn du dadurch einen inneren Konflikt oder einen Kurzschluss in mir auslöst -, aber wenn ich oder ein anderer neurodivergenter Mensch mal nicht geduldig mit dir ist, denke bitte daran, dass du in unseren Raum kommst und wir diejenigen sind, die dort sie selbst sein können sollten.

Das bedeutet nicht, dass du keine Fehler machen darfst. Aber so, wie du vielleicht von uns erwartest, dass wir dir deine Fehler nachsehen, erwarte ich auch von dir, dass du uns so nimmst, wie wir sind: Autistisch.

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

13. Oktober 2022 Claudia Comments 0 Comment

Vor vielen, vielen, vielen Jahren war mein Spezialinteresse PHP, eine Skriptsprache, mit der sich viele Online-Anwendungen realisieren lassen. Nicht, dass ich damals schon wusste, was ein Spezialinteresse ist, aber rückblickend, war es definitiv genau das.

Ich hatte 2001 mit PHP angefangen, mich sofort darin vertieft und alles darüber gelernt und ausprobiert, was mir irgendwie in den Sinn kam. Nach kurzer Zeit schrieb ich ein Tutorial dazu – eigentlich nur, um einem Freund PHP zeigen und erklären zu können – und es entwickelte sich zu einer Anlaufstelle für all jene Menschen, die mit den üblichen Programmier-Tutorials nicht zurechtkamen.

In den folgenden Jahren programmierte ich viel für mich selbst, aber auch für andere. Ich liebte die Herausforderung, die Probleme und die Wege zu einer Lösung. Ich liebte die Art zu denken und was mein Gehirn damit machte. Ich suchte mir immer neue Aufgaben, experimentierte mit Dingen, die so gut wie gar nicht dokumentiert waren und probierte einfach herum, bis etwas für mich funktionierte.

PHP war für mich ein ganz großer, wichtiger Teil meines Lebens, ja meiner Identität. Wenn ich mich damit beschäftigte, schien alles zu glitzern und zu funkeln, in meinem Kopf leuchteten die Verbindungen auf, lockten mich, führten mich. Alles war fließend und wunderschön…

… und dann kam ein Tag, an dem alles verschwand.

Ich steckte in einem größeren Projekt, eine Internetseite mit stark personalisiertem Content Management System, hatte viele tolle Ideen, die ich noch einbringen wollte, spannende Überlegungen… und plötzlich verstand ich nichts mehr. Nicht meine eigenen Gedanken, nicht meine Pläne, nichts von dem bereits geschriebenen Code.

Da stand etwas, ja, ich konnte es auch lesen, aber ich verstand nicht mehr, was es tun würde. Ich verstand nicht mehr, was ich davor oder danach oder drumherum brauchte, um etwas damit zu erreichen. Ich verstand nicht mehr, was ich tun musste, um ganz simple Dinge, die ich schon hunderte Mal gemacht hatte, wieder zu machen.

Mein Kopf fühlte sich gleichzeitig komplett leer und übervoll an, alle Verbindungen, die darin immer vorhanden waren und die so wunderschön und verlockend geglitzert hatten, waren abgerissen, nichts leuchtete mehr und diese dunkle Leere schien mich zu verschlucken, während all die kaputten Fetzen mich erdrückten.

Ich quälte mich durch das Projekt – es musste ja fertig werden -, behalf mir mit Copy&Paste und ein paar ziemlich unsauberen Stellen, die meinem Verständnis von mir selbst und meiner Arbeit sehr, sehr zuwider liefen. Gleichzeitig war mir aber klar: Es ging nicht anders.

Jedes Mal, wenn ich versuchte, auch nur aus den Augenwinkeln auf mein ehemals glitzerndes Netz zu schauen, bekam ich Kopfschmerzen, alles schien sich zusammenzuziehen, wie in einem Krampf, jeder Gedanke an Code, Funktionen, Aufgaben, Lösungen war wie ein Schlag ins Gesicht.

Das Projekt habe ich noch abgeschlossen, aber danach hieß es, damit klarzukommen, dass ich einen Teil von mir selbst verloren hatte. Ich liebte coden! Ich liebte diese Denkweise! Ich sehnte mich danach. Aber sie gehörte nicht mehr zu mir….

Ich erinnere mich nicht mehr an die Zeit danach, sie ist für mich wie gelöscht. Meine einzige Erinnerung ist die daran, dass jede Bitte um Wartung einer Internetseite, die ich entwickelt hatte, mich in ein dunkles Loch schleuderte, ich total verzweifelt war und diese Barriere, die da in meinem Kopf war, mich unendlich quälte.

Es waren zum Glück immer nur Kleinigkeiten, die sich dann am Ende doch lösen ließen – mit einem absolut nicht gerechtfertigten Aufwand, aber irgendwie bekam ich sie hin; und war unendlich froh, als die Anfragen immer seltener wurden.

Ich kann bis heute nicht mehr wirklich programmieren. Manchmal versuche ich es noch, sehe eine spannende Aufgabenstellung, mit der ich mich beschäftigen möchte und hin und wieder ist dann für einen Moment sogar wieder das Spielerische, Faszinierende da. Das glitzernde, funkelnde, fließende Netzwerk ist aber nie wieder zurückgekommen und Anfragen zum Thema PHP führen immer noch zu Angst vor der großen, dunklen, alles lähmenden Klammer in meinem Kopf.

Ich weiß bis heute nicht, was da passiert ist, neige aber inzwischen dazu, es als Form eines autistischen Burnouts zu verstehen. Ich weiß nicht, was dazu geführt hat, erinnere mich nur an viel Stress und Druck und Angst und Hilflosigkeit – die meisten Erinnerungen an diese Zeit sind aber einfach weg.

Es fehlt mir immer noch hin und wieder: Das Programmieren, dieser Teil von mir, das wunderschöne Netzwerk, das in meinem Kopf glitzerte, die Zufriedenheit, wenn ich ein Problem lösen konnte, diese Klarheit, die im Code lag… Es war wunderschön.

Ein behinderter Blick: Online-Shops vs. lokaler Handel

Ein behinderter Blick: Online-Shops vs. lokaler Handel

14. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 2 comments

Kennt ihr diese Schlagzeilen, dass die Innenstädte veröden, die lokalen Einzelhändler sterben und an allem der böse, böse Onlinehandel Schuld hat? Ja? Aber kennt ihr auch die Schlagzeilen, dass der Onlinehandel so zugänglich und behindertenfreundlich ist und zu Recht immer größeren Zulauf erhält? Nein? Verständlich, weil darüber berichtet nämlich niemand.

Ich bin Autistin, habe ADHS, eine soziale Angststörung, eine (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, chronische Schmerzen, Fatigue, bin dick und noch ein paar Dinge mehr, die hier aber nicht so wichtig sind. Was wichtig ist: Meine verschiedenen Probleme führen dazu, dass klassisches Shopping für mich voller Probleme und Hürden steckt.

Das beginnt schon damit, dass ich nicht ohne weiteres zum nächstgelegenen Laden komme. Wir wohnen am Stadtrand, bis zu einem Basic-Lebensmittelladen ist es ein Kilometer. An guten Tagen laufe ich das – aber die guten Tage sind gerade sehr selten.

Brauche ich mehr als Lebensmittel wird es schon komplizierter, denn schon alleine der nächste Schuhladen ist fußläufig nicht mehr wirklich erreichbar. Ich könnte also den Bus nehmen, aber der Bus ist als Autistin mit sozialer Angststörung jedes Mal eine enorme Belastung und ich bin nach der Busfahrt so erschöpft, dass ich eigentlich direkt wieder ins Bett müsste, um mich dort den Rest des Tages zu erholen.

Also Auto? Ja, funktioniert, aber dann kommt das nächste Problem: Sensorische Überreizung.

Läden sind hell, laut und oft voller Menschen und ich kann nichts davon ausblenden, weil mein Kopf Reize nicht filtert, sondern jeden einzelnen davon verarbeiten möchte. Das ist so, als würden 10 wichtige Menschen gleichzeitig mit dir reden und du MUSST allen zuhören, weil ihre Informationen wichtig sind und sie von dir erwarten, dass du sie beachtest. Sie werden sie nicht wiederholen, du bekommst sie auch nicht schriftlich und Fehler darfst du dir nicht erlauben, also hörst du besser zu. Allen! Klingt anstrengend? Ja! Genau das ist es.

Und jetzt stell‘ dir vor, du musst, während diese Menschen mit dir reden, auch noch entscheiden, was du in dem Laden kaufen möchtest. Du musst Schuhe anprobieren (noch mehr Reize!), du musst sie vergleichen, Preise nachschauen und schließlich eine Entscheidung treffen – und immer noch reden diese zehn Menschen mit dir und du darfst nichts von dem, was sie sagen verpassen!

Währenddessen bereitet das grelle Licht dir Kopfschmerzen, deine Ohren tun weh vom Lärm, deine Haut fühlt sich an, als wärst du durch ein Brennnessel-Feld gelaufen und innerlich möchtest du am liebsten explodieren, weißt aber, dass das gerade nicht geht.

Irgendwann schaffst du es in dem ganzen Trubel, dich für ein paar Schuhe zu entscheiden, du schaffst es, sie zu bezahlen und jetzt musst du nur noch mit ihnen nach Hause kommen – und hoffen, dass deine Entscheidung nicht allzu schlecht war, denn sonst musst du sie zurückbringen und neue aussuchen und das ganze Drama geht von vorne los!

Aber selbst, wenn du es irgendwie geschafft hast, tolle Schuhe mit denen du echt glücklich bist zu finden: Der Preis dafür ist hoch, denn dieser eine Einkauf hat deine Energie für den ganzen Tag erschöpft – und oft auch für den nächsten und den übernächsten. Ja, du hast deine Schuhe, aber du wirst heute nichts mehr kochen können, dich nicht mit Freund*innen unterhalten können – von treffen reden wir gar nicht erst -, nicht mehr arbeiten können und dein geliebter Sport? Vergiss ihn – du hast doch ein paar Schuhe!

Ja, es gibt Läden, die angenehmer sind. Sie sind vielleicht kleiner oder leiser oder du hast das Glück zu einem Zeitpunkt dort zu sein, zu dem kaum andere Menschen unterwegs sind und das ganze Einkaufserlebnis ist dadurch deutlich weniger anstrengend.

Jetzt kommt aber noch dazu, dass ich dick bin und dass ich oft sehr spezielle Interessen habe und dafür sehr spezielle Dinge benötige. Kleidung in meiner Größe vor Ort kaufen? Schwierig. Sehr schwierig. Eine sehr spezielle Silikonform für mein Spezialinteresse Backen vor Ort kaufen? Unmöglich. Ernsthaft. Unmöglich.

Das, was ich möchte, gibt es oft vor Ort nicht. Auch, wenn ich einen echt guten Tag habe und es schaffe, 3, 4, 5 Läden abzuklappern – es gibt diese Dinge nicht und noch nicht mal etwas Vergleichbares! Online tippe ich das, was ich möchte in eine Suchmaschine ein und in 9 von 10 Fällen werde ich fündig und kann das Gewünschte direkt bestellen – manchmal habe ich Pech und es ist in Deutschland nicht verfügbar (oder die Lieferkosten sind mir hoch).

Ich bekomme also das, was ich gerne hätte und es kostet mich auch noch deutlich weniger Energie.

Für mich ist Onlineshopping einfach so, so viel zugänglicher!

  • Ich bin nicht darauf angewiesen, dass ich körperlich dazu in der Lage bin, das Haus zu verlassen, zu einem Laden zu kommen und ihn zu betreten.
  • Ich muss nicht mit sensorischen Problemen im Laden kämpfen, denn der „Laden“ ist direkt in meinem Wohnzimmer und dort bestimmte ich die Umgebungsparameter.
  • Ich muss nicht mit fremden Menschen kommunizieren um das, was ich gerne hätte, auch zu bekommen, denn Onlineshops haben dafür Suchfunktionen.
  • Ich bekomme Dinge, die ich vor Ort einfach nicht bekommen kann.
  • Ich kann Preise direkt zwischen verschiedenen Shops vergleichen.
  • Ich kann über Produkte recherchieren und bekomme oft bessere Informationen als im Laden.
  • Ich bekomme alles nach Hause geliefert.
  • Ich kann zuhause ganz ohne Stress alles an- und ausprobieren.
  • Ich habe Zeit, um mich zu entscheiden, ob ich etwas möchte oder nicht und reduziere damit Impulskäufe.
  • Ich kann Fehlkäufe zurückschicken.

Ja, Onlineshopping hat Probleme, viele sogar! Aber ich habe so die Nase voll davon, dass der „lokale Einzelhandel“ als besonders schützenswert angesehen wird, während darüber nachgedacht wird, wie man Onlineshopping unattraktiver machen kann!

Ich erwarte überhaupt nicht mehr, dass der lokale Einzelhandel für mich zugänglich – geschweige denn attraktiv – ist, aber die Sache ist doch die: Entweder der lokale Einzelhandel passt sich an mich als Kundin an oder er lebt damit, dass ich mir eine Alternative suche!

Einzelhändler*innen haben immer weniger Kundschaft, weil alle lieber online kaufen? Ich verrate euch was: Es liegt nicht an den günstigen Preisen. Online ist oft überhaupt nicht billiger. Aber es ist zugänglicher, verfügbarer, einfacher, energiesparender und nervenschonender!

Natürlich kann der lokale Einzelhandel nicht alle Wünsche abdecken – ich verstehe total, dass meine ganz spezielle Silikonform vor Ort nicht verfügbar ist -, aber ist es wirklich so, dass 90 % der Menschen im Gegensatz zu mir gerne helle Lichter und laute Musik beim Einkaufen haben? Oder stört es sie nur einfach nicht und der Handel freut sich, weil er dann nichts verändern muss und die Marketing-Bibeln doch alle sagen, dass Dauerbeschallung zu mehr Einkäufen führt? Dann freut euch, aber wundert euch nicht länger, dass Menschen, die mit lauter Musik nicht zurechtkommen, nicht bei euch einkaufen wollen – ihr wollt sie ja offensichtlich überhaupt nicht als Kund*innen haben!

Wollt ihr doch? Dann werdet verdammt noch mal zugänglicher für Menschen wie mich, bevor sie euch alle davonlaufen!

Bei mir ist es schon zu spät, denn ich genieße die Vorteile des Onlineshoppings mittlerweile viel zu sehr, als dass ich mich wieder auf den ach so guten, alten lokalen Einzelhandel einlassen wollen würde, aber es gibt Menschen, die tatsächlich gerne vor Ort einkaufen und es wird Zeit, dass der lokale Einzelhandel sich für deren Bedürfnisse interessiert!

Zerstört mein Verhalten den lokalen Einzelhandel? Nein. Der lokale Einzelhandel zerstört sich selbst und das tut mir so leid für die Menschen, die auf ihn angewiesen sind!

PS: Ja, Mitarbeiter*innen im Onlinehandel und Paketzusteller*innen haben es oft hart und das finde ich echt Mist – nur glaubt bitte nicht, dass Mitarbeiter*innen im lokalen Einzelhandel es so viel besser haben. Die Probleme sind oft andere – und oft auch die gleichen.

PPS: Ja, große Onlinehändler, die ihre Steuern möglichst klein rechnen sind scheiße. Aber glaubt ihr, dass euer lokaler Einzelhändler vor Ort – der ja in den meisten Fällen auch nur Teil einer größeren Kette ist -, das nicht auch macht – soweit es ihm halt möglich ist?

Das ist meine Sicht und meine Gründe, warum ich lieber online einkaufe. Es gibt aber genau so auch behinderte Menschen, für die vor Ort einkaufen Vorteile gegenüber Online-Shopping hat!

Unsere Probleme und Lösungsansätze sind einfach unterschiedlich. Gemeinsam haben wir, dass wir uns wünschen würden, dass unsere Bedürfnisse besser berücksichtigt werden und das Einkaufen – wie und wo auch immer – dadurch für uns einfacher werden und uns weniger Energie kosten würde.

Let’s talk about: Faulheit

Let’s talk about: Faulheit

13. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wenn ich mich in der Wohnung umsehe, sehe ich Dinge, die herumstehen. Den Drucker, den wir einlagern wollen, den wir dafür aber erst mal ordentlich in den Karton bekommen müssen und der so schwer ist, dass mir die Kraft dafür fehlt und dafür, danach auch nur dabei zu helfen, ihn ins Auto zu bekommen.

Den neuen Abfluss fürs Badezimmer-Waschbecken, den ich nicht montieren konnte, weil Werkzeug fehlte und der seit Monaten als Erinnerung daran, dass ich das noch tun muss, herumliegt.

Den Rest Tiefengrund, der vom Badezimmer übrigblieb, weil ich ihn fürs Schlafzimmer brauche, das ich aber noch nicht angefangen habe, weil meine Ideen zu teuer sind und ich ja auch ständig anderes zu tun finde.

Den Wäscheständer, den ich mal wieder seit Tagen ignoriert habe, dann zwar abgeräumt habe, aber der gleich wieder gefüllt werden wird.

Zwei Töpfe von gestern, als ich köstliche Spaghetti mit Karotten und Zucchini gekocht habe, aber nach dem Essen zu erschöpft zum Spülen war.

Ich schaue mich um und ich sehe Dinge, die herumstehen und ich sehe: „Da ist aber jemand faul!“

„Jemand“ bin natürlich ich, denn ich bin ja hier die „Hausfrau“, diejenigen, die nicht lohnarbeitet, die doch den ganzen Tag Zeit hat, die Dinge, die hier herumstehen, nicht herumstehen zu lassen, sondern wegzuräumen, aufzuräumen, sauber zu machen.

Diejenige, die das nicht macht. Diejenige, die faul ist.

Ich bin aber auch diejenige, die heute Morgen trotz richtig schlechter Nacht, einfach mal zwei Stunden lang das Schlafzimmer aufgeräumt hat, inklusive Schränke und Schubladen sortieren und ausmisten.

Ich bin auch diejenige, die gestern Abend gekocht hat, obwohl ich Schmerzen hatte, obwohl ich danach schon beim Essen total erledigt war und den Rest des Abends nur noch auf der Couch verbringen konnte.

Und ich bin diejenige, die sich fünf Wochen lang einfach so um einen anderen Haushalt und einen Garten kümmert.

Mein Leben lang habe ich gelernt, dass ich faul bin.
Weil ich mich nicht „genügend“ anstrenge. Weil es um mich herum nicht „ausreichend“ ordentlich ist. Weil ich dieses oder jenes nicht mache, von dem die Person, mit der ich gerade rede, aber überzeugt ist, dass es meine Priorität zu sein hätte. Oder weil ich es nicht so mache, wie sie es machen würde.

Oh, und natürlich weil ich dick bin und dicke Menschen halt sowieso faul sind. /s

Wenn du das immer und immer wieder gesagt bekommst, dann glaubst du es. Das ist wie mit Falschnachrichten und Lügen: Es geht überhaupt nicht um den Wahrheitsgehalt, sondern nur um die Wiederholung. Hörst du es nur oft genug, glaubst du es auch und wenn du es erstmal glaubst, findest du plötzlich auch „Beweise“ dafür.

Wenn du erstmal fest daran glaubst, faul zu sein, dann kannst du noch so viel tun, noch so umtriebig sein, noch so vieles bewegen du wirst trotzdem die Töpfe vom Vorabend sehen, den Wäscheständer, den Tiefengrund, den Drucker.

Du wirst sie sehen und du wirst dir sagen, dass du faul bist. Schon wieder!

Vielleicht wirst du dich für einen von Grund auf schlechten Menschen halten, weil du auch das wieder und immer wieder zu hören bekommen hast, bis du es geglaubt hast. Du wirst dich schämen, dich hassen, akzeptieren, dass andere Menschen dich schlecht behandeln, weil ist es nicht das, was du verdient hat, du faules Ding?

Dabei bist du gar nicht faul.

Du tust, was dir möglich ist.

Dein Leben besteht nicht nur aus Aufräumen und Sauberhalten und ordentlich sein, aus Sport treiben und alles im Griff haben.

Nur, weil jemand anderes, andere Prioritäten in seinem Leben setzt und vielleicht lieber eine blitzblanke Wohnung hat, anstatt auf der Couch zu liegen, durch Instagram zu scrollen und zur Ruhe zu kommen, bist du nicht faul.

Vielleicht machst du dafür etwas anderes – vielleicht aber auch nicht. Vielleicht brauchst du mehr Pausen. Vielleicht willst du einfach mehr Pausen.

Du bist deswegen nicht faul.
Du hast einfach nur andere Prioritäten.

Genauso wie ich, wenn die Töpfe stehen bleiben, der Wäscheständer, der Tiefengrund oder der Drucker. Wenn sie wegzuräumen wichtig genug für mich ist, werde ich das schon machen und bis dahin hat halt etwas anderes Priorität. Vielleicht meine Schubladen vielleicht aber auch auf der Couch liegen. Beides ist gleich gut, gleich wichtig, gleich fleißig.

Weil es um mich geht und um das, was mir gut tut. Manchmal ist das Aufräumen. Manchmal halt nicht.

Faulheit existiert nicht.

Faulheit ist nichts als das schlechte Gewissen, das wir uns als Gesellschaft selbst schaffen. Nichts als ein weiterer dieser sinnlosen Maßstäbe, die dazu dienen, uns voneinander abzugrenzen: Die „Guten“ und die „Faulen“… Da will man doch unbedingt bei den „Guten“ sein, nicht wahr?

Weißt du was? Komm‘ lieber zu den „Faulen“! Wir sind nämlich gar nicht faul, wir haben nur unsere eigenen Prioritäten.

Urlaub zuhause?

Urlaub zuhause?

9. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Ich habe im letzten Teil der neurodivergenten Urlaubstipps angesprochen, dass ein Urlaub zuhause vielleicht die bessere Entscheidung sein kann – oder auch gar nicht anders möglich ist. Jetzt ist Urlaub ohne wegfahren aber immer mit einer gewissen Enttäuschung und Unzufriedenheit verbunden, denn irgendwie verbinden wir Urlaub mit Wegfahren und sich zu Hause erholen, dort, wo ohnedies schon viel zu viel Stress herrscht – wie soll das gehen?

Deswegen jetzt meine Ideen für Urlaub zuhause!

Was macht Urlaub zu Urlaub?

Für mich heißt Urlaub erstmal „frei haben“ und ja, das klingt vielleicht ein bisschen merkwürdig von einer Person, die keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Wovon sollte ich frei haben? Vom Nichtstun?

Die Sache ist aber die: Ich tue ja überhaupt nicht nichts!

Ich organisiere mein und unser Leben, arbeite quasi konstant an meiner psychischen Gesundheit, manage meine Schmerzen, kümmere mich um den Haushalt und schreibe solche Texte. Frei haben heißt für mich daher: Ich lasse die Dinge, die ich ruhen lassen kann, ruhen.

Natürlich hören meine Schmerzen nicht einfach so auf, nur weil ich jetzt Urlaub habe, und auch meine Psyche hält sich nicht unbedingt an Urlaubszeiten, sondern wird auch im Urlaub getriggert und dann muss ich mich darum kümmern – hilft ja nichts. Und auch der Alltag ist ja nicht einfach weg – noch weniger, wenn ich nicht wegfahre, sondern zuhause bleibe.

Es läuft also auf eine Minimal-Lösung hinaus: So wenig wie möglich, so viel wie nötig.

Bei mir heißt das, ich kümmere mich für meine festgelegte Urlaubszeit nicht um E-Mails, Briefe, Telefonate, organisiere keine Termine und lege den Urlaub – oder die Termine – so, dass ich keine Termine IM Urlaub habe.

Frage dich also: Wo kannst du deinen Alltag in eine Art Urlaubsmodus versetzen? Was kannst du vielleicht für eine Weile ignorieren? Worum musst du dich nicht ständig oder sofort kümmern und kannst es auf später verschieben? Der Alltag geht natürlich nicht weg, aber vielleicht kannst du ihn dennoch auf „später“ verschieben.

Dir würde das im Nachhinein mehr Stress bereiten? Dann finde deine persönliche Variante davon!

Stressfaktoren herausfinden und reduzieren

Was stresst dich in deinem Alltag? Ja, ich weiß, das stressigste sind die Dinge, die nicht von dir beeinflussbar sind und die wirst du natürlich auch im Urlaub nur bedingt los, aber ich denke, wir alle haben auch Stressfaktoren, die wir selbst beeinflussen können.

Das sind die Dinge, die oft mit unserer eigenen Einstellung zusammenhängen. Vielleicht denkst du, dass es wichtig wäre, eine ordentliche Wohnung zu haben, aber in Wirklichkeit stresst dich das Aufräumen viel mehr, als dir die aufgeräumte Wohnung zurückgibt. Vielleicht kochst du zwar total gerne, aber es täglich tun zu müssen, bedeutet für dich Stress. Vielleicht steigst du täglich auf die Waage und wenn sie sich in die falsche Richtung bewegt, ist dein Tag schon gelaufen.

Was ich sagen möchte: Finde die Kleinigkeiten heraus, die dafür sorgen, dass du dich gestresst oder schlecht gelaunt fühlst und schmeiße sie (mindestens) für den Urlaub aus deinem Leben – es ist total okay, die Wohnung nicht aufzuräumen, zu snacken statt täglich zu kochen oder die Waage einfach mal zu ignorieren.

Entspannungsfaktoren suchen und verstärken

Hier geht es jetzt genau in die andere Richtung: Was tut dir gut? Was erholt dich? Was beruhigt dich? Wann fühlst du dich wohl?

Ich weiß, das sind oft Dinge, die wieder andere Sachen voraussetzen und auf umso mehr Arten wir eingeschränkt sind – finanziell, körperlich, sensorisch… -, umso mehr Möglichkeiten fallen natürlich weg. Ich möchte dich aber dazu anregen, nach den Dingen zu suchen, die dir trotz deiner Einschränkungen möglich sind, denn die gibt es, selbst wenn sie manchmal nur ganz klein und unscheinbar wirken.

Wenn du erstmal weißt, was dir guttut, dann nutze deinen Urlaub dafür, umso viel davon zu machen wie möglich – und das so oft wie es nur geht.

Ein zusätzlicher Tipp: Halte dich nicht an den Dingen fest, die dir früher möglich waren, es jetzt aber nicht mehr sind. Ich weiß, das ist unheimlich bitter und frustrierend und du musst darüber trauern. Du möchtest dir aber gerade etwas Gutes tun und deswegen: Schiebe das zumindest für jetzt beiseite!

Mach‘ es dir schön

Bist du gerne bei dir zuhause? Fühlst du dich dort wohl? Oder ist es eher so, dass du selbst bei dir zuhause nie ganz zur Ruhe kommst?

Dein Zuhause sollte der Ort sein, wo du wirklich gerne bist, wo du entspannen kannst und möglichst keinen Stress hast – nicht nur, wenn du den Urlaub dort verbringst, sondern immer. Es ist dein Rückzugsort.

Deswegen frage dich, ob und was dir fehlt, um zuhause wirklich zuhause zu sein. Vieles lässt sich nicht beeinflussen – die ewig lauten Nachbar*innen wirst du nicht loswerden und wenn du seit Wochen eine Baustelle vor der Tür hast, wird sie auch nicht einfach so verschwinden, weil dir das guttun würde.

Anderes aber kannst du verändern: Du fühlst dich in deinem Bett nicht wirklich sicher? Vielleicht hilft es dir, es an einen anderen Platz zu schieben? Du würdest gerne einem neuen Hobby nachgehen, aber dir fehlt der Platz? Vielleicht kannst du etwas umräumen oder ausmisten und dir so den Platz schaffen?

Oft reichen Kleinigkeiten aus, um etwas zu ermöglichen oder besser zu machen – du musst sie nur finden.

Schließe Frieden mit deiner Entscheidung

Ich weiß, es ist hart, wenn du gerne in den Urlaub fahren würdest – und das vielleicht auch alle um dich herum machen -, du es aber nicht kannst. Es ist vielleicht nicht wirklich (d)eine Entscheidung oder du triffst sie nur aus Vernunftgründen, leidest aber dennoch darunter.

Schließe Frieden damit.

Das klingt so banal, ist es aber überhaupt nicht. Sich mit ungewollten Entscheidungen zu arrangieren ist hart. Da steckt viel Trauer darin, viel Wut, viel Hilflosigkeit. Nichts ist so schwer auszuhalten, wie nichts tun zu können!

Das Problem ist nur: Du stresst dich damit! An der Situation ändert sich nichts, aber umso mehr du sie verabscheust, dich darüber ärgerst und darunter leidest, umso mehr stresst sie dich.

Ich sage nicht, dass in jeder Situation etwas Positives ist und du es nur finden musst; dem ist nicht so. Was du aber tun kannst, ist, für dich einen – vielleicht ja auch nur vorübergehenden – Frieden damit schließen. Ärgere dich nach deinem Urlaub wieder darüber, wenn du das möchtest, aber IM Urlaub, willst du dir Gutes tun und dich zu ärgern tut dir nicht gut.

Mach‘ es dir leicht

Weißt du, was einer der Hauptgründe ist, warum wir Wegfahren als Urlaub empfinden? Dass wir uns an weniger Regeln halten, die Dinge lockerer sehen, über die Stränge schlagen, uns etwas gönnen, nicht so sehr darüber nachdenken, ob wir das 2. oder 3. oder 4. Eis wirklich noch essen sollten, sondern es einfach tun.

Deswegen: Sei großzügig zu dir selbst und mache es dir leicht.

Du hast keinen Bock zu duschen, dabei ist das letzte Mal schon zwei, drei Tage her? Solange sich deine Mitbewohner*innen nicht beschweren oder du dich selbst damit unwohl fühlst: Dann duschst du halt morgen! Du möchtest Kuchen zum Frühstück? Ja, dann iss ihn doch! Du willst den ganzen Tag nackt auf der Couch liegen und deine Lieblingsserie gucken? Nur zu!

Solange du damit anderen nicht schadest: Lebe zumindest im Urlaub so, wie du es willst. Du wirst schon nicht verlottern, nur weil du mal ein paar Tage die Dinge locker nimmst und dich nicht an gesellschaftliche Normen und Regeln hältst, nicht fleißig bist und nicht an dir arbeitest.

Die Sache mit der Sehnsucht

Vollkommen egal, wie sehr du mit deiner Entscheidung Frieden geschlossen hast, wie wohl du dich bei dir Zuhause fühlst und was für erholsame Dinge du tust: Du wirst dennoch immer wieder Sehnsucht nach etwas anderem, nach dem, was nicht geht, haben.

Ich habe immer wieder Phasen, wo ich tagelang Reisen plane, weil ich mich so danach sehne – Reisen, die ich aber nie machen werden könne. Ich sage es ganz ehrlich: Das sind nicht meine besten Phasen und es fühlt sich überhaupt nicht gut an – aber sag das mal der Sehnsucht.

Es ist okay, Sehnsucht nach etwas anderem zu haben – auch und gerade, wenn es nicht für dich erreichbar ist und vielleicht auch nie sein wird. Verliere dich nur nicht in dieser Sehnsucht und versinke nicht in deiner eigenen Hilflosigkeit gegenüber der Situation.

Achtsamkeit und der Gedanken-Stopp

Wenn du merkst, dass deine Sehnsucht nach etwas unerreichbarem immer größer wird, gewöhne dir an, sie bewusst zu stoppen. Setze dir selbst ein klares, inneres Stopp-Zeichen. Das kann zum Beispiel so aussehen, dass du dir in Gedanken selbst sagst: „Stopp jetzt! Ja, das wäre alles total schön und ich denke auch gerne darüber nach, aber JETZT will ich mein Leben weiterleben!“ Und dann tust du das auch! Beschäftige dich mit etwas, denk‘ über etwas ganz anders nach, lass‘ die Gedanken nicht wieder rein.

Ich weiß, ich weiß, das klingt schräg! Es funktioniert aber! Wahrscheinlich nicht beim ersten Mal und auch nicht beim zweiten, aber nach einer Weile wird dir auffallen, dass es tatsächlich wirkt. Es ist eine Methode aus dem Achtsamkeitstraining und nennt sich „Gedanken-Stopp“ und ich setze sie mittlerweile sehr vielfältig ein – zum Beispiel auch um abends einschlafen zu können.

Das Bild von Urlaub verändern

Zuhause Urlaub zu machen ist oft keine wirklich freie Entscheidung. Sie ist den Umständen geschuldet, den eigenen eingeschränkten Möglichkeiten und Behinderungen. Zuhause Urlaub zu machen ist nicht das, was wir uns unter Urlaub wirklich vorstellen.

Ich will dich aber einladen, dein Bild von Urlaub zu verändern. Urlaub sollte deiner Erholung und Entspannung dienen. Erholung und Entspannung findest du aber auch außerhalb dessen, was uns als Urlaub verkauft wird!

Definiere Urlaub für dich neu! Finde die Dinge, die dir gut tun und dir (problemlos) möglich sind. Finde heraus, was dir Stress bereitet und von dir beeinflussbar ist und dann reduziere es, soweit du kannst. Halte dich nicht mit dem auf, was du nicht beeinflussen und verändern kannst, sondern suche nach dem, worauf du Einfluss hast!

Ich weiß, dass das alles nicht einfach ist und das eingeschränkte Möglichkeiten – egal aus welchem Grund – immer auch mit Schmerz, Trauer und Leid verbunden sind. Lass‘ dich davon aber bitte nicht abhalten, auch glücklich zu sein – auch wenn du andere Wege dafür brauchst.

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 1

Neurodivergente Urlaubstipps – Teil 1

31. Juli 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Das hier ist eine Aufstellung an Tipps, die MIR (mit ADHS, Autismus, einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, einer sozialen Angststörung und chronischen Schmerzen) im und für den Urlaub helfen. Mir ist klar, dass vieles davon nicht für jede*n machbar ist – zum Beispiel aus finanziellen Gründen, weil Kinder mitbedacht werden müssen oder die persönlichen Bedürfnisse einfach ganz andere sind. Auch wird das, was für mich gut ist, nicht zwingend auch für dich gut sein. Neurodivergenz ist individuell und genauso sind unsere Probleme (und das, was uns keine Probleme bereitet) sehr individuell.

Verstehe das hier also bitte mehr als: „Da könnte ich mal darüber nachdenken, ob das auch was für mich wäre, oder wie ich es für mich anpassen könnte.“ anstatt als direkte oder ultimative Lösung.

Reisezeit

Meine perfekte Reisezeit ist der September, alternativ Mitte April bis Mitte Mai. Da ist das Wetter meistens ziemlich gut und die Temperaturen sind angenehm. Im Sommer (Mitte Mai bis August) ist es mir zu heiß, im Winter (November bis Februar) mag ich selten nach draußen – in diesen Monaten versuche ich Reisen also grundsätzlich zu vermeiden.

Die grundsätzliche Frage dabei ist: Zu welcher Jahreszeit fühlst du dich am wohlsten? Bist du eher Typ „Sommer und warm“ oder magst du Temperaturen um die 20 Grad? Wähle deine Reisezeit so aus, dass Wetter und Temperaturen am Reiseziel für dich passen (sollten).

Aufenthaltsdauer

Ich habe früher immer Kurz-/Wochenendtrips unternommen, weil ich dachte, das wäre perfekt, um mein Zuhause nicht zu lange zu vermissen. Inzwischen weiß ich aber: Das Gegenteil ist der Fall. Kurztrips stressen mich SEHR!

Ich brauche nach der Anreise erstmal mindestens zwei, eher drei Tage, um mich von der Reise zu erholen und mich in einer neuen Umgebung einzuleben. Meine optimale Reisedauer liegt also schon mal bei mehr als vier Tagen, weil ich sonst schlichtweg gar nichts vom Urlaub habe. Optimal für mich sind 10 bis 14 Tage, ich verreise aber wenn es möglich ist auch gerne noch länger. Das längste waren bisher 4 1/2 Wochen und das gefiel mir sehr.

Die wichtige Frage ist hierbei: Wie lange brauchst du, um wirklich anzukommen? Wenn du das bisher nicht in deinen Urlaub einplanst, versuche vielleicht mal deine übliche Urlaubsdauer um diese Zeit (am besten plus einen zusätzlichen Tag) zu verlängern und schau, ob das für dich gut ist, oder du es doch lieber kürzer (oder vielleicht noch länger) magst.

Und dann nimm dich an deinen „Ankunftstagen“ tatsächlich zurück: Ruh‘ dich aus, erhole dich, komm‘ an. Du hast noch genug Zeit um alles zu erleben!

Grundsätzlich: Umso mehr dich Urlaubsvorbereitungen und Anreise stressen, umso eher würde ich selteneren, aber dafür längeren Urlaub empfehlen.

Urlaubsort

Ich bevorzuge Großstädte – sofern sie nicht ZU groß sind. So von 200.000 bis max. 2 Millionen Einwohner*innen fühle ich mich (im Urlaub) am wohlsten. Wenn es dann noch Wasser und viele Parks gibt und vieles fußläufig erreichbar ist, bin ich glücklich. Am meisten mochte ich Bordeaux, Paris und Wien und auch Wiesbaden ist echt toll. London und Berlin waren mir hingegen zu groß (sie sind trotzdem cool).

Ich mag keinen reinen „Badeurlaub“, sondern will was „sehen“, wobei ich mir nichts aus Sehenswürdigkeiten mache, aber halt auch nichts aus am Strand herumliegen – bei 7 Tagen am Strand würde meine ADHS wahrscheinlich vor Langeweile toben. Am liebsten laufe ich einfach durch die Stadt, folge vielleicht grob einem Ziel oder einer spannend aussehenden Straße – oder dem Klang von Musik oder der Aussicht auf Wasser.

Die Hauptfrage hierfür ist: Was macht dir in deinem Alltag Freude? Was interessiert dich? Was stresst dich? Du willst deinen Urlaub so gestalten, dass du Dinge tun kannst, die dir IMMER Spaß machen. Keine Experimente – außer natürlich, du liebst Experimente.

Badeurlaub ist nichts für Menschen, die es schon hassen, einen Nachmittag im Freibad zu verbringen und ruhiges Landleben kann für ADHSler*innen schnell mal zu langweilig werden. Großstädte wiederum überfordern reizüberflutete Autist*innen sehr leicht.

Unterschätze nicht den Faktor Erreichbarkeit! Wenn du lange Fahrten hasst, wirst du mit einem Urlaub in deiner Nähe deutlich glücklich sein. Wenn du mit der Bahn anreist, suche dir ein Urlaubsziel, das für dich gut und unproblematisch mit dem Zug erreichbar ist.

Wichtig ist: Du wirst im Urlaub nicht plötzlich an den Dingen Freude haben, die dich sonst langweilen, nur weil sie zu deinem Bild von Urlaub dazugehören. Ich mag zum Beispiel das Bild von einem Urlaub, wo ich auf einer einsamen Almhütte bin und den ganzen Tag über die Wiesen schaue und nichts tue. In Wirklichkeit würde ich mich furchtbar langweilen (und dann vielleicht wandern gehen und mich ärgern, dass ich das nicht gleich in einer flacheren Umgebung angefangen habe).

Reisebegleitung

Klingt vielleicht hart, aber meine beste Reisebegleitung ist: Niemand.

Nicht nur brauche ich sehr viel Ruhe und Zeit nur für mich, ich mag noch zusätzlich, dass ich mich nicht an andere Menschen anpassen muss, mich nicht um ihre Vorlieben sorgen muss, mich nicht mit ihnen abstimmen muss, sie schlichtweg einfach nicht berücksichtigen muss. Ich fahre gerne mit dem Ehemann in Urlaub, denn es ist auch schön, Erlebnisse zu teilen (und momentan hilft seine Anwesenheit mir enorm bei meiner Angststörung), aber am liebsten ist mir dennoch ein Urlaub ganz alleine und ich hoffe, dass auch das irgendwann wieder für mich möglich sein wird.

Frage dich auch hier, wie du dich am wohlsten fühlst: Wenn du viel Zeit alleine brauchst und möchtest, kann ein Urlaub alleine großartig für dich sein. Ich liebe es, alleine in Urlaub zu fahren, kann das momentan wegen meiner sozialen Angststörung aber nicht. Bei mir ist der Ehemann aber ein sehr guter Reisepartner.

Hast du – so wie ich derzeit – Angst, alleine unterwegs zu sein, dann nimm jemanden mit, aber achte darauf, dass du dich in der Nähe deiner angedachten Reisebegleitung auch wirklich entspannt fühlst, dass du deine Bedürfnisse kommunizieren kannst und dich nicht schlecht fühlst, wenn du gerade etwas nicht kannst, Unterstützung brauchst oder andere auf dich Rücksicht nehmen sollen.

Es kann auch hilfreich sein, bereits im Vorfeld darauf hinzuweisen, dass du Zeit alleine brauchen wirst, oder vielleicht nicht jeden Tag etwas unternehmen wirst wollen, dass du dich vielleicht häufiger ausruhen möchtest oder bei manchen Dingen Unterstützung brauchen wirst.

Unterkunft

Ich fühle mich am wohlsten, wenn keine anderen Menschen in der Nähe sind. Das schließt viele Unterkunftsmöglichkeiten von Anfang an aus. Wenn der Ehemann dabei ist (und im absoluten Notfall auch alleine), ist Hotel akzeptabel, meine liebste Variante ist aber Airbnb (und Vergleichbares) – noch lieber, wenn man eigenständig einchecken kann und somit gar keinen Kontakt mit Menschen haben muss.

Weitere Vorteile daran sind, dass ich eine Küche zur Verfügung habe und ich achte meistens darauf, auch eine Waschmaschine zu haben – das spart enorm viel Gepäck und erleichtert das Leben sehr. Außerdem sind es Vermieter*innen auf Airbnb gewohnt, dass man schriftlich mit ihnen kommuniziert, man sieht vor dem Buchen sämtliche Kosten und Verfügbarkeiten. Die Option „sofort buchen“ ist dabei deutlich angenehmer, als Buchungen anfragen zu müssen – letzteres ist für mich sehr anstrengend.

Ich suche mir meistens Unterkünfte, die entweder in (fußläufiger) Zentrumsnähe sind oder so gelegen, dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht zu erreichen sind – bei Anreise mit dem Auto auch so, dass sie Parkmöglichkeiten haben (siehe auch unter „Anreise“). Auch ein Park oder Wasser in der Nähe ist immer gut.

Grundsätzlich ist die Unterkunft natürlich der Faktor, der am meisten ins Geld geht und mit dem ich mich am wohlsten fühlen muss und damit auch der, mit dem ich am längsten beschäftigt bin. Ich stöbere oft wochenlang auf Airbnb, bis ich etwas finde, mit dem ich zufrieden bin.

Grundsätzlich: Länger im Voraus zu planen hilft sehr! Und das bei allen möglichen Formen von Unterkünften.

Billiger wird es natürlich, wenn Jugendherbergen oder Campingplätze für dich okay sind. Auch Hotels können (vor allem wenn man alleine reist) zum Teil deutlich günstiger sein. Airbnb-Vermieter*innen bieten aber oft Rabatte für längere Aufenthalte an.

Anreise

Ich reise äußerst ungern mit dem Flugzeug (obwohl ich fliegen an sich liebe). All das „Drumherum“ stresst mich enorm. Da muss ich auch noch überlegen, wie ich denn zum Flughafen komme, dann muss ich einchecken, durch die Security, aufs Boarding warten, auf den Start warten und so weiter. Fliegen ist in so viele einzelne Schritte aufgeteilt, dass ich quasi schon beim Gedanken daran Stress empfinde.

Ich mag dafür Bahnfahren sehr gerne – allerdings unter der Voraussetzung, dass ich maximal zweimal umsteigen muss, dafür ausreichend Zeit habe und am besten ICE fahren kann und das außerhalb von üblichen Urlaubs- oder Reisezeiten (Dienstag bis Donnerstag ist zum Beispiel toll). Regionalzüge finde ich anstrengend – während der Urlaubszeit noch viel mehr.

Autofahren ist je nach Ziel auch in Ordnung, sollte dann aber nicht länger als zwei, maximal drei Stunden dauern und ich brauche eine im Voraus geplante Parkoption. In Wiesbaden haben wir das zum Beispiel so gelöst, dass wir erstmal in ein Parkhaus gefahren sind, das Auto danach auf einen Park+Ride-Parkplatz gestellt haben und am Ende des Urlaubs wieder abgeholt haben.

Sei dir in jedem Fall bewusst, dass die Anreise IMMER stresst – vollkommen egal, welches Verkehrsmittel du wählst. Die Frage ist also: Welches Verkehrsmittel stresst dich am wenigsten und wie kannst du Stress zumindest reduzieren?

Flug:
Vermeide Flüge. Ehrlich. Flüge sind einfach immer stressig.

Wenn du sie nicht vermeiden kannst/willst: Bei frühen Flügen kann es den Stress reduzieren, wenn man bereits am Vortag in die Stadt des Flughafens reist (und eventuell den Vorabend-Checkin nutzt).

Suche dir frühzeitig die Verbindungen zum und vom Flughafen heraus und plane Puffer ein – ein ausgefallener oder stark verspäteter Zug zum Flughafen führt unter Garantie zu Panik!

Echt… vermeide Flüge einfach. Der Stress ist enorm.

Bus:
Ich halte das wie mit Flügen, aber sie sind zumindest etwas weniger stressig, weil man sich zumindest Security & Co. spart.

Zug:
Suche eine Reisemöglichkeit mit möglichst wenig Umstiegen, auch auf den „letzten Metern“. Wenn du von x Stunden Fahrt total erschöpft bist, möchtest du nicht auch noch 3 verschiedene öffentliche Verkehrsmittel nehmen müssen, um zu deiner Unterkunft zu gelangen.

Fernzüge sind angenehmer als Regionalzüge, weil sie zum einen bequemer sind und natürlich auch schneller am Ziel.

Plane großzügige Pufferzeiten – vor allem bei komplizierten Umstiegen oder wenn eines der Verkehrsmittel nur selten fährt.

Bei Zug-, Bus- und Flugreisen helfen Noise Cancelling Kopfhörer ENORM. Sie unterdrücken nicht nur den Lärm des Verkehrsmittels, sondern filtern auch die Mitreisenden zum Teil aus.

Wenn du nicht mit dem Auto anreist:
Reduziere dein Gepäck soweit es geht und nimm nicht mehr als zwei Gepäckstücke mit. Auch keine zusätzlichen Taschen! Umso öfter du umsteigen musst, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass du was vergisst.

Auto:
Suche dir ein Ziel, das nicht weiter weg ist, als du als Fahrtzeit angenehm findest und informiere dich frühzeitig über Parkmöglichkeiten. In Städten kann es eine Möglichkeit sein, zum Aus- und Einladen bis zur Unterkunft zu fahren und das Auto später auf einen Park+Ride-Parkplatz etwas außerhalb zu parken.

Grundsätzlich:
Wähle (wenn möglich) deine Reisetage so, dass weniger andere Menschen unterwegs sind. So ist Dienstag bis Donnerstag bei Fernzügen oft gut und außerhalb der Ferienzeiten zu verreisen ist grundsätzlich deutlich entspannter (natürlich nicht für alle möglich, schon klar).

Plane die Anreise. Wirklich – auch wenn du Planung hasst.

Und vor allem: Berücksichtige die Anreise bei deiner gesamten Urlaubsplanung. Ein Reiseziel, das weniger Stress bei der Anreise verursacht, wird den gesamten Urlaub viel erholsamer machen – und auch eine entspannte Rückreise ist nicht zu verachten!

Zwischenfazit

Urlaub, der auf die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen abgestimmt ist, ist oft teurer und erfordert viel Planung im Voraus. Beides ist für neurodivergente Menschen oft problematisch. Mein bester Tipp ist: Mache lieber selten Urlaub, aber wenn möglich, (etwas) länger. Du planst jeden Urlaub nur EINMAL, du hast nur einmal die Anreise, nur einmal Packen und so weiter.

Bonustipp: Wenn du dich wo wohlfühlst, überlege, ob du dort nicht wieder Urlaub machen möchtest. Das reduziert oft viel Planung und Unsicherheit – kann aber natürlich auch langweilig für dich sein.

Teil 2

Um hier nicht noch mehr auf einmal zu schreiben, gibt es dann irgendwann auch noch einen zweiten Teil zum Thema Reisegepäck und Urlaubserlebnisse.

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

5. Juli 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Viele unserer Tätigkeiten passieren ganz oder großteils automatisch, man spricht auch vom Autopiloten. Wenn du etwas trinken möchtest, gehst du zum Beispiel zum Schrank, nimmst ein Glas heraus und füllst es mit deinem üblichen Getränk. Du denkst normalerweise nicht darüber nach, welches Glas du nimmst, wo du es abstellst, um es zu füllen oder wie voll du es machen wirst. All das passiert ganz von selbst.

Die meiste Zeit kann ich das auch, aber wenn meine exekutiven Funktionen gerade nicht auf der Höhe sind, setzt dieser Autopilot aus.

Das beginnt dann schon damit, dass ich darüber nachdenke, wie ich denn den Schrank mit den Gläsern überhaupt öffne. Muss ich meinen Arm heben? Aber tut mir nicht die Schulter weh? Wird der Schmerz schlimm sein? Wo greife ich die Schranktür an? Wie viel Kraft brauche ich, um sie zu öffnen?

All das, was eigentlich eine ganz automatisch ablaufende Handlung ist, wird mit einem Mal in lauter einzelne Teile zerlegt.

Oder ich muss ganz bewusst darüber nachdenken, in welcher Reihenfolge ich etwas mache. Erst die Schranktür öffnen? Oder erst den Wasserhahn aufdrehen?

Stell dir vor, dich würde jemand fragen, ob du beim Händewaschen erst das Wasser aufdrehst und die Hände nass machst oder erst die Seife nimmst. Oder drehst du vielleicht das Wasser auf, nimmst aber erst Seife und machst die Hände dann nass?

Wenn du die Aufgabe in einzelne Schritte zerlegst, wird sie plötzlich kompliziert, du musst sie dir vielleicht genau vorstellen und vielleicht bekommst du sogar Zweifel, ob du es wirklich so machst, wie du denkst.

Bei einer Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen entsteht genau dieses Nachdenken und diese Unsicherheit. Gerne noch zusätzlich verbunden mit konstantem Hinterfragen: Mache ich das richtig? Brauche ich das wirklich? Geht es nicht vielleicht doch anders? Was kommt als nächstes?

Du wäschst dir nicht mehr einfach die Hände, holst dir nicht mehr einfach ein Glas Wasser, sondern die simple Tätigkeit wird zu einer riesengroßen Aufgabe.

Es gibt verschiedene Hilfen dafür.

Manchen hilft es, wenn sie visuelle oder auditive Anweisungen bekommen, zum Beispiel Zeichnungen, wie man Zähne putzt.

Anderen hilft es, die einzelnen Schritte aufzuschreiben, um das Chaos im Kopf ein wenig zu sortieren und sich einen Plan zurechtlegen zu können.

Bei mir hilft am Besten, nicht darüber nachzudenken.

Ich versuche, den Moment der Verwirrung und des Planens zu überspringen und doch wieder in den Automatismus zu kommen, indem ich an einer „späteren“ Stelle ansetze.

Vielleicht kennst du die Taktik von der Eingabe von Passwörtern oder PINs.

Wenn du ein Passwort häufig benutzt, tippen es deine Finger quasi automatisch, du denkst nicht bewusst darüber nach. Wenn du aber längere Zeit im Urlaub warst, fällt dir vielleicht am Abend des letzten Urlaubstags ein: „Mist, ich habe mein Passwort vergessen!“ Du denkst darüber nach und es fällt dir einfach nicht ein oder du erinnerst dich an alte Passwörter oder die für ganz andere Accounts.

Am nächsten Tag öffnest du trotzdem das Anmeldefenster, willst noch ein letztes Mal darüber nachdenken und mit einem Mal tippen deine Finger ganz automatisch das Passwort ein. Das richtige Passwort. Du hast nicht darüber nachgedacht, dich nicht bewusst erinnert, deine Finger wussten einfach, was zu tun ist. Das ist das Muskel- oder Körpergedächtnis.

Genau das nutze ich bei Phasen von exekutiver Dysfunktion. Ich denke nicht über das, was ich tun möchte, nach, sondern überlasse dem Körper die Führung.

Es funktioniert nicht bei Tätigkeiten, die ich noch nicht oft genug gemacht habe oder die ganz neu sind oder wenn ich einer Anleitung folgen muss. Deswegen kann ich in solchen Phasen zum Beispiel nicht backen. Ich kann aber damit zum Beispiel trotz exekutiver Dysfunktion die Küche aufräumen – WENN es mir gelingt, den Schritt des Nachdenkens zu überspringen und das Muskelgedächtnis aktiviert wird.

Wenn nicht… tja, dann kann ich für eine ganze Weile gar nichts mehr tun, weil ich einerseits versuche, mich dazu zu bringen, diese Sache zu machen, es aber andererseits nicht schaffe und quasi „feststecke“.

Wichtig für mich ist also immer: NICHT NACHDENKEN! TUN!

… und mich nicht darüber ärgern, wenn es mal wieder nicht funktioniert. Dann räume ich die Küche halt ein anderes Mal auf und backe den Kuchen dann, wenn die exekutiven Funktionen besser sind.

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

30. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wisst ihr noch, als ich gesagt habe, ich würde verstehen, dass sich so viele Menschen für „ein bisschen autistisch“ halten würden? Oder, dass sie der Meinung wären, ADHS-Merkmale wären „normal“? Ich verstehe es immer noch, denn vieles von dem, wovon neurodivergente Menschen erzählen, gleicht dem, was andere Menschen auch mal erleben. Es ist nur weit davon entfernt, unserer Lebensrealität zu entsprechen, denn die Intensität, die Häufigkeit und die Einschränkungen, die damit einhergehen, sind ganz, ganz anders.

Ich dachte daher, ich erzähle davon, wie mein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein aussieht, denn das gehört auch zu diesen Dingen, die ja jede*r kennt… oder vielleicht doch nicht?

In vorpandemischen Zeiten war es so, dass mein Mann morgens das Haus verließ, bevor ich aufstand. Er kam nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr zurück und wir hatten dann etwa sechs gemeinsame Stunden, bevor wir schlafen gingen. Am Wochenende verbrachten wir mehr Zeit zusammen, aber im Großen und Ganzen kann man sagen, ich hatte jede Woche etwa 50 bis 60 wache Stunden für mich alleine – und ich brauchte sie nicht nur, sie waren mir auch oft nicht genug.

Durch die Pandemie hat sich viel verändert, der Ehemann hat vermehrt Homeoffice gemacht und ich fand es sehr, sehr schwierig, mich daran zu gewöhnen. Von einem Moment auf den anderen hatte ich gar keine Zeit mehr für mich! Wir waren ständig zusammen und Rückzug bedeutete auf einmal mich hinter meinem Laptop und meinen Noise-Cancelling-Kopfhörern zu verstecken, aber keine echte Ruhe, kein echtes Alleinsein mehr zu haben.

Ich habe mich damit arrangiert, habe mich abgelenkt, habe versucht, damit klarzukommen und dann kam der Moment, als er zurück ins Büro sollte. So wie mich davor der Wechsel von „viel Zeit alleine“ zu „gar keine Zeit alleine“ beeinträchtigt hatte, so ging es mir auch jetzt wieder mit dem Gegenteil. Ich hatte Angst alleine. Ich fühlte mich nicht wohl. Ich lag stundenlang wie erstarrt auf der Couch oder futterte mich durch den Kühlschrank auf der Suche nach emotionaler Regulation. Es war furchtbar.

Wir suchten Lösungen wie ein gemeinsames Mittagessen, damit ich nicht ganz alleine war, und mit der Zeit wurde es besser. Ich fing langsam wieder an, die Zeit alleine zu genießen, sie tatsächlich für mich zu nutzen, anstatt in einen tagtäglichen Wartemodus zu verfallen, wo ich nur darauf wartete, dass er wiederkam.

Und langsam begann auch der konstante Stress nachzulassen, die konstante Überreizung durch die so lange ständige Anwesenheit einer anderen Person bei gleichzeitig fehlender Erholungszeit wurde weniger und ich merkte, dass ich mich endlich wieder ruhiger fühlte.

Momentan habe ich drei Wochentage, wo ich alleine zuhause bin, an einem davon essen wir noch gemeinsam zu Mittag, an den übrigen vier Tagen ist der Mann die ganze Zeit anwesend. Das funktioniert meistens sehr gut, ich merke aber auch: In stressigen Zeiten reicht mir diese Menge an Alleinzeit nicht aus.

Die letzten fünf Wochen habe ich viel, viel Energie in Projekte für andere Menschen gesteckt. Ich mochte das und dennoch hat es mich gleichzeitig sehr, sehr angestrengt. Dazu kamen ein emotional sehr schwieriges Wochenende und das letzte Drittel meines Zyklus und Anfang dieser Woche war ich zu nichts mehr fähig. Totale Überlastung.

Ich konnte keine Gespräche mehr führen, erinnere mich an große Teile der Zeit überhaupt nicht mehr, weiß nicht einmal mehr so recht, was wir gegessen haben. Ich konnte nicht mehr nachdenken, nicht mehr schreiben, nicht mal mehr Ideen haben. Alles war weg und ich unendlich erschöpft.

Ich habe dann den Home-Office-Tag des Mannes mit Noise-Cancelling-Kopfhörern und einer Serie verbracht, habe auch an den anderen Tagen viel, viel Zeit mit nichts als Serie gucken und essen verbracht und dazwischen geputzt und aufgeräumt, weil mir das Gefühl von Ordnung und Kontrolle gut getan hat. Am ersten Tag alleine habe ich ein bisschen herumgemalt, Konzentration war noch schwierig und ich habe immer nur ein Blümchen oder ein Steinchen ausgemalt. Abends habe ich mich hinter meine Serie verkrochen, wollte meine Ruhe haben und es ging mir definitiv nicht gut. Am zweiten Tag allein habe ich den Ehemann darum gebeten, das gemeinsame Frühstück ausfallen zu lassen, damit ich mehr Zeit für mich hatte und am Nachmittag ging es mir immerhin so gut, dass ich meinen Bandwebstuhl bespannen konnte – Serienzeit für mich alleine brauchte ich dennoch. Heute ist Tag 3, an dem ich Zeit nur für mich habe, die Serie ist zu Ende geguckt, ich kann meine Gedanken wieder in Worte fassen und ich hoffe, ich schaffe es heute, etwas zu kochen.

Morgen ist Home-Office-Tag und so sehr ich mich darauf freue, dass der Ehemann anwesend ist – denn ich verbringe wirklich gerne Zeit mit ihm -, so sehr weiß ich auch jetzt schon, dass mir noch ein, zwei oder noch mehr Tage nur für mich sehr gut tun würden.

Ich BRAUCHE diese Zeit nur für mich. Ich brauche Zeit, in der nichts außer mir und meinen Gedanken anwesend ist, in der ich mich auf mich konzentrieren kann, die ich ohne Druck oder Notwendigkeiten steuern und gestalten kann. Ich tue viele Dinge für uns in dieser Zeit – ich kümmere mich um den Haushalt, schmiede Pläne, organisiere Sachen… was man halt normalerweise so nach Feierabend noch erledigen muss. Das kann ich aber wiederum nur, weil diese Tätigkeiten eingebettet sind in Ruhephasen und in Zeiten, in denen mein Kopf nicht mit der Anwesenheit einer anderen Person beschäftigt ist.

(Es gibt eine Szene in der BBC-Serie Sherlock, wo Sherlock einen Polizisten aus dem Raum schickt, weil seine Anwesenheit ihn beim Denken stört. Ich finde diese Szene sehr, sehr nachvollziehbar!)

Mit einem „normalen“ Leben sind 50-60 Stunden Alleinsein pro Woche nicht zu vereinbaren. Also zumindest, wenn man in der Zeit auch Wachsein möchte, denn da kommen ja noch mal 50-60 Stunden Schlaf dazu. Bei 168 Stunden pro Woche heißt das, dass ich selbst eine mir sehr, sehr nahestehende Person im Wachzustand gerade mal rund 40 Stunden ertrage… besser weniger. Und bei weniger nahestehenden Personen sind noch mal deutlich weniger Stunden erträglich.

Mein Leben – unser Leben – ist so weit wie möglich auf meine Bedürfnisse abgestimmt. (Disclaimer: Auch auf die des Ehemanns!) Wir haben das große Glück – das Privileg! -, dass das möglich ist – nicht ohne Einschränkungen, aber trotzdem möglich! Trotzdem komme ich regelmäßig an meine Grenzen, liege metaphorisch am Boden, weil ich nicht mehr kann und bin überfordert, überlastet, überreizt, am Ende meiner Kräfte, verliere Tage, weil nichts mehr geht – weil so das Leben mit meinen psychischen und physischen Einschränkungen nun mal ist. Weil so das Leben mit Behinderungen ist.

Und dennoch, ich wiederhole es: Ich habe Glück!

So, so viele Menschen haben dieses Glück nicht! Sie MÜSSEN irgendwie funktionieren, auch wenn sie schon am Boden liegen, wenn sie sich seit Wochen, seit Monaten, ja seit Jahren nicht mehr komplett erholen konnten, weil ihre Bedürfnisse im Kapitalismus nicht vorgesehen sind. Weil uns weißgemacht wird, dass, wer nichts „leistet“ auch nichts wert ist. Weil wir darauf gedrillt werden, davon auszugehen, dass alle anderen faul sind, sich auf Kosten anderer bereichern wollen würden oder nur einfach härter arbeiten müssten, damit es ihnen besser ginge.

Aber so ist es nicht.

Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern, sind nicht diejenigen, die arm sind, nicht diejenigen, die krank sind, nicht diejenigen, die als nicht fleißig und leistungsfähig genug gelten. Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern sind diejenigen, die unsere Vorbilder sind: Die Reichen, die Mächtigen, die Bewundernswerten.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Vorbilder zu wechseln.

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