Longread: Neurodivergente Vorbereitungen auf den Urlaub – eine Geschichte
Ich liebe Urlaub. Oder halt, nein, ich sollte sagen: Mein ADHS-Anteil liebt Urlaub, denn die Wahrheit ist, dass der autistische Anteil in mir Urlaub unglaublich schrecklich findet, die Angststörung – nun ja – Angst davor hat und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) denkt, sie kann ihren Spaß damit haben.
Ein, zwei Wochen vor dem Urlaubsbeginn, geht es los: Der Autismus merkt immer wieder vorsichtig an, ob wir nicht vielleicht, so ganz langsam, also zumindest schon mal überlegen wollen, was wir mitnehmen sollen. Wir könnten ja eine Liste schreiben? Die ADHS schnaubt empört: „Eine Liste? Wer braucht schon eine Liste? Und außerdem ist es viel zu früh!“
Der Autismus beginnt dennoch heimlich, still und leise an einer Liste zu arbeiten – nur intern natürlich, denn Aufschreiben, das mag hier niemand. Dann fällt dem Autismus ein, dass wir uns auch Gedanken darüber machen sollten, wie wir am besten an unseren Urlaubsort kommen und die Angststörung findet das einen guten Moment, um einzuwerfen, was alleine auf der Fahrt alles schiefgehen könnte. Darauf springt der Autismus gerne auf, denn viele Fortbewegungsmethoden sind enorm stressig. Öffentliche Verkehrsmittel! Höllisch!
„Müssen wir jetzt darüber reden?“ fragt die ADHS und merkt an, dass noch sooo viel Zeit bis dahin wäre und wir doch einfach alles auf uns zukommen lassen sollten, das wäre ohnedies viel lustiger und aufregender und planen würde doch echt keinen Spaß machen, oder?
Autismus, Angststörung und PTBS rollen genervt mit den Augen: „Warum versteht die ADHS nie, dass man sich auf alle Eventualitäten vorbereiten muss?“ „Genau“, ruft die PTBS, „erinnert ihr euch noch an diese Geschichte, also das ist sicher schon ein paar Jahrzehnte her, aber ich habe mir gemerkt, dass das IMMER so ist und es war schrecklich und…“ „Pah“, unterbricht die Angststörung, „du immer mit deinen alten Geschichten. Wir müssen uns doch nur vorstellen, wie es werden wird, das ist doch schon gruselig genug“, und sofort beginnt sie, ein Szenario zu entwickeln, bei dem einfach alles furchtbar ist und der Autismus mischt eifrig mit, denn sensorische Überreizung, viele Menschen und Störungen im geplanten Ablauf, das sind Punkte, wo er sich sofort in Panik denken kann.
„Hey, Leute“, die ADHS platzt mitten rein und deutet auf das Handy, „wie wäre es, wenn wir uns mal das Wetter anschauen! Oh, eine E-Mail von der Unterkunft, auf die wir antworten sollen….“ Die ADHS erstarrt. Antworten! Das böse Wort. Die Angststörung starrt mit großen Augen auf die E-Mail: „Mach sie zu! Mach sie zu! Wir können da nicht antworten!“ Für den Rest des Tages meiden alle das Mailprogramm und bemühen sich, sich mit anderen Themen zu beschäftigen. Das mit der Antwort, das eilt doch sicher nicht. Die Ordnungsrufe des Autismus ignorieren alle.
In der Nacht folgt ein gruseliger E-Mail-Traum auf den nächsten und am nächsten Morgen schauen alle etwas bedröppelt drein. „Die E-Mail?“ murmelt der Autismus vorsichtig und alle versuchen sich, hintereinander zu verstecken. Da prescht die ADHS vor und schnaubt: „Pah, wir machen das jetzt einfach! So. Und so. Und so. Zack, weg damit!“ „Ähh“, merkt der Autismus leise an. „Was?“ die ADHS guckt in Erwartung von Kritik möglichst böse. „Nichts, nichts, es ist nur, also…“, der Autismus ziert sich etwas, schließlich weiß er diese impulsiven Aktionen der ADHS durchaus zu schätzen – wenn sie nur nicht immer die Hälfte vergessen würde. Da meldet sich die Angststörung zu Wort: „Können wir jetzt bitte das Handy weglegen und den Rest des Tages nicht mehr in die Hand nehmen? Ich habe Angst vor der Antwort, wisst ihr?“ Die anderen nicken verständnisvoll und starten das Ablenkungsprogramm.
„Wir könnten durch Instagram scrollen, das gibt Dopamin!“ ruft die ADHS. „Kein Handy!“ schallt es im Chor zurück.
Der Autismus schlägt vor: „Wie wäre es, wenn wir jetzt das beste Transportmittel ermitteln, das geht auch ganz schnell mit…“ „Kein Handy!“
Die PTBS setzt mehrfach an, um ein paar beängstigende Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen und die Stimmung zu trüben, da schnappt sich die ADHS doch das Handy und beginnt zu scrollen. Die anderen gucken empört, sagen aber nichts und der Rest des Tages geht in ADHS-bestimmter Ablenkung unter.
Irgendwann trifft auch die Antwortmail ein und ist – sehr zur Enttäuschung von PTBS und zur (mal wieder) riesengroßen Überraschung der Angststörung – absolut harmlos. Der PTBS-Recovery-Modus macht eine Notiz und die PTBS schaut ihn wütend an: Was mischt der sich ständig ein? Am Ende hört ihr irgendwann niemand mehr zu.
Am Abend versucht der Autismus die anderen mal wieder von der Sinnhaftigkeit von Planung zu überzeugen und möchte jetzt wirklich gerne das Anfahrtsproblem lösen. ADHS und Angststörung zoffen sich kurz über die Vor- und Nachteile von Bahnfahrten, während die PTBS den Hypervigilanz-Modus aktiviert und Nachrichten liest. „Da steht was von Bauarbeiten auf der Strecke“, informiert sie die anderen. Alle verstummen. „Kein Zug?“ fragt der Autismus hoffnungsvoll. „Nein“, antwortet die PTBS, „aber Schienenersatzsverkehr mit Bussen!“ Sie grinst boshaft. Alle hassen Busse und sie hat viele wunderbare Geschichten darüber auf Lager, warum sie sie weiterhin hassen sollten. Die Angststörung jammert sofort los, der Autismus stöhnt und die ADHS wirft spontan ein: „Wir könnten das Auto nehmen!“
Es ist kurz still. „Autofahren ist doch immer so anstrengend und außerdem…“, die PTBS kramt nach einer schlechten Erinnerung, da unterbricht sie der Autismus: „Also Autofahren wäre eigentlich okay.“ Die Angststörung weist auf die Parkplatzproblematik hin, aber die ADHS läuft jetzt zur Höchstform auf und präsentiert aus dem Stand drei verschiedene Lösungen. Der Autismus nickt. Die Angststörung murmelt nur noch leise vor sich hin und die PTBS zieht sich verwirrt von so viel guten Ideen erstmal zurück. Sie fühlt sich mit Verzweiflung und Verwirrung deutlich wohler.
Am nächsten Morgen, die ADHS ist immer noch ganz stolz auf ihren Erfolg vom Vortag, fragt der Autismus nach, ob wir jetzt nicht doch langsam über die Packlisten reden könnten. „Listen!“ die ADHS schnaubt. Hat denn der Autismus immer noch nicht verstanden, dass Listen langweilig sind? Langweilig, langweilig, langweilig! Sie denkt sich ein bisschen in Rage und plündert dann erstmal den Kühlschrank: Süßes hilft bei all dieser Aufregung!
„Wir sollten das Kochmesser mitnehmen“, platzt sie kauend heraus, „für Obstsalat!“ Der Autismus hebt den Kopf: Das klingt nach einer Liste! Nach Planung! Gutmütig spielt er mit: „Machen wir! Möchtest du sonst noch etwas einpacken?“ Die ADHS denkt einen Sekundenbruchteil nach, bevor die Worte nur so aus dem Mund schießen: „Das kleine Tomatenmesser! Und den Gemüseschäler! Und den Hobel! Und natürlich das große Brett! Und den Wok brauchen wir auch!“ Der Autismus nickt und nickt. Lauter Dinge für das Spezialinteresse! Manchmal liebt er die ADHS!
Da macht sie weiter: „Und die neuen Stifte, Papier dazu, dann noch die Perlen und Werkzeug zum Schmuck machen, die Lupenlampe, Faden und Nadeln, falls wir Buchbinden wollen, den Stapelschneider, den Drucken oh und den Webrahmen und ein, zwei Boxen Garn. Ach, und wir nehmen doch eh das Auto, da könnten wir doch auch noch die Malbücher mitnehmen und vielleicht ein paar Häkelnadeln, falls wir doch mal wieder Häkeln wollen und die Schwimmsachen, ein extra Paar Schuhe, falls wir wandern wollen und können wir vielleicht auch die Kräutertöpfe mitnehmen?“
Alle starren mit offenem Mund auf die ADHS. „Du meinst nicht, dass das vielleicht ein bisschen“, der Autismus räuspert sich, „also nur ein klitzekleines bisschen, also äh, zu viel sein könnte?“ Die ADHS erstarrt, schaut zum Autismus, der Autismus lächelt beruhigend zurück, doch es ist bereits zu spät. Die ADHS fühlt sich zurückgewiesen, kämpft mit den Tränen und zieht sich ganz weit zurück, felsenfest davon überzeugt, dass niemand sie mag. Die PTBS wittert ihre Chance, setzt sich zur ADHS und flüstert ihr zu, dass es doch immer das Gleiche wäre, dass immer alle gegen sie wären und sie einfach zu schlecht für diese Welt wäre. Dass der Autismus versucht, herauszufinden, wie er all diese Dinge vielleicht doch ins Auto bekommen könnte, damit die ADHS nicht traurig sein muss, bekommt sie nicht mehr mit. Der Rest des Tages endet in allgemeiner Traurigkeit.
Am nächsten Morgen verschläft die PTBS – die Erfolgsparty am Abend davor war vermutlich zu lang – und ADHS und Autismus setzen sich zusammen, um über die „Unterhaltungsmaterialen“ zu sprechen. Die ADHS hat sich inzwischen ausreichend beruhigt, um Abstriche zu machen und wird noch zusätzlich von der Aussicht auf: „Vielleicht finden wir ja einen tollen Laden mit Bastelsachen?“ abgelenkt. Die Angststörung merkt vorsichtig an, dass sie sich aber vielleicht nicht in den Laden hinein trauen würde, aber die ADHS beruhigt sie mit vor Vorfreude glitzernden Augen: „Selbstverständlich trauen wir uns in Laden mit Bastelsachen! Ich helfe dir!“ Der Autismus grinst.
In den nächsten Tagen wirft er immer mal wieder verschiedene Reisethemen ein und Schritt für Schritt organisiert er den chaotischen Haufen. Beim Thema Klamotten müssen die anderen ihn allerdings ordentlich zurückhalten und davon überzeugen, dass er nicht für jede mögliche Wetter- und Temperaturlage fünf verschiedene Outfits einpacken muss. Das schlagende Argument ist immer: „Fühlst du dich darin denn wirklich so wohl, dass du es im Urlaub anziehen möchtest?“ was der Autismus meistens verneinen muss, denn eigentlich trägt er nur eine Handvoll Sachen wirklich, wirklich gerne und genau die schaffen es schließlich in den Koffer. So wie das Schneidbrett, das Messer und die Stifte, für die die ADHS schließlich die perfekte Lösung findet: Ein zweiter Koffer. Unbemerkt packt sie dann auch noch die Lupenlampe, den Ventilator und die Insektenlampe ein – die anderen werden mit Sicherheit begeistert davon sein, wenn sie sie erstmal entdecken!
Immer wieder versucht die PTBS die Stimmung zu trüben, erzählt davon, wie wenig diese ganzen Pläne funktionieren werden und die Angststörung fühlt sich immer wieder zu den negativen Gedanken hingezogen und steigert sich am Abend vor der Abfahrt endgültig in ihre Panik hinein. „Alles wird schiefgehen!“ ist sie überzeugt. Entsprechend unruhig und anstrengend wird die Nacht und sie fühlt sich bestätigt: „So kann ein Urlaub nicht gut werden.“
Doch die ADHS ist jetzt im Urlaubsmodus und hüpft aufgeregt herum. Autofahren! Eine neue Stadt! Das Wetter ist toll! Wir können uns einen neuen Laden anschauen! Und noch einen! Und der Bastelladen! Und sicher können wir auch in das tolle Restaurant! Und Eis! Wir werden Eis essen!
Der Autismus ist zurückhaltender und hat ziemliche Bauchschmerzen: Das Zuhause zurück lassen… was, wenn es traurig ist? Was wenn die Wohnung uns vermisst? Und die Pflanzen? Und vielleicht haben wir etwas vergessen…
Die Angststörung fürchtet sich vor den vielen fremden Menschen und Situationen und eigentlich könnte man doch auch einfach zuhause bleiben und die Wohnung nicht mehr verlassen…?
Die PTBS ist verwirrt von so vielen unterschiedlichen Gefühlen und weiß gar nicht, worauf sie sich zuerst stürzen soll. Da grinst der Recovery-Modus und meint: „Wie wäre es, wenn du einfach zuhause bleibst? Du kannst ja die Wohnung trösten, damit der Autismus sich keine Sorgen mehr machen muss.“ Die PTBS schnaubt empört, doch der Vorschlag bringt alle anderen zum Lachen und das Lachen überdeckt die Sorgen und Ängste lange genug, um sich auf den Weg zu machen.
„Nächster Halt. Urlaub!“ jubelt die ADHS, der Autismus zieht den Sonnenhut etwas tiefer in die Stirn und die Angststörung klammert sich an die Hand der ADHS. Manchmal ist es gut, einen mutigen Freund an der Seite zu haben.