Weil wir wertvoll sind
Den Großteil meines Lebens hielt ich mich für einen ganz furchtbaren Mensch. Ich dachte, ich wäre faul, disziplinlos und wertlos. Während alle um mich herum ein „ordentliches“ Erwachsenenleben lebten, einen Job hatten, Kinder großzogen, ihren Haushalt im Griff hatten, sich ehrenamtlich engagierten, Hobbys und Freundschaften pflegten, hatte ich… nichts davon.
Ich habe keine Kinder, mein Haushalt schwankt konstant zwischen eigentlich ordentlich und undefinierbarem Chaos, meine Hobbys wechseln ständig, meine Freundschaften sind extrem eng oder nicht existent und beruflich kam ich immer nur dann klar, wenn ich mit Menschen zu tun hatte, die mir viel Freiraum gaben und mir gleichzeitig einen sicheren Rahmen boten, in dem ich die Regeln verstand und in Ruhe meinen Aufgaben nachgehen konnte.
In den meisten Jobs, die ich bisher hatte, ging es mir früher oder später richtig schlecht. Immer wieder kam es zu Situationen, in denen ich meine Arbeit nicht mehr tun konnte, weil alles in mir dagegen rebellierte. Und mit „alles“ meine ich tatsächlich alles. Mein Magen krampfte sich zusammen, meine Schulter- und Nackenmuskeln verhärteten, ich hatte einen Druck im Hals, meine Augen brannten, meine Gedanken begannen zu rasen und ich fühlte mich, wie kurz vor einer Panikattacke. Dazu kam das geradezu unerträgliche Gefühl, schreien und heulen zu müssen. Ich tat es nicht, aber ich kämpfte. Ich zwang mich dazu, meine Arbeit zu tun und umso mehr ich mich zwang, umso schlechter ging es mir damit.
„Augen zu und durch“, bekam ich dann zu hören oder: „Wir alle müssen manchmal Dinge tun, die wir nicht wollen, stell dich nicht so an.“
Ich dachte, sie hätten Recht und es läge daran, dass ich faul und arbeitsscheu wäre und mich vor meiner Arbeit drücken wollte, weil ich einfach keine Lust darauf hatte. Ich empfand das zwar nicht so, aber ich hatte mein Leben lang gehört, dass ich faul wäre, also musste doch etwas daran sein? Ich sah, wie andere ihre Arbeit erledigten und dachte, sie litten genauso sehr wie ich, würden das aber weniger zeigen, sich einfach mehr bemühe und schlichtweg arbeitsamer sein. Ich dachte, wenn ich das auch wäre, dann wäre alles gut.
Ich bemühte mich von ganzem Herzen – aber ich litt immer mehr. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, verbrachte Stunden um Stunden damit, alles, was am Arbeitstag passiert war, noch einmal zu hinterfragen und durchzudenken, überlegte mir hunderte von Strategien, wie ich noch eine Woche durchhalten könnte und noch eine. Ich hatte Angst davor, am nächsten Tag wieder dieser einen Person zu begegnen, deren Ansprüche für mich so unverständlich und wechselhaft waren, dass ich konstant an mir zweifelte. Ich fürchtete mich davor, wieder mit jener Person zu tun zu haben, die ständig ihre Anweisungen an mich vergaß und dann sagte, ich hätte etwas falsch gemacht. Ich machte mir Sorgen, dass ich wieder mit der Person zu tun haben würde, die von mir ein unterwürfiges Verhalten erwartete, das ich aber nicht zu ihrer Zufriedenheit erfüllen konnte.
Ich fühlte mich konstant fehlerhaft und minderwertig und gab mir die Schuld daran. Ich litt darunter, nicht einfach so sein zu können, wie man mich haben wollte – dabei verstand ich noch nicht einmal genau, WIE man mich haben wollte, nur, dass es offensichtlich besser wäre, wenn „ich“ weniger „ich“ wäre.
Ich wurde schließlich sehr krank und man legte mir nahe, zu kündigen. Ich verstand das, wollte es aber auf gar keinen Fall, denn was wäre ich denn dann überhaupt noch wert? Man war doch nur mit Job ein guter Mensch! Zumindest war es das, wovon ich überzeugt war.
Nach vielen, vielen Gesprächen mit dem Ehemann kündigte ich dann doch, denn auch wenn es mir schwerfiel, ihm zu glauben, dass mein Wert nichts mit (m)einem Job zu tun hatte, so wusste ich doch, dass er zumindest in einem Punkt recht hatte: Der Job tat mir nicht gut.
Es folgten ein paar andere Jobs, aber meistens merkte ich schon nach kurzer Zeit: Das funktioniert nicht. Ich machte mir beständig große Vorwürfe, hielt mich für unfähig und nicht belastbar genug, fand mich zu pingelig und zu schwierig, zu faul und arbeitsunwillig und wieder dachte ich, ich müsste nur einfach aufhören, ich zu sein, dann wäre schon alles in Ordnung. Aber wie machte man das?
Ich fand es nicht heraus, aber dafür fand ich etwas anderes: Eine ganz wunderbare Chefin! Mit einem Mal fühlte ich mich nicht mehr falsch, sondern ganz außerordentlich wohl. Ich hatte Freude an meiner Arbeit, wurde geschätzt und konnte meine Stärken ausleben. Ich hatte überhaupt kein Problem mit all diesen Aufgaben, die nicht wirklich Freude machen! Sie waren halt da und ich erledigte sie – ganz ohne Probleme. Vieles von dem, was für mich Stress bedeutete, fing meine Chefin auf, sie unterstützte mich und ließ mir meine Freiräume.
So wohl ich mich auch fühlte, meine psychischen und physischen Probleme führten dennoch immer wieder zu Ausfällen und ich empfand mich als Enttäuschung.
Ich arbeitete viele Jahre mit dieser Chefin zusammen, doch irgendwann wechselte sie die Stelle und ich bekam einen neuen Chef – und wieder funktionierte es nicht.
Schon nach kürzester Zeit war ich massiv gestresst, hatte Angst vor dem nächsten Arbeitstag, dachte an nichts als die Arbeit und war konstant überreizt. Es ging mir schlecht, ich litt auch an Nicht-Arbeitstagen gewaltig und mir wurde klar: Ich musste da weg. Ich kündigte schließlich sobald es nur ging und war unfassbar erleichtert darüber.
Ich habe seither keinen neuen Job gesucht. Ein bisschen ist da die Angst, wieder in so eine Situation zu kommen, ein bisschen ist es die Tatsache, dass meine physische und psychische Gesundheit nicht so zuverlässig sind, wie ich (und potenzielle Arbeitgeber) das gerne hätten. Ein bisschen ist es vielleicht auch Trotz gegenüber einer Gesellschaft, die einem Arbeit als Zeichen des eigenen Wertes verkauft. Vor allem aber ist es ganz viel Wissen, dass es mir ohne festen Job besser geht. Viel, viel besser.
Ich schäme mich bis heute manchmal dafür und wenn ich weiß, dass ich neue Menschen kennenlernen werde, überlege ich mir schon lange davor, was ich wohl auf die Frage „Und was machst du beruflich?“ antworten werde, denn die gesellschaftliche Abwertung für Menschen, die nicht erwerbstätig sind, ist real.
Arbeitet man nicht, dann gilt man als faul, als disziplinlos und als Belastung. Man bekommt zweifelnde Blicke, was man denn den ganzen Tag tun würde, manche sind neidisch über die viele Freizeit, andere erwarten, dass man eben jene Freizeit dann doch möglichst sinnvoll nutzt. Arbeitet man nicht, hat man sich sozial zu engagieren, einen perfekten Haushalt zu führen oder doch wenigstens den Ehepartner perfekt zu umsorgen, denn den nutzt man ja offensichtlich total aus. /s Tonidikator: Sarkasmus
Der Gedanke, dass jeder Mensch seinen Möglichkeiten entsprechend lebt, ist den meisten zumindest in der Theorie noch klar. Wie unterschiedlich diese Möglichkeiten aber verteilt sind, ist schon deutlich schwieriger nachzuvollziehen. Wie oft bekommt man zu hören: „Da muss man sich einfach nur mehr anstrengen!“
Meine Möglichkeiten sind stark begrenzt: Ich bin chronisch krank, habe eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (und andere psychische Probleme) und muss als neurodivergenter Mensch in einer Welt, die nicht für mich gemacht ist, klarkommen. Selbst ohne Erwerbsarbeit fehlt mir oft schon die Energie für den ganz banalen Alltag. So sehr ich mich auch anstrenge, meine Möglichkeiten bleiben dennoch begrenzt.
Ich habe genug davon zu hören, dass ich weniger faul sein oder mich mehr bemühen soll. Ich will nicht mehr gesagt bekommen, dass ich „halt einfach machen“ soll und mich nicht in Ausreden flüchten soll und das ja alles gar nicht so schlimm wäre und andere ja auch xy tun könnten. Und vor allem möchte ich nicht länger das Gefühl vermittelt bekommen, eine Bürde zu sein, eine Belastung, ein Schmarotzer oder dass ich ja Glück hätte, dass mein Ehemann noch bei mir wäre, obwohl ich so bin wie ich bin.
Jeder Mensch ist wertvoll.
Vielleicht erschließt sich nicht jedem oder jeder, worin dieser Wert besteht, aber weißt du was: Das muss es auch gar nicht. Behandle Menschen einfach so, als wäre dir absolut klar, dass sie gut und wertvoll und wichtig und, ja, auch nützlich sind. Vielleicht fällt dir dann irgendwann auf, dass es tatsächlich so ist und wie sehr sie dein Leben bereichern.