Routinen und ADHS
Meine Küche versinkt mal wieder im Chaos. Ungespültes Geschirr, angebrochene Packungen, ein Teil vom letzten Einkauf, leere Gläser… Ich ärgere mich über mich: „Warum kann ich nicht ordentlicher sein?“
Da fällt mir ein: Ich habe vorgestern die komplette Küche aufgeräumt, alles war sauber, die Flächen waren freigeräumt, nichts stand mehr herum. Es war großartig. Aber das war vorgestern. Heute ist schon wieder Chaos.
Irgendwo in mir schimpft eine Stimme: „Du musst einfach jeden Abend vor dem Schlafengehen die Küche aufräumen. Das braucht nur ein wenig Routine!“
Eine Routine! Na klar! Routinen sind schließlich so etwas wie der heilige Gral der Selbstoptimierungswelt: Mit Routinen ließen sich quasi alle Probleme lösen, sie würden einen zu einem besseren, fitteren, erfolgreicheren Menschen machen – also zu genau dem, was wir für erstrebenswert halten.
Eine Routine zu etablieren ist – laut Selbstoptimierungstipps – auch ganz einfach: Fange mit einer kleinen, einfachen Sache an (z.B. jeden Morgen ein Glas Wasser trinken) und baue deine Routinen dann langsam aus.
Ich scheitere schon an dem Glas Wasser.
Es ist nicht so, dass ich gar keine Routinen hätte. Ich stehe z.B. morgens auf, gehe auf die Couch und… eine Stunde später lege ich dann doch mal das Handy weg. Das ist aber nicht die Art von Routine, die die Selbstoptimierungsprofis meinen und ich frage mich: „Warum fallen mir die angepriesenen ‚sinnvollen‘ Routinen so schwer?“
Nun, die Sache ist die: Warum möchte ich überhaupt eine bestimmte Routine etablieren? Warum ist sie „sinnvoll“? Weil sie mich besser, ordentlicher, fitter, erfolgreicher machen soll? Weil das irgendwie wichtig ist in unserer Gesellschaft? Weil es Vorteile mit sich bringt?
Joa, klingt nett, aber um ehrlich zu sein: Das interessiert mich eigentlich gar nicht.
Was so oft als irrelevant abgetan wird ist genau der Punkt: Mein ADHS-Hirn kann schlichtweg nur die Dinge tun, die es tatsächlich interessieren, weil sie z.B. irgendwie spannend sind oder neu oder dringend, weil sie Kreativität miteinbeziehen oder eine Herausforderung darstellen.
Morgens ein Glas Wasser trinken um sich an Routinen zu gewöhnen? Die Küche aufräumen, einfach nur, damit es ordentlich ist? Da guckt mein Hirn nur empört und fragt: „Warum?!“ Das ist einfach uninteressant und motiviert mein Hirn so gar nicht. Auch nicht, wenn es mich eines Tages erfolgreicher oder zu einem besseren Menschen machen könnte. (Ganz abgesehen davon, dass mein ADHS-Hirn auch nichts mit „eines Tages“ anfangen kann.)
Ein ADHS-Hirn schaltet komplett ab, wenn es sich dazu gezwungen fühlt, etwas zu tun. Umso mehr ich also versuche, eine Routine aufzubauen, die für mein Hirn keinen Sinn ergibt, umso mehr blockiert es und ich kann GAR NICHTS mehr machen.
Aufräumen funktioniert bei mir so, dass ich eine ADHS-konforme Motivation dafür suche, z.B.:
Ich möchte kochen, also muss ich vorher aufräumen. (Dringlichkeit)
Ich kann etwas tun. (Aktivität)
Ich könnte ein neues Putzmittel testen. (Neuheit)
Ich könnte etwas neu organisieren. (Kreativität)
Ich könnte schauen, ob es schneller geht, wenn ich den Ablauf ändere. (Herausforderung)
Manchmal finde ich durchaus auch „aufgeräumt“ eine gute Motivation, aber nie so sehr, dass ich dafür eine Routine aufbauen wollte und könnte.
Heißt das jetzt, dass ich gar keine ‚sinnvollen‘ Routinen haben kann? Nein. Ich muss nur MIT meinem ADHS-Hirn arbeiten, anstatt es zu bekämpfen und bei einigen Dingen akzeptieren, dass ich dafür eben keine Routine aufbauen kann – und das ist überhaupt nicht schlimm, denn Routinen sind gar nicht die Lösung aller Probleme und sie machen einem auch nicht zu einem besseren Menschen.
Wenn wir an einer Routine scheitern, passt sie vielleicht nicht zu unserem Hirn.