
Stress ist kein individuelles Problem
Gehe ich zu Ärzt*innen und erzähle von meinen körperlichen Problemen, taucht früher oder später die Frage auf: „Sind Sie oft gestresst?“ Früher fand ich die Frage immer unangenehm, denn Stress, das war das, was Menschen haben, die beruflich stark eingespannt sind und ich, die gerade mal ein paar Stunden die Woche erwerbsarbeitete – und noch nicht mal auf einer „wichtigen“ Position -, ich konnte doch nicht gestresst sein.
Ich spürte aber, dass die erwartete Antwort ein „Ja“ war- weil es Probleme erklären würde, weil man nicht weiter nach der Ursache suchen würde müssen, weil es doch eine einfache Lösung gab: „Sie sollten mal Entspannungsübungen probieren!“ Also sagte ich brav „Ja“, mir wurden die Entspannungsübungen empfohlen und ich wurde nach Hause geschickt. Problem gelöst! Patientin muss sich einfach besser um sich kümmern.
Irgendwann kam ich zumindest zu dem Punkt, zu realisieren, dass mein Stress nicht von meiner Arbeits- oder Nicht-Arbeits-Situation abhing, sondern von ganz anderen Faktoren. Ich hatte einen Ärzt*innen-Termin? Ich war schon Tage vorher unbeschreiblich im Stress. Ich sollte Formulare ausfüllen? Stress! Ein Handwerker musste in die Wohnung? Stress! Ich lese Nachrichten? Stress! Stress! Stress!
Natürlich war das alles nur meine Schuld, denn ICH reagierte ja so gestresst, dafür kann doch niemand was und sowieso: Alle anderen gehen ja auch zu Ärzt*innen, füllen Formulare aus und informieren sich über das Weltgeschehen… wahrscheinlich sind sie einfach viel besser in ihrem Stressmanagement, machen öfter Entspannungsübungen und wissen einfach, wie man mit stressigen Situationen umgeht. Ich musste das einfach auch lernen!
Ich habe Unmengen an Entspannungsübungen ausprobiert, habe Achtsamkeitstraining gemacht, meditiert, Tiefenentspannung und Atemübungen getestet. Manches mochte ich nicht, anderes gefiel mir sehr, einiges habe ich über Monate hinweg tatsächlich täglich gemacht, bei anderem war ich eher noch gestresster und ließ es daher schnell wieder sein. Wieder anderes mache ich immer noch – in abgewandelter Form oder in bestimmten Situationen. Alles in allem also: Ja, Entspannungsübungen sind wirklich nicht schlecht.
Was sie allerdings alle nicht bewirkt haben: Eine dauerhafte Stressreduktion. Die Tage im Jahr, an denen meine Smartwatch mir attestiert, dass ich entspannt gewesen wäre, lassen sich an einer Hand abzählen. Die meiste Zeit teilt sie mir lapidar mit, dass ich zu gestresst wäre und dauerhafter Stress würde zu Erschöpfung führen. Ach? Wäre mir ja nie aufgefallen… /j (Tonindikator: joking)
Vor ein paar Monaten erst war es mal wieder so schlimm mit mir und dem Stress, dass ich erneut einen Entspannungskurs probierte – irgendwann musste ich doch endlich lernen, entspannt zu sein! Es war ein Audiokurs und der Sprecher ging mir vom ersten Moment an auf die Nerven, wie er da mit salbungsvoller Stimme erklärte, was ich bisher alles falsch machte, denn für ihn war klar: Zu wenig Achtsamkeit war der Schlüssel aller Probleme, wir müssten öfter über unsere Handlungen nachdenken, sie bewusster durchführen und schon wäre der Stress verschwunden.
Versteht mich nicht falsch: Ich bin sehr dafür, Dinge bewusst zu tun und ich nutze tatsächlich ein paar Achtsamkeitsübungen in meinem Alltag, aber Handlungen bewusst durchzuführen IST mein Alltag. Ich denke ständig über alles nach und mir zu sagen, dass es ein Fehler wäre, ganz unterbewusst Zähne zu putzen und nicht über die einzelnen Handlungsschritte nachzudenken, ist eher sinnlos, denn ich würde mir sehnlichst wünschen, unterbewusst Zähneputzen zu können und nicht jeden Tag wieder damit zu kämpfen, weil mein Kopf die einzelnen Schritte sortieren muss. Leider fühlt es sich nicht nach Achtsamkeit und Stressreduktion an, sondern nach Kampf und Stress.
Ich tröstete mich damit, dass dieser Entspannungskurs halt einfach nicht der richtige für mich war und beschloss, es mit Tiefenentspannung zu probieren. Das fand ich sehr angenehm, übte auch fleißig und vertraute auf das Versprechen: „Üben Sie regelmäßig und sie werden deutlich entspannter und gesünder durchs Leben gehen!“
Dann passierte irgendwas, weil ja immer irgendwas passiert – wir müssen nur morgens einen Blick auf die Nachrichten werfen und schon ist klar, dass ein neues Irgendwas passiert ist und es Stress bedeutet. Mal mehr Stress und mal weniger, mal nur kurzfristig und mal für eine nicht absehbare Zeit, aber Stress ist immer irgendwo in diesen Irgendwassen versteckt und entsprechend war ich also doch wieder gestresst, Tiefenentspannung hin oder her.
Ja, natürlich ist es meine Reaktion auf Nachrichten, meine Angst vor Ärzt*innen, meine Panik vor Formularen, mein Unwohlsein gegenüber fremden Menschen, aber das macht meinen Stress nicht zu einem individuellen Problem und von mir zu verlangen, dass ich eben stressresistenter werden müsse, ist nicht die Lösung.
Das Weltgeschehen IST Stress. Kriege, Klima, Menschenrechtslage… die Liste ist endlos und die Lage IST schrecklich. Ich kann mir nicht gleichzeitig der Tatsache bewusst sein, dass es weltweit riesengroße Probleme gibt und gleichzeitig NICHT gestresst davon sein. Es geht einfach nicht! Das ist, als würde ich ganz gechillt auf einem Bahngleis Tee trinken und der Zug würde auf mich zurasen, lautstark hupen, die Gleise würden immer lauter und lauter summen und vibrieren, aber ich würde lieber erstmal in Ruhe meinen Tee austrinken, bevor ich akzeptiere, dass der Zug überhaupt auf diesem Gleis ist!
Wir sind nicht gestresst, weil wir nicht stressresistent genug wären. Wir sind gestresst, weil wir erkannt haben, dass es GRUND gibt, um gestresst zu sein!
Genauso wenig habe ich grundlos Angst vor Ärzt*innen. Meine Erfahrungen sagen, dass jeder einzelne Besuch bei einer medizinischen Fachperson zu einem schlimmen Erlebnis führen kann und ich am Ende wochenlang damit kämpfen werden müssen. Nicht, weil ich nicht stressresistent wäre, sondern weil mich die Person, der ich vertrauen soll, der ich meine Probleme schildern und bei der ich um Hilfe bitten soll, schlichtweg nicht gut behandelt! Ich bin gestresst, weil viel zu viele Ärzt*innen in der Vergangenheit so waren und weil jeder einzelne Ärzt*innen-Besuch das (sehr realistisch auch noch große) Risiko birgt, dass es wieder so läuft.
Stress kommt nicht aus dem Nichts. Stress ist keine komplett sinnlose Reaktion des Körpers. Stress ist die Summe unserer Erfahrungen, angewandt auf unsere gegenwärtige Realität. Umso schlechter deine Erfahrungen, umso mehr Stress. Umso problematischer unsere gegenwärtige Realität, umso mehr Stress!
Vollkommen egal, wie achtsam ich bin, wie oft ich meditiere, wie viel Zeit ich in der Natur verbringe, wie hoch meine Vitamin-Level sind, wie viel Sport ich treibe oder wie oft ich meine Entspannungsübungen mache: Ich werde meinen Stress damit nicht loswerden.
Ich will nicht sagen, dass nichts davon hilft! Natürlich kann einiges oder alles davon ausgleichend sein, dabei helfen, besser mit dem unvermeidbaren Stress unseres Lebens klarzukommen, aber wir müssen endlich akzeptieren, dass diese Dinge nicht die Lösung sind und wir müssen aufhören, Menschen dafür verantwortlich zu machen, wenn sie gestresst sind, weil sie ja „nicht genügend dagegen tun“.
Die Antwort auf unseren Stress ist nicht Entspannung! Die Antwort auf unseren Stress ist es, globale, gesamtgesellschaftliche, systemische Lösungen für unsere Probleme zu suchen!
Wir brauchen eine Gesellschaft, die endlich auf marginalisierte Gruppen achtet, die ihren eigenen Rassismus, Ableismus, Sexismus, Klassismus usw. hinterfragt, erkennt und daran arbeitet. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Kapitalismus durchdenkt, durchschaut und auseinandernimmt. Wir brauchen eine Gesellschaft, die den auf uns zurasenden Zug in Form des Klimawandels als so nah und gefährlich wahrnimmt, wie er ist. Wir brauchen eine Gesellschaft, die gestresst ist! So gestresst, dass sie endlich anfängt, etwas dagegen zu tun, anstatt weiterhin auf Entspannungsmaßnahmen zu setzen.
Stress ist kein individuelles Problem. Stress ist ein globales Warnsignal und wir müssen diese Warnung endlich ernstnehmen!
2 thoughts on “Stress ist kein individuelles Problem”
Guten Morgen,
damit hast du hast so etwas von Recht… wenn Stress kein gesellschaftliches Problem wäre, gäbe es wohl kaum ein so breites Angebot an Entspannungs- und Achtsamkeitskursen, Selbsthilfebüchern und derlei mehr. Und so viele Individuen können sich nicht irren und alle etwas „falsch“ machen – wir reagieren einfach vollkommen normal auf unnormale Umstände.
Die Crux ist halt nur, dass es uns hier und jetzt persönlich nicht viel weiterhilft, zu sagen, was „die Gesellschaft“ verändern müsse. Außer, dass es dieses Gefühl des persönlichen Versagens von den Schultern nimmt. Denn auch wenn jeder einzelne von uns dazu beitragen kann, den Diskurs zu verändern – so wie du mit deinem Artikel – dauert das doch sehr lange, bis sich im Gesamten etwas spürbar verändern wird. Bis dahin müssen wir trotzdem irgendwie mit unserem Stress zu Potte kommen.
Ich mag in diesem Zusammenhang eine Metapher aus dem Pferdetraining: die Angstschale. Man wundert sich ja manchmal, warum ein Pferd völlig gelassen an einem monströsen Traktor vorbeilatscht, dann aber bei einer vorbeisummenden Hummel ausflippt.
Das Bild dazu ist, dass jeder potentiell (aus Pferdesicht) gruselige Moment eine Kugel in die Angstschale wirft. Anfangs ist die leer, aber im Laufe des Tages wird sie immer voller. Und am Ende reicht eine eigentlich harmlose Sache, die das Pferd normalerweise nicht weiter beachten würde, um die Schale zum Überlaufen zu bringen und dann ist Schicht im Schacht.
Das passt auch auf Stress, finde ich.
Mit Pferden achte ich darauf, ihre Angstschale zwischendurch immer wieder zu leeren… etwa durch Schmusen oder durch Übungen, die sie bereits kennen und die ihnen Sicherheit vermitteln. Einfach, damit die Schale gar nicht erst so voll wird, dass es kritisch wird und damit noch genügend Raum da ist, um eine potentiell schwierige Situation trotzdem gut zu meistern.
So ähnlich versuche ich das bei mir mit dem Stress… wobei ich ehrlicherweise nicht so sonderlich gut darin bin.
Liebe Grüße
Anne
Hallo Anne,
entschuldige bitte, dass ich jetzt erst reagiere, dein Kommentar ist in einer Spamwelle untergegangen und ich habe ihn komplett übersehen.
Ja, eine schnelle oder gar sofortige Hilfe ist das leider nicht. Mir geht es auch ehrlich gesagt weniger darum, eine Hilfe gegen Stress anzubieten – dafür gibt es ja genug Stressbewältigungs-was-auch-immer -, sondern eben ein Gegengewicht dafür zu schaffen. Weil „das hilft gegen Stress“ begegnet uns ja überall, aber das festigt immer weiter, dass sich jede*r einzelne von uns darum zu kümmern hat, mit dem Stress klarzukommen, denn Gesellschaft, Arbeitswelt, Politik etc. für uns generieren. Umso mehr Menschen aber wahrnehmen, dass Stress nicht „natürlich gegeben“ ist, sondern wir alle anstatt gegen unseren persönlichen Stress, gegen den gesellschaftlichen Stress arbeiten müssten, umso eher kann sich an der Stelle auch – wenn auch erst irgendwann – etwas tun.
Auf dem Weg dahin braucht es aber definitv auch eine gute Behandlung des persönlichen Stresses und da ist die Angstschale sicher ein schöner Ansatz!
Liebe Grüße
Claudia