Ein behinderter Blick: Online-Shops vs. lokaler Handel
Kennt ihr diese Schlagzeilen, dass die Innenstädte veröden, die lokalen Einzelhändler sterben und an allem der böse, böse Onlinehandel Schuld hat? Ja? Aber kennt ihr auch die Schlagzeilen, dass der Onlinehandel so zugänglich und behindertenfreundlich ist und zu Recht immer größeren Zulauf erhält? Nein? Verständlich, weil darüber berichtet nämlich niemand.
Ich bin Autistin, habe ADHS, eine soziale Angststörung, eine (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, chronische Schmerzen, Fatigue, bin dick und noch ein paar Dinge mehr, die hier aber nicht so wichtig sind. Was wichtig ist: Meine verschiedenen Probleme führen dazu, dass klassisches Shopping für mich voller Probleme und Hürden steckt.
Das beginnt schon damit, dass ich nicht ohne weiteres zum nächstgelegenen Laden komme. Wir wohnen am Stadtrand, bis zu einem Basic-Lebensmittelladen ist es ein Kilometer. An guten Tagen laufe ich das – aber die guten Tage sind gerade sehr selten.
Brauche ich mehr als Lebensmittel wird es schon komplizierter, denn schon alleine der nächste Schuhladen ist fußläufig nicht mehr wirklich erreichbar. Ich könnte also den Bus nehmen, aber der Bus ist als Autistin mit sozialer Angststörung jedes Mal eine enorme Belastung und ich bin nach der Busfahrt so erschöpft, dass ich eigentlich direkt wieder ins Bett müsste, um mich dort den Rest des Tages zu erholen.
Also Auto? Ja, funktioniert, aber dann kommt das nächste Problem: Sensorische Überreizung.
Läden sind hell, laut und oft voller Menschen und ich kann nichts davon ausblenden, weil mein Kopf Reize nicht filtert, sondern jeden einzelnen davon verarbeiten möchte. Das ist so, als würden 10 wichtige Menschen gleichzeitig mit dir reden und du MUSST allen zuhören, weil ihre Informationen wichtig sind und sie von dir erwarten, dass du sie beachtest. Sie werden sie nicht wiederholen, du bekommst sie auch nicht schriftlich und Fehler darfst du dir nicht erlauben, also hörst du besser zu. Allen! Klingt anstrengend? Ja! Genau das ist es.
Und jetzt stell‘ dir vor, du musst, während diese Menschen mit dir reden, auch noch entscheiden, was du in dem Laden kaufen möchtest. Du musst Schuhe anprobieren (noch mehr Reize!), du musst sie vergleichen, Preise nachschauen und schließlich eine Entscheidung treffen – und immer noch reden diese zehn Menschen mit dir und du darfst nichts von dem, was sie sagen verpassen!
Währenddessen bereitet das grelle Licht dir Kopfschmerzen, deine Ohren tun weh vom Lärm, deine Haut fühlt sich an, als wärst du durch ein Brennnessel-Feld gelaufen und innerlich möchtest du am liebsten explodieren, weißt aber, dass das gerade nicht geht.
Irgendwann schaffst du es in dem ganzen Trubel, dich für ein paar Schuhe zu entscheiden, du schaffst es, sie zu bezahlen und jetzt musst du nur noch mit ihnen nach Hause kommen – und hoffen, dass deine Entscheidung nicht allzu schlecht war, denn sonst musst du sie zurückbringen und neue aussuchen und das ganze Drama geht von vorne los!
Aber selbst, wenn du es irgendwie geschafft hast, tolle Schuhe mit denen du echt glücklich bist zu finden: Der Preis dafür ist hoch, denn dieser eine Einkauf hat deine Energie für den ganzen Tag erschöpft – und oft auch für den nächsten und den übernächsten. Ja, du hast deine Schuhe, aber du wirst heute nichts mehr kochen können, dich nicht mit Freund*innen unterhalten können – von treffen reden wir gar nicht erst -, nicht mehr arbeiten können und dein geliebter Sport? Vergiss ihn – du hast doch ein paar Schuhe!
Ja, es gibt Läden, die angenehmer sind. Sie sind vielleicht kleiner oder leiser oder du hast das Glück zu einem Zeitpunkt dort zu sein, zu dem kaum andere Menschen unterwegs sind und das ganze Einkaufserlebnis ist dadurch deutlich weniger anstrengend.
Jetzt kommt aber noch dazu, dass ich dick bin und dass ich oft sehr spezielle Interessen habe und dafür sehr spezielle Dinge benötige. Kleidung in meiner Größe vor Ort kaufen? Schwierig. Sehr schwierig. Eine sehr spezielle Silikonform für mein Spezialinteresse Backen vor Ort kaufen? Unmöglich. Ernsthaft. Unmöglich.
Das, was ich möchte, gibt es oft vor Ort nicht. Auch, wenn ich einen echt guten Tag habe und es schaffe, 3, 4, 5 Läden abzuklappern – es gibt diese Dinge nicht und noch nicht mal etwas Vergleichbares! Online tippe ich das, was ich möchte in eine Suchmaschine ein und in 9 von 10 Fällen werde ich fündig und kann das Gewünschte direkt bestellen – manchmal habe ich Pech und es ist in Deutschland nicht verfügbar (oder die Lieferkosten sind mir hoch).
Ich bekomme also das, was ich gerne hätte und es kostet mich auch noch deutlich weniger Energie.
Für mich ist Onlineshopping einfach so, so viel zugänglicher!
- Ich bin nicht darauf angewiesen, dass ich körperlich dazu in der Lage bin, das Haus zu verlassen, zu einem Laden zu kommen und ihn zu betreten.
- Ich muss nicht mit sensorischen Problemen im Laden kämpfen, denn der „Laden“ ist direkt in meinem Wohnzimmer und dort bestimmte ich die Umgebungsparameter.
- Ich muss nicht mit fremden Menschen kommunizieren um das, was ich gerne hätte, auch zu bekommen, denn Onlineshops haben dafür Suchfunktionen.
- Ich bekomme Dinge, die ich vor Ort einfach nicht bekommen kann.
- Ich kann Preise direkt zwischen verschiedenen Shops vergleichen.
- Ich kann über Produkte recherchieren und bekomme oft bessere Informationen als im Laden.
- Ich bekomme alles nach Hause geliefert.
- Ich kann zuhause ganz ohne Stress alles an- und ausprobieren.
- Ich habe Zeit, um mich zu entscheiden, ob ich etwas möchte oder nicht und reduziere damit Impulskäufe.
- Ich kann Fehlkäufe zurückschicken.
Ja, Onlineshopping hat Probleme, viele sogar! Aber ich habe so die Nase voll davon, dass der „lokale Einzelhandel“ als besonders schützenswert angesehen wird, während darüber nachgedacht wird, wie man Onlineshopping unattraktiver machen kann!
Ich erwarte überhaupt nicht mehr, dass der lokale Einzelhandel für mich zugänglich – geschweige denn attraktiv – ist, aber die Sache ist doch die: Entweder der lokale Einzelhandel passt sich an mich als Kundin an oder er lebt damit, dass ich mir eine Alternative suche!
Einzelhändler*innen haben immer weniger Kundschaft, weil alle lieber online kaufen? Ich verrate euch was: Es liegt nicht an den günstigen Preisen. Online ist oft überhaupt nicht billiger. Aber es ist zugänglicher, verfügbarer, einfacher, energiesparender und nervenschonender!
Natürlich kann der lokale Einzelhandel nicht alle Wünsche abdecken – ich verstehe total, dass meine ganz spezielle Silikonform vor Ort nicht verfügbar ist -, aber ist es wirklich so, dass 90 % der Menschen im Gegensatz zu mir gerne helle Lichter und laute Musik beim Einkaufen haben? Oder stört es sie nur einfach nicht und der Handel freut sich, weil er dann nichts verändern muss und die Marketing-Bibeln doch alle sagen, dass Dauerbeschallung zu mehr Einkäufen führt? Dann freut euch, aber wundert euch nicht länger, dass Menschen, die mit lauter Musik nicht zurechtkommen, nicht bei euch einkaufen wollen – ihr wollt sie ja offensichtlich überhaupt nicht als Kund*innen haben!
Wollt ihr doch? Dann werdet verdammt noch mal zugänglicher für Menschen wie mich, bevor sie euch alle davonlaufen!
Bei mir ist es schon zu spät, denn ich genieße die Vorteile des Onlineshoppings mittlerweile viel zu sehr, als dass ich mich wieder auf den ach so guten, alten lokalen Einzelhandel einlassen wollen würde, aber es gibt Menschen, die tatsächlich gerne vor Ort einkaufen und es wird Zeit, dass der lokale Einzelhandel sich für deren Bedürfnisse interessiert!
Zerstört mein Verhalten den lokalen Einzelhandel? Nein. Der lokale Einzelhandel zerstört sich selbst und das tut mir so leid für die Menschen, die auf ihn angewiesen sind!
PS: Ja, Mitarbeiter*innen im Onlinehandel und Paketzusteller*innen haben es oft hart und das finde ich echt Mist – nur glaubt bitte nicht, dass Mitarbeiter*innen im lokalen Einzelhandel es so viel besser haben. Die Probleme sind oft andere – und oft auch die gleichen.
PPS: Ja, große Onlinehändler, die ihre Steuern möglichst klein rechnen sind scheiße. Aber glaubt ihr, dass euer lokaler Einzelhändler vor Ort – der ja in den meisten Fällen auch nur Teil einer größeren Kette ist -, das nicht auch macht – soweit es ihm halt möglich ist?
Das ist meine Sicht und meine Gründe, warum ich lieber online einkaufe. Es gibt aber genau so auch behinderte Menschen, für die vor Ort einkaufen Vorteile gegenüber Online-Shopping hat!
Unsere Probleme und Lösungsansätze sind einfach unterschiedlich. Gemeinsam haben wir, dass wir uns wünschen würden, dass unsere Bedürfnisse besser berücksichtigt werden und das Einkaufen – wie und wo auch immer – dadurch für uns einfacher werden und uns weniger Energie kosten würde.
2 thoughts on “Ein behinderter Blick: Online-Shops vs. lokaler Handel”
I feel you. Die mentale, emotionale und schlichtweg auch körperliche Energie, die es braucht, um Dinge jenseits von den normalen Lebensmitteln zu besorgen, steht bei Einkäufen im Laden für mich oft in keinem Verhältnis.
Mein „Einkaufsradius“ beschränkt sich auf zwei Discounter (vertraut und immer gleich aufgebaut)… zwei Rewe (bei denen mich der größere von beiden regelmäßig verunsichert, wenn ich etwas nicht finde… aber verkehrstechnisch liegt er eigentlich eher auf dem Weg und ich hab ein schlechtes Gewissen, nur wegen meiner Unsicherheit einen Umweg zu fahren)… einen Pferde-/Futtermittelladen… und das war es eigentlich.
Wenn ich zu anderen Läden muss oder vielleicht auch sogar will, fahre ich nur in Begleitung von meinem Mann oder meiner besten Freundin. Die sind wie Schutzschilde für mich. Nicht alleine zu sein, nimmt mir viel von der sozialen Angst, von der Angst verloren zu gehen (so doof das auch klingt) und ein Stück weit auch von der Reizüberflutung, weil ich mich auf meine Begleitung fokussiere und sie mir auch beim Orientieren im Laden hilft und beim Entscheiden.
Und wenn ich körperlich nicht mehr kann und mich im Laden hinsetzen muss, dann ist das okay, wenn meine Freundin bei mir ist… aber alleine würde ich mich das nie trauen und lieber den Einkauf abbrechen, als mir etwas anmerken zu lassen.
Aber ich kann und will ja auch nicht dauernd andere Leute behelligen, wenn ich etwas besorgen will. Und ja… online ist das alles so viel, viel entspannter und kostet mich weitaus weniger Energie.
Letztlich macht es für mich moralisch gesehen auch keinen wirklichen Unterschied, ob man vor Ort in der Filiale irgendeiner riesigen Kette einkauft oder bei einem großen Onlinehändler… oder eben ob man in einen kleinen Laden marschiert oder einen kleinen Webshop auswählt.
Liebe Grüße
Anne
Ja! Ganz ähnlich geht es mir auch! Ein paar vertraute Läden (und bei mir selbst die mit meinem Mann als Unterstützung) und wenn ich dann doch woanders hin muss oder mag, weiß ich schon, dass es in Überforderung enden wird. Manchmal ist es das wert, aber meistens ist online die bessere Lösung für mich.
Und ja, genau das ist es ja: Auch vor Ort kauft man ja meistens bei Ketten – oder kann auch online bei kleinen Shops kaufen.
Liebe Grüße auch an dich!
Claudia