Über Nicht-Betroffenheit als Privileg
Das hier ist ein Text für Menschen, die sich ihrer Privilegien sehr bewusst sind. Wenn du denkst, dass du keine Privilegien hast – aus welchen Gründen auch immer -, möchte ich dich bitten, dich zunächst damit zu beschäftigen, was Privilegien tatsächlich sind und wie sehr du schon alleine durch deine Muttersprache oder dein Geburtsland privilegiert sein kannst. Dieser Text hier betrifft dich dann vermutlich eher nicht.
Es begegnet mir in den letzten Monaten so häufig: Die Aussage, dass es ja wohl ein Privileg sei, von einem bestimmten Problem NICHT betroffen zu sein und deswegen die Möglichkeit zu haben nicht aktiv werden zu müssen.
Auf den ersten Blick stimmt das! Natürlich ist es ein Privileg, sich entscheiden zu können, sich gerade nicht mit Thema X zu befassen, weil es für einen selbst keine direkte Relevanz hat (oder zu haben scheint).
Jetzt ist es aber so, dass diese Aussage eigentlich immer dann kommt, wenn es jemandem darum geht, anderen Schuldgefühle zu vermitteln: „Du bist mir gegenüber privilegiert, also fühle dich deswegen schuldig und kümmere dich um dieses eine Thema um das es mir gerade geht, sonst bist du nämlich ein schlechter Mensch, der sich auf seinen Privilegien ausruht.“
Klingt fies? Genau so ist es aber auch gemeint.
Nicht-Betroffenheit als Privileg zu framen ist eine Taktik, um Guild-tripping zu betreiben, also bewusst Schuldgefühle bei anderen auszulösen, damit sie dann etwas tun, das einem selbst wichtig ist und ganz ehrlich: Unabhängig von der Wichtigkeit des Anliegens ist dieses Taktik einfach richtig gemein und unfair.
Wenn ich sage: „Sorry, ich kann mich gerade nicht um dein Thema kümmern, ich habe keine Spoons“, ist das dann ein Privileg, weil ich es ja so gut habe und mich um das Thema, das für dich gerade wichtig ist, nicht kümmern MUSS? Oder muss ich das vielleicht sagen, weil es nun mal der Wahrheit entspricht und ich mich einfach nicht kümmern KANN? Und geht die Überlegung nicht eigentlich noch weiter und ich muss schon, BEVOR ich keine Spoons mehr habe, entscheiden, ob ich mich jetzt noch um dieses eine Problem, das DIR gerade super wichtig erscheint, kümmern kann oder eben nicht? Ist das dann ein Privileg, dass ich – im Gegensatz zu dir – dieses Thema ignoriere, ja eben ignorieren muss?
Natürlich klingt es wie ein Privileg, dass ich mich nicht um ein Thema kümmern MUSS, wenn ich mich nicht kümmern KANN, aber JEDE*R von uns hat und nutzt dieses „Privileg“! Kein Mensch kann sich mit allen Themen befassen – und keiner tut es!
Wir alle haben die Themen, die uns am wichtigsten sind und das liegt nahezu immer daran, dass wir selbst davon betroffen sind – oder eine Person, die uns nahe steht. Man kann das als Privileg framen oder als das, was es meiner Meinung nach tatsächlich ist: Ein lebensnotwendiger Filtermechanismus.
Wir alle kennen das: Die Informationsflut ist in den vergangenen Jahren größer und immer größer geworden, Nachrichten treffen quasi noch im dem Moment, in dem ein Ereignis eingetreten ist, bei uns ein, wir können nahezu alles mehr oder weniger live mitverfolgen, wir werden neben den allgemeinen Nachrichten auch noch von direkt Betroffenen oder ihren Familienangehörigen informiert, weil sie dank Social Media eine eigene Stimme in der Nachrichtenflut haben und können dadurch Leid, Kummer, Schmerz, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit… aus gefühlt nächster Nähe miterleben.
Das ist unheimlich wichtig!
Gleichzeitig sind wir nicht in der Lage, mit dieser Menge an Informationen umzugehen. Niemand von uns. Es ist menschlich unmöglich, alle Informationen zu verarbeiten, allen Themen Aufmerksamkeit – geschweige denn gleich viel Aufmerksamkeit – zu schenken und alle Menschen, die es nötig hätten, zu unterstützen. Kein Mensch kann das. Wirklich keiner.
Jeder Mensch hat daher ein integriertes Informationsverarbeitungssystem und dieses System filtert und priorisiert – MUSS filtern und priorisieren. Wir lesen nicht jede Nachricht, die existiert. Wir schauen uns nicht Videos zu allen Themen an. Wir folgen nicht Personen aus jedem einzelnen Dorf in jeder einzelnen Region mit jeder einzelnen Diskriminierungsform – weil wir es schlichtweg nicht können!
Wir spezialisieren uns auf einzelne Themen, beschäftigen uns damit, verfolgen Nachrichten dazu, folgen Menschen, die sich damit beschäftigen und von denen wir etwas mitnehmen wollen, wir lernen dazu, wenden unser Wissen an und verbreiten es vielleicht auch. Der Punkt ist aber: Es betrifft IMMER die Themen, die für uns am relevantesten sind – aus welchen Gründen auch immer.
Wie viele Themen und welche Themen wir als „unsere Themen“ haben, liegt nicht daran, was für gute Menschen wir sind oder sein wollen. Mit welchen Themen wir uns beschäftigen hängt ganz stark daran, was wir als wichtig und interessant empfinden, wozu wir einen Bezug haben, was etwas bei uns auslöst.
Für viele Menschen sind regionale Themen wichtig, weil sie sich mit ihrer Heimat verbunden fühlen – bei anderen ist diese Heimat aber vielleicht auch weiter gefasst, weil sie woanders geboren wurden oder aufgewachsen sind, weil sie irgendwo Verwandte haben und dadurch einen Bezug zu einer anderen Region haben. Darüber ergeben sich dann oft auch andere Bezugspunkte und damit weitere Themen, die wichtig sind. Berichten diese Menschen über Themen, die uns selbst betreffen, und zusätzlich über diese Themen, mit denen wir bisher wenig bis gar keine Bezugspunkte hatten, kann es sein, dass das unser Interesse daran weckt, uns auch mit diesen anderen Themen näher zu beschäftigen, obwohl wir gar nicht selbst Kontakt dazu haben oder (negativ) davon betroffen sind.
Sind diese Themen wichtig, obwohl sie uns nicht selbst betreffen? Natürlich! Verdienen sie unsere Aufmerksamkeit? Selbstverständlich!
Und dennoch ist es menschlich, dass wir nicht all diesen Themen unsere Aufmerksamkeit geben können, vollkommen egal, wie wichtig sie für eine andere Person oder eine andere Gruppe an Menschen ist.
Das ist hart, ich weiß. Jede Person würde es verdienen, dass alle ihre Themen gleich wichtig für andere Menschen sind, sie sich darum kümmern, Aufmerksamkeit schaffen und Unterstützung leisten. Da kommt uns aber der zweite Punkt in die Quere: Die Anzahl der möglichen Themen.
Wir alle haben nur bestimmte Kapazitäten und die sind noch nicht mal gleich – geschweige denn gerecht – verteilt.
Ich schaffe es an den meisten Tagen nicht einmal, mich mit all den Dingen zu beschäftigen, um die ich mich tatsächlich für mich kümmern müsste, weil sie direkt und unmittelbar Einfluss auf mein Leben haben oder haben werden. Meistens habe ich daneben etwas Energie für ein paar der Themen, die mir wichtig sind – mal für das eine mehr und für das andere weniger, aber meistens ist es eh zu wenig und das schon für die Themen, die mir wirklich, wirklich wichtig sind. Wenn enge Freund*innen etwas brauchen, kratze ich für sie gerne auch noch die letzten Energiereste zusammen, um für sie da sein zu können, aber das ist im Endeffekt alles, wozu ich in der Lage bin. Kommen „besondere“ Dinge dazu, fällt automatisch etwas anderes weg. Etwas, das mir wirklich wichtig wäre und um das ich mich unheimlich gerne kümmern würde, aber ich KANN ES NICHT, weil eine „Kleinigkeit“ zusätzlich mir die Energie dafür geklaut hat. Was für ein Privileg, dass ich mich dann nicht mit diesem Thema beschäftigen muss… /Sarkasmus
Meine Kapazitäten sind im Verhältnis zu denen der meisten Menschen stark eingeschränkt, aber im Endeffekt haben wir alle nur begrenzte Kapazitäten und natürlich setzen wir sie als erstes in die Dinge, die für uns wichtig sind – aus welchen Gründen auch immer. Das Problem dabei: Themen, die marginalisierte Gruppen betreffen, sind für die Mehrheitsgesellschaft im Normalfall nicht gerade relevant und bekommen dadurch weniger Aufmerksamkeit und Unterstützung.
Ich verstehe daher durchaus, wenn Menschen, die sich mit (vermeintlich) nicht-mehrheitsrelevanten Themen befassen, sauer und enttäuscht sind, wenn andere ihre Themen immer mit dem Hinweis auf nicht vorhandene Kapazitäten wegwischen.
Trifft das aber Menschen, die sich eh schon tagein, tagaus für (andere) nicht-mehrheitsrelevante Themen einsetzen und ständig über ihre Kapazitätsgrenzen gehen, weil sie unbedingt anderen helfen wollen – weil sie ja auch selbst wissen, wie es ist, ständig kämpfen zu müssen -, dann ist das gemein, bitter und unfair.
Es ist kein Privileg, sich um ein spezielles Thema nicht kümmern zu müssen. Das Privileg ist es, sich um weniger Themen kümmern zu „müssen“, als man Kapazitäten zur Verfügung hat und dann noch beliebige Themen dazu nehmen zu können – oder sich eben entscheiden zu können, das bewusst nicht zu tun.
Menschen, die schon keine Spoons für den Alltag oder ihre eigenen Themen haben, vorzuwerfen, dass sie sich um das Thema, das einem selbst gerade wichtig erscheint, nicht kümmern und ihnen mit der „das ist aber privilegiert, schämst du dich nicht“-Keule zu kommen um ihnen Schuldgefühle zu machen, ist gewaltsam!
Es ist für behinderte und/oder mehrfach diskriminierte Menschen definitiv kein Privileg, sich um ein bestimmtes Thema nicht kümmern zu müssen – auch, wenn dieses Thema DIR gerade mega wichtig ist und deine Bubble leider nicht so damit umgeht, wie du es dir wünschen würdest.
PS: Das Wort „betroffen“ ist sprachlich ein bisschen problematisch, weil es meistens einen negativen Zusammenhang hat. Ich bin mir darüber im Klaren, schaffe es aber in diesem Text nicht, besser damit umzugehen. Und auch das ist so ein Kapazitäten-Ding.