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My neurodivergent life is a piece of art

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

25. Oktober 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Erst kürzlich tauchte auf einer großen Autismus-Seite mal wieder ein Text zum Thema „Autismus überwinden“ auf. In dem Text ging es hauptsächlich darum, wie falsch es doch wäre, davon auszugehen, dass Autismus ein Teil von einem selbst sei und dass er nicht heilbar wäre. Man müsse nur tüchtig an sich arbeiten und dann wäre der Autismus auch nicht mehr diagnostizierbar und damit geheilt. Wer das Gegenteil behaupte, hätte einfach nur das Problem, sich zu sehr mit seinem Autismus zu identifizieren und das gelte es zu überwinden.

Jetzt ist es so, dass der Artikel ein bisschen schummelt. Der Autor stützt sich auf die DIAGNOSTIZIERBARKEIT von Autismus und wir wissen ja: Autismus wird nur diagnostiziert, wenn die Diagnosekriterien erfüllt sind. Die Diagnosekritierien umfassen aber in erster Linie von außen erkennbare Symptome plus Leidendruck. Wirkt man also auf andere nicht mehr autistisch und hat keinen Leidensdruck mehr – ZACK – geheilt!

Das ist aber eigentlich nur der Punkt, an dem das „Störungsmodell“ psychischer Krankheiten an sein Limit kommt und wo wir nicht über Heilbarkeit, sondern über Diagnostizierbarkeit diskutieren sollten. Diagnosen sind nicht dafür da, um ein anderes Denken, Fühlen oder Wahrnehmen zu beschreiben. Sie sind dafür da, um eine Störung, eine Abweichung im Norm-Verhalten (also dem Verhalten der Mehrheit) zu beschreiben und diese Abweichung möglichst so zu verändern, dass sie nicht mehr „stört“ (meistens eher das Umfeld als die Betroffenen). Ich empfehle hierzu auch sehr den Post „Diagnose nur mit Leidensdruck“ der Autismusambulanz Halle!

Wenn der Autor des genannten Artikels also darüber spricht, dass Autismus „heilbar“ ist, sagt er eigentlich: Man kann als Autist*in so gut lernen, die autistischen Merkmale zu verstecken, dass man nicht mehr als Autist*in erkannt wird. Herzlichen Glückwunsch! /s (Tonindikator: Sarkasmus) Hier wird Masking als Heilung verkauft!

Warum ist es so schwer – auch als Autist*in – zu akzeptieren, dass man für immer autistisch sein wird?
Warum ist der Gedanke daran, nicht „geheilt“ werden zu können, so unerträglich, dass man sich selbst Brücken baut, um sich nicht länger als Autist*in wahrnehmen zu müssen?

Ich fürchte, die Antwort liegt darin, wie Autismus immer noch wahrgenommen wird. Sie liegt in all den Defiziten und den Problemen. Sie liegt in den Diagnosekriterien und sie liegt in den „Therapien“, die allzu oft immer noch darauf abzielen genau das zu erreichen, was der Autor des von mir kritisierten Textes empfiehlt: Benimm‘ dich normal, dann bist du auch kein*e Autist*in mehr! Dann störst du nicht mehr! Dann bist du nicht mehr lästig! Dann muss ich keine Rücksicht mehr auf dich nehmen!

So ist es aber nicht. Autismus hat man für immer – und Rücksicht verdient übrigens jeder Mensch!

Vollkommen egal, ob ich mich autistisch präsentiere oder nicht, ob ich dir in die Augen sehen kann oder nicht, ob ich Sarkasmus und Redewendungen verstehe, Spezialinteressen habe oder diesen Wollpullover, den du so kuschelig findest als unerträglich kratzig bezeichne und sofort wieder ausziehen muss oder ertragen kann – ich bin autistisch.

Autismus, das ist nicht das, was du von außen siehst. Er ist nicht das, was mich für dich anstrengend und seltsam macht. Autismus ist auch nicht das, was für dich unangenehm ist oder mich als pingelig und übersensibel dastehen lässt.

Autismus ist das, was ich empfinde, wie ich wahrnehme, wie ich denke. Autismus ist meine Sicht auf die Welt, nicht deine.

Du findest mich anstrengend, unhöflich, kleinlich und überempfindlich? Aber warum stört dich das überhaupt? Warum nervt es dich, wenn ich dir nicht in die Augen sehe? Warum fühlst du dich davon verletzt, dass ein Pulli, den du angenehm empfindest, für mich kratzt? Warum ist es so schlimm, dass meine Wahrnehmung eine andere als deine ist?

Und warum darf das für dich schlimm sein, aber nicht für mich?

Als Autistin bin ich es gewohnt, dass meine Wahrnehmung als falsch oder unpassend empfunden wird. Ich bin es gewohnt, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, wenn ich etwas anders wahrnehme, dass ich mich dafür entschuldigen muss, wenn neurotypische Menschen mich mal wieder falsch verstehen oder dass ich mich so verhalten muss, wie es für mich unangenehm ist, nur um andere nicht zu enttäuschen oder als unhöflich empfunden zu werden.

Autistisch zu sein ist, als würdest du in eine fremde Kultur geworfen werden, mit einer fremden Sprache und fremden Gesten, Ritualen und Bräuchen und als würden die Mitglieder dieser Kultur überhaupt nicht verstehen, dass es neben ihrer Kultur auch eine andere – nämlich deine – gibt. Sie gehen davon aus, dass alle ihre Kultur und Sprache verstehen, dass ihre die einzig wahre Kultur ist und jede Person, die darin nicht so perfekt ist, ist fehlerhaft und krank.

Natürlich kannst du diese Kultur und Sprache lernen, vielleicht sogar so gut, dass die Mitglieder der Kultur irgendwann gar nicht mehr merken, dass das gar nicht wirklich deine Kultur ist und dich nicht länger als fehlerhaft, sondern als „geheilt“ betrachten. Aber wärst du wirklich „geheilt“? Oder würdest du einfach immer noch alles, was du siehst erstmal „übersetzen“? Würdest du vielleicht auch nach 20 Jahren klammheimlich immer noch vieles in D-Mark umrechnen, weil das das ist, was sich für dich vertraut und sicher anfühlt? Würdest du einen Teil deiner Energie dafür verwenden, in dieser fremden Kultur nicht aufzufallen, obwohl es immer noch nicht DEINE Kultur ist, nur um geheilt zu erscheinen, niemanden zu stören, „normal“ zu sein?

Genau so ist es auch mit der „Heilung“ von Autismus.

Ja, ich kann lernen, mich neurotypisch zu verhalten, aber ich werde nie lernen, neurotypisch zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen. Ich denke, fühle und empfinde neurodivergent, autistisch, adhs-ig… eben so, wie ich bin!

Wenn Comic-Figuren eine Maske überziehen und dann für jemand anderes gehalten werden, erkennen wir alle, dass das in Wirklichkeit überhaupt nicht funktionieren würde. Wenn sich Robin Hood in der Disney-Version einen Schnabel anzieht und auf Stelzen geht, um als Storch am Wettkampf teilzunehmen, wissen wir als Zuschauer*innen natürlich immer noch, dass er in Wirklichkeit Robin Hood ist – auch, wenn er noch so perfekt den Storch mimt und im Film auch als solcher durchgeht. Denn er IST Robin Hood, egal, wie sehr er sich wie ein Storch benimmt.

Und genauso sind wir Autist*innen eben Autist*innen – auch dann, wenn wir eine neurodivergente Maske anziehen, jemandem in die Augen schauen und Metaphern verstehen.

Wenn ich mit anderen Autist*innen (oder auch Menschen mit ADHS) rede, merke ich, wie unsere Denkweisen sich ähneln, wie wir die Welt auf eine ganz andere Art wahrnehmen und verarbeiten, als das bei neurotypischen Menschen der Fall ist. Unser Verständnis der Welt, der Menschen und ihrer Verhaltensweisen ist ganz, ganz anders und unsere Schwierigkeit besteht oft darin, diese Verhaltensweisen für uns zu übersetzen – und im Gegenzug auch uns zu übersetzen, um uns für andere begreifbar zu machen.

Es ist nicht der AUSDRUCK, der uns zu Autist*innen macht (auch wenn es das ist, was diagnostiziert wird). Es ist unser Inneres. Es ist unsere Wahrnehmung. Es ist unsere Denkweise. Es ist unser Fühlen.

Nichts davon kann oder müsste geheilt werden.

Die einzige „Überwindung“ einer Autismusspektrumstörung, die ich mir wünsche ist die, dass Autismus nicht länger als Störung, Defizit oder Defekt verstanden wird, sondern als eine von vielen Möglichkeiten zu sein. Nicht besser, aber eben auch nicht schlechter als neurotypisches Sein.

Autismus hat man für immer und es ist Zeit, das nicht länger als Nachteil zu sehen. Nur so kommen wir zu einem „modernen“ Blick auf Autismus, ADHS und andere Neurodivergenzen. Nur so kommen wir zu einem zeitgemäßen Blick auf Diversität, auf „Normalität“, Abweichungen und Behinderungen.

Es geht nicht um Heilung oder Überwindung. Es geht um Anerkennung jeglicher Lebensrealität als gleichwertig.

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

Der Tag, als ich mein Spezialinteresse verlor

13. Oktober 2022 Claudia Comments 0 Comment

Vor vielen, vielen, vielen Jahren war mein Spezialinteresse PHP, eine Skriptsprache, mit der sich viele Online-Anwendungen realisieren lassen. Nicht, dass ich damals schon wusste, was ein Spezialinteresse ist, aber rückblickend, war es definitiv genau das.

Ich hatte 2001 mit PHP angefangen, mich sofort darin vertieft und alles darüber gelernt und ausprobiert, was mir irgendwie in den Sinn kam. Nach kurzer Zeit schrieb ich ein Tutorial dazu – eigentlich nur, um einem Freund PHP zeigen und erklären zu können – und es entwickelte sich zu einer Anlaufstelle für all jene Menschen, die mit den üblichen Programmier-Tutorials nicht zurechtkamen.

In den folgenden Jahren programmierte ich viel für mich selbst, aber auch für andere. Ich liebte die Herausforderung, die Probleme und die Wege zu einer Lösung. Ich liebte die Art zu denken und was mein Gehirn damit machte. Ich suchte mir immer neue Aufgaben, experimentierte mit Dingen, die so gut wie gar nicht dokumentiert waren und probierte einfach herum, bis etwas für mich funktionierte.

PHP war für mich ein ganz großer, wichtiger Teil meines Lebens, ja meiner Identität. Wenn ich mich damit beschäftigte, schien alles zu glitzern und zu funkeln, in meinem Kopf leuchteten die Verbindungen auf, lockten mich, führten mich. Alles war fließend und wunderschön…

… und dann kam ein Tag, an dem alles verschwand.

Ich steckte in einem größeren Projekt, eine Internetseite mit stark personalisiertem Content Management System, hatte viele tolle Ideen, die ich noch einbringen wollte, spannende Überlegungen… und plötzlich verstand ich nichts mehr. Nicht meine eigenen Gedanken, nicht meine Pläne, nichts von dem bereits geschriebenen Code.

Da stand etwas, ja, ich konnte es auch lesen, aber ich verstand nicht mehr, was es tun würde. Ich verstand nicht mehr, was ich davor oder danach oder drumherum brauchte, um etwas damit zu erreichen. Ich verstand nicht mehr, was ich tun musste, um ganz simple Dinge, die ich schon hunderte Mal gemacht hatte, wieder zu machen.

Mein Kopf fühlte sich gleichzeitig komplett leer und übervoll an, alle Verbindungen, die darin immer vorhanden waren und die so wunderschön und verlockend geglitzert hatten, waren abgerissen, nichts leuchtete mehr und diese dunkle Leere schien mich zu verschlucken, während all die kaputten Fetzen mich erdrückten.

Ich quälte mich durch das Projekt – es musste ja fertig werden -, behalf mir mit Copy&Paste und ein paar ziemlich unsauberen Stellen, die meinem Verständnis von mir selbst und meiner Arbeit sehr, sehr zuwider liefen. Gleichzeitig war mir aber klar: Es ging nicht anders.

Jedes Mal, wenn ich versuchte, auch nur aus den Augenwinkeln auf mein ehemals glitzerndes Netz zu schauen, bekam ich Kopfschmerzen, alles schien sich zusammenzuziehen, wie in einem Krampf, jeder Gedanke an Code, Funktionen, Aufgaben, Lösungen war wie ein Schlag ins Gesicht.

Das Projekt habe ich noch abgeschlossen, aber danach hieß es, damit klarzukommen, dass ich einen Teil von mir selbst verloren hatte. Ich liebte coden! Ich liebte diese Denkweise! Ich sehnte mich danach. Aber sie gehörte nicht mehr zu mir….

Ich erinnere mich nicht mehr an die Zeit danach, sie ist für mich wie gelöscht. Meine einzige Erinnerung ist die daran, dass jede Bitte um Wartung einer Internetseite, die ich entwickelt hatte, mich in ein dunkles Loch schleuderte, ich total verzweifelt war und diese Barriere, die da in meinem Kopf war, mich unendlich quälte.

Es waren zum Glück immer nur Kleinigkeiten, die sich dann am Ende doch lösen ließen – mit einem absolut nicht gerechtfertigten Aufwand, aber irgendwie bekam ich sie hin; und war unendlich froh, als die Anfragen immer seltener wurden.

Ich kann bis heute nicht mehr wirklich programmieren. Manchmal versuche ich es noch, sehe eine spannende Aufgabenstellung, mit der ich mich beschäftigen möchte und hin und wieder ist dann für einen Moment sogar wieder das Spielerische, Faszinierende da. Das glitzernde, funkelnde, fließende Netzwerk ist aber nie wieder zurückgekommen und Anfragen zum Thema PHP führen immer noch zu Angst vor der großen, dunklen, alles lähmenden Klammer in meinem Kopf.

Ich weiß bis heute nicht, was da passiert ist, neige aber inzwischen dazu, es als Form eines autistischen Burnouts zu verstehen. Ich weiß nicht, was dazu geführt hat, erinnere mich nur an viel Stress und Druck und Angst und Hilflosigkeit – die meisten Erinnerungen an diese Zeit sind aber einfach weg.

Es fehlt mir immer noch hin und wieder: Das Programmieren, dieser Teil von mir, das wunderschöne Netzwerk, das in meinem Kopf glitzerte, die Zufriedenheit, wenn ich ein Problem lösen konnte, diese Klarheit, die im Code lag… Es war wunderschön.

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

5. Juli 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Viele unserer Tätigkeiten passieren ganz oder großteils automatisch, man spricht auch vom Autopiloten. Wenn du etwas trinken möchtest, gehst du zum Beispiel zum Schrank, nimmst ein Glas heraus und füllst es mit deinem üblichen Getränk. Du denkst normalerweise nicht darüber nach, welches Glas du nimmst, wo du es abstellst, um es zu füllen oder wie voll du es machen wirst. All das passiert ganz von selbst.

Die meiste Zeit kann ich das auch, aber wenn meine exekutiven Funktionen gerade nicht auf der Höhe sind, setzt dieser Autopilot aus.

Das beginnt dann schon damit, dass ich darüber nachdenke, wie ich denn den Schrank mit den Gläsern überhaupt öffne. Muss ich meinen Arm heben? Aber tut mir nicht die Schulter weh? Wird der Schmerz schlimm sein? Wo greife ich die Schranktür an? Wie viel Kraft brauche ich, um sie zu öffnen?

All das, was eigentlich eine ganz automatisch ablaufende Handlung ist, wird mit einem Mal in lauter einzelne Teile zerlegt.

Oder ich muss ganz bewusst darüber nachdenken, in welcher Reihenfolge ich etwas mache. Erst die Schranktür öffnen? Oder erst den Wasserhahn aufdrehen?

Stell dir vor, dich würde jemand fragen, ob du beim Händewaschen erst das Wasser aufdrehst und die Hände nass machst oder erst die Seife nimmst. Oder drehst du vielleicht das Wasser auf, nimmst aber erst Seife und machst die Hände dann nass?

Wenn du die Aufgabe in einzelne Schritte zerlegst, wird sie plötzlich kompliziert, du musst sie dir vielleicht genau vorstellen und vielleicht bekommst du sogar Zweifel, ob du es wirklich so machst, wie du denkst.

Bei einer Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen entsteht genau dieses Nachdenken und diese Unsicherheit. Gerne noch zusätzlich verbunden mit konstantem Hinterfragen: Mache ich das richtig? Brauche ich das wirklich? Geht es nicht vielleicht doch anders? Was kommt als nächstes?

Du wäschst dir nicht mehr einfach die Hände, holst dir nicht mehr einfach ein Glas Wasser, sondern die simple Tätigkeit wird zu einer riesengroßen Aufgabe.

Es gibt verschiedene Hilfen dafür.

Manchen hilft es, wenn sie visuelle oder auditive Anweisungen bekommen, zum Beispiel Zeichnungen, wie man Zähne putzt.

Anderen hilft es, die einzelnen Schritte aufzuschreiben, um das Chaos im Kopf ein wenig zu sortieren und sich einen Plan zurechtlegen zu können.

Bei mir hilft am Besten, nicht darüber nachzudenken.

Ich versuche, den Moment der Verwirrung und des Planens zu überspringen und doch wieder in den Automatismus zu kommen, indem ich an einer „späteren“ Stelle ansetze.

Vielleicht kennst du die Taktik von der Eingabe von Passwörtern oder PINs.

Wenn du ein Passwort häufig benutzt, tippen es deine Finger quasi automatisch, du denkst nicht bewusst darüber nach. Wenn du aber längere Zeit im Urlaub warst, fällt dir vielleicht am Abend des letzten Urlaubstags ein: „Mist, ich habe mein Passwort vergessen!“ Du denkst darüber nach und es fällt dir einfach nicht ein oder du erinnerst dich an alte Passwörter oder die für ganz andere Accounts.

Am nächsten Tag öffnest du trotzdem das Anmeldefenster, willst noch ein letztes Mal darüber nachdenken und mit einem Mal tippen deine Finger ganz automatisch das Passwort ein. Das richtige Passwort. Du hast nicht darüber nachgedacht, dich nicht bewusst erinnert, deine Finger wussten einfach, was zu tun ist. Das ist das Muskel- oder Körpergedächtnis.

Genau das nutze ich bei Phasen von exekutiver Dysfunktion. Ich denke nicht über das, was ich tun möchte, nach, sondern überlasse dem Körper die Führung.

Es funktioniert nicht bei Tätigkeiten, die ich noch nicht oft genug gemacht habe oder die ganz neu sind oder wenn ich einer Anleitung folgen muss. Deswegen kann ich in solchen Phasen zum Beispiel nicht backen. Ich kann aber damit zum Beispiel trotz exekutiver Dysfunktion die Küche aufräumen – WENN es mir gelingt, den Schritt des Nachdenkens zu überspringen und das Muskelgedächtnis aktiviert wird.

Wenn nicht… tja, dann kann ich für eine ganze Weile gar nichts mehr tun, weil ich einerseits versuche, mich dazu zu bringen, diese Sache zu machen, es aber andererseits nicht schaffe und quasi „feststecke“.

Wichtig für mich ist also immer: NICHT NACHDENKEN! TUN!

… und mich nicht darüber ärgern, wenn es mal wieder nicht funktioniert. Dann räume ich die Küche halt ein anderes Mal auf und backe den Kuchen dann, wenn die exekutiven Funktionen besser sind.

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

30. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wisst ihr noch, als ich gesagt habe, ich würde verstehen, dass sich so viele Menschen für „ein bisschen autistisch“ halten würden? Oder, dass sie der Meinung wären, ADHS-Merkmale wären „normal“? Ich verstehe es immer noch, denn vieles von dem, wovon neurodivergente Menschen erzählen, gleicht dem, was andere Menschen auch mal erleben. Es ist nur weit davon entfernt, unserer Lebensrealität zu entsprechen, denn die Intensität, die Häufigkeit und die Einschränkungen, die damit einhergehen, sind ganz, ganz anders.

Ich dachte daher, ich erzähle davon, wie mein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein aussieht, denn das gehört auch zu diesen Dingen, die ja jede*r kennt… oder vielleicht doch nicht?

In vorpandemischen Zeiten war es so, dass mein Mann morgens das Haus verließ, bevor ich aufstand. Er kam nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr zurück und wir hatten dann etwa sechs gemeinsame Stunden, bevor wir schlafen gingen. Am Wochenende verbrachten wir mehr Zeit zusammen, aber im Großen und Ganzen kann man sagen, ich hatte jede Woche etwa 50 bis 60 wache Stunden für mich alleine – und ich brauchte sie nicht nur, sie waren mir auch oft nicht genug.

Durch die Pandemie hat sich viel verändert, der Ehemann hat vermehrt Homeoffice gemacht und ich fand es sehr, sehr schwierig, mich daran zu gewöhnen. Von einem Moment auf den anderen hatte ich gar keine Zeit mehr für mich! Wir waren ständig zusammen und Rückzug bedeutete auf einmal mich hinter meinem Laptop und meinen Noise-Cancelling-Kopfhörern zu verstecken, aber keine echte Ruhe, kein echtes Alleinsein mehr zu haben.

Ich habe mich damit arrangiert, habe mich abgelenkt, habe versucht, damit klarzukommen und dann kam der Moment, als er zurück ins Büro sollte. So wie mich davor der Wechsel von „viel Zeit alleine“ zu „gar keine Zeit alleine“ beeinträchtigt hatte, so ging es mir auch jetzt wieder mit dem Gegenteil. Ich hatte Angst alleine. Ich fühlte mich nicht wohl. Ich lag stundenlang wie erstarrt auf der Couch oder futterte mich durch den Kühlschrank auf der Suche nach emotionaler Regulation. Es war furchtbar.

Wir suchten Lösungen wie ein gemeinsames Mittagessen, damit ich nicht ganz alleine war, und mit der Zeit wurde es besser. Ich fing langsam wieder an, die Zeit alleine zu genießen, sie tatsächlich für mich zu nutzen, anstatt in einen tagtäglichen Wartemodus zu verfallen, wo ich nur darauf wartete, dass er wiederkam.

Und langsam begann auch der konstante Stress nachzulassen, die konstante Überreizung durch die so lange ständige Anwesenheit einer anderen Person bei gleichzeitig fehlender Erholungszeit wurde weniger und ich merkte, dass ich mich endlich wieder ruhiger fühlte.

Momentan habe ich drei Wochentage, wo ich alleine zuhause bin, an einem davon essen wir noch gemeinsam zu Mittag, an den übrigen vier Tagen ist der Mann die ganze Zeit anwesend. Das funktioniert meistens sehr gut, ich merke aber auch: In stressigen Zeiten reicht mir diese Menge an Alleinzeit nicht aus.

Die letzten fünf Wochen habe ich viel, viel Energie in Projekte für andere Menschen gesteckt. Ich mochte das und dennoch hat es mich gleichzeitig sehr, sehr angestrengt. Dazu kamen ein emotional sehr schwieriges Wochenende und das letzte Drittel meines Zyklus und Anfang dieser Woche war ich zu nichts mehr fähig. Totale Überlastung.

Ich konnte keine Gespräche mehr führen, erinnere mich an große Teile der Zeit überhaupt nicht mehr, weiß nicht einmal mehr so recht, was wir gegessen haben. Ich konnte nicht mehr nachdenken, nicht mehr schreiben, nicht mal mehr Ideen haben. Alles war weg und ich unendlich erschöpft.

Ich habe dann den Home-Office-Tag des Mannes mit Noise-Cancelling-Kopfhörern und einer Serie verbracht, habe auch an den anderen Tagen viel, viel Zeit mit nichts als Serie gucken und essen verbracht und dazwischen geputzt und aufgeräumt, weil mir das Gefühl von Ordnung und Kontrolle gut getan hat. Am ersten Tag alleine habe ich ein bisschen herumgemalt, Konzentration war noch schwierig und ich habe immer nur ein Blümchen oder ein Steinchen ausgemalt. Abends habe ich mich hinter meine Serie verkrochen, wollte meine Ruhe haben und es ging mir definitiv nicht gut. Am zweiten Tag allein habe ich den Ehemann darum gebeten, das gemeinsame Frühstück ausfallen zu lassen, damit ich mehr Zeit für mich hatte und am Nachmittag ging es mir immerhin so gut, dass ich meinen Bandwebstuhl bespannen konnte – Serienzeit für mich alleine brauchte ich dennoch. Heute ist Tag 3, an dem ich Zeit nur für mich habe, die Serie ist zu Ende geguckt, ich kann meine Gedanken wieder in Worte fassen und ich hoffe, ich schaffe es heute, etwas zu kochen.

Morgen ist Home-Office-Tag und so sehr ich mich darauf freue, dass der Ehemann anwesend ist – denn ich verbringe wirklich gerne Zeit mit ihm -, so sehr weiß ich auch jetzt schon, dass mir noch ein, zwei oder noch mehr Tage nur für mich sehr gut tun würden.

Ich BRAUCHE diese Zeit nur für mich. Ich brauche Zeit, in der nichts außer mir und meinen Gedanken anwesend ist, in der ich mich auf mich konzentrieren kann, die ich ohne Druck oder Notwendigkeiten steuern und gestalten kann. Ich tue viele Dinge für uns in dieser Zeit – ich kümmere mich um den Haushalt, schmiede Pläne, organisiere Sachen… was man halt normalerweise so nach Feierabend noch erledigen muss. Das kann ich aber wiederum nur, weil diese Tätigkeiten eingebettet sind in Ruhephasen und in Zeiten, in denen mein Kopf nicht mit der Anwesenheit einer anderen Person beschäftigt ist.

(Es gibt eine Szene in der BBC-Serie Sherlock, wo Sherlock einen Polizisten aus dem Raum schickt, weil seine Anwesenheit ihn beim Denken stört. Ich finde diese Szene sehr, sehr nachvollziehbar!)

Mit einem „normalen“ Leben sind 50-60 Stunden Alleinsein pro Woche nicht zu vereinbaren. Also zumindest, wenn man in der Zeit auch Wachsein möchte, denn da kommen ja noch mal 50-60 Stunden Schlaf dazu. Bei 168 Stunden pro Woche heißt das, dass ich selbst eine mir sehr, sehr nahestehende Person im Wachzustand gerade mal rund 40 Stunden ertrage… besser weniger. Und bei weniger nahestehenden Personen sind noch mal deutlich weniger Stunden erträglich.

Mein Leben – unser Leben – ist so weit wie möglich auf meine Bedürfnisse abgestimmt. (Disclaimer: Auch auf die des Ehemanns!) Wir haben das große Glück – das Privileg! -, dass das möglich ist – nicht ohne Einschränkungen, aber trotzdem möglich! Trotzdem komme ich regelmäßig an meine Grenzen, liege metaphorisch am Boden, weil ich nicht mehr kann und bin überfordert, überlastet, überreizt, am Ende meiner Kräfte, verliere Tage, weil nichts mehr geht – weil so das Leben mit meinen psychischen und physischen Einschränkungen nun mal ist. Weil so das Leben mit Behinderungen ist.

Und dennoch, ich wiederhole es: Ich habe Glück!

So, so viele Menschen haben dieses Glück nicht! Sie MÜSSEN irgendwie funktionieren, auch wenn sie schon am Boden liegen, wenn sie sich seit Wochen, seit Monaten, ja seit Jahren nicht mehr komplett erholen konnten, weil ihre Bedürfnisse im Kapitalismus nicht vorgesehen sind. Weil uns weißgemacht wird, dass, wer nichts „leistet“ auch nichts wert ist. Weil wir darauf gedrillt werden, davon auszugehen, dass alle anderen faul sind, sich auf Kosten anderer bereichern wollen würden oder nur einfach härter arbeiten müssten, damit es ihnen besser ginge.

Aber so ist es nicht.

Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern, sind nicht diejenigen, die arm sind, nicht diejenigen, die krank sind, nicht diejenigen, die als nicht fleißig und leistungsfähig genug gelten. Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern sind diejenigen, die unsere Vorbilder sind: Die Reichen, die Mächtigen, die Bewundernswerten.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Vorbilder zu wechseln.

Liebe Gesellschaft: Du bist dran!

Liebe Gesellschaft: Du bist dran!

19. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wie lebt man mit dem Wissen, dass das eigene Leben nie normal sein wird?

Mein Leben lang wollte ich nichts mehr als „nicht ich“ sein, sondern einfach so wie alle anderen. Ich wollte dazugehören, mich richtig verhalten, ein Teil der Gesellschaft sein, ja, auch „meinen Beitrag leisten“, damit diese Gesellschaft funktioniert. Ich habe mich angestrengt, weit über meine eigenen Möglichkeiten hinaus, habe mich immer noch mehr bemüht und mich dafür gehasst, dass ich es trotz allem Bemühen nicht geschafft habe.

Dann verstand ich endlich, dass es nicht an persönlichem Versagen, sondern an persönlichen Gegebenheiten liegt und eine Weile fand ich das tröstlich. Aber das ist es gar nicht.

Wenn es persönliches Versagen wäre, dann könnte ich mich einfach mehr anstrengen, noch mehr und immer mehr. ICH hätte es in der Hand, könnte eine Änderung bewirken und ein Scheitern liegt dann zwar auch an mir, aber wenn ich mich vielleicht noch ein bisschen mehr anstrengen würde, dann könnte ich es doch schaffen!

Wenn es in den Gegebenheiten liegt… was soll ich tun? Ich kann mich natürlich dennoch mehr anstrengen, aber so wenig, wie ich je lernen werde zu fliegen, so wenig werde ich es auch schaffen, mir durch genügend Anstrengung ein „normales“ Leben zu ermöglichen.

Ich bin traurig, dass es so ist und gleichzeitig bin ich wütend. Wütend, weil ich es einfach nicht ändern kann, weil mir der Handlungsspielraum genommen wurde, weil ich das kleine bisschen Kontrolle, von dem ich dachte, dass ich es besäße, einfach so geklaut wurde! Ich habe keine Kontrolle über meinen Platz in dieser Gesellschaft. Ich habe keine Kontrolle darüber, wie erfolgreich ich sein kann, wie schön, wie reich. Ich kann nichts kontrollieren!

Und doch sind wir es so gewohnt, dass alles eine persönliche Leistung – oder eben persönliches Versagen – ist, dass wir gar nicht mit dem Gedanken umgehen können, in Wirklichkeit überhaupt keine Kontrolle darüber zu haben.

Wo wir im Leben stehen, ist nichts als Glück.

Du hast dir dein Leben durch harte Arbeit verdient? Das ist toll! Nur ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass es Glück ist, dass du überhaupt so hart arbeiten kannst? Dass es vielleicht nur glückliche Umstände sind, die deine harte Arbeit erfolgreich sein lassen? Dass du vielleicht das Glück hattest, von den richtigen Personen wahrgenommen zu werden oder im richtigen Moment die richtige Idee hattest?

Ich will damit nicht sagen, dass deine harte Arbeit nichts wert ist!

Ich will nur sagen: Harte Arbeit ist nicht der einzige Faktor und deshalb ist es auch so, dass harte Arbeit auch zu überhaupt gar keinem Erfolg führen kann. Du könntest dich auch über Jahrzehnte hinweg jeden einzelnen Tag so sehr bemühen, dass du jeden Abend zu Tode erschöpft in dein Bett kippst, und trotzdem könnte es nur dafür reichen, dass du irgendwie klarkommst und es gerade noch so in dein Bett schaffst.

Harte Arbeit und der daran geknüpfte Erfolg sind nichts als eine schöne Geschichte, ein Märchen, ein Traum, der uns dazu bringen soll, genau das zu tun, was wir tun: Alles zu geben und uns trotzdem selbst die Schuld geben, wenn es nicht „reicht“.

Daran liegt auch, dass wir eigentlich nur jene Menschen sehen, die in irgendeiner Art und Weise erfolgreich sind. Wir leben für Erfolgsgeschichten und Scheitern darf nur vorübergehend sein und der Beginn einer motivierenden Geschichte, die wiederum zum Erfolg führt. Und genau das bekommen wir! Filme, Bücher, Social Media – wir sehen den Erfolg, den Wandel hin zu etwas Positivem, die Inspiration unser eigenes Leben „in die Hand zu nehmen“, weil: Wir können das doch alle!

Nein! Können wir nicht. Es gibt schlichtweg nichts, das wir einfach alle können. Natürlich können wir uns alle bemühen, wir können uns Ziele setzen und daran arbeiten, aber nicht für jede*n ist jedes Ziel gleich erreichbar.

Für mich ist das Ziel, in diese Welt, diese Gesellschaft mit all ihren Werten und Normen und Ansichten zu passen, einfach gar nicht erreichbar und ich will nicht mehr daran arbeiten. Ich will mich nicht mehr bemühen. Ich will nicht mehr meine Energie darauf verwenden als wenigstens etwas weniger seltsam durchzugehen! Ich will nicht länger auf Glück hoffen und diese Hoffnung hinter harter Arbeit verstecken.

Ich will einen Platz in dieser Welt, ohne ihn mir erkämpfen zu müssen und ich will, dass IHR ihn mir gebt. Mir und euch und allen anderen auf dieser Welt!

Es ist nicht mein Job, in diese Gesellschaft zu passen. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, für alle zu passen!

Liebe Gesellschaft: Du bist dran!

Wenn ich still werde

Wenn ich still werde

13. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Ich habe immer etwas zu sagen. Ich liebe es, Wissen weiterzugeben, meine Gedanken zu teilen, Dinge – inkl. mir selbst – zu erklären. Und doch werde ich immer mal wieder still, rede für Wochen nur wenig, möchte mich nicht an Gesprächen beteiligen und höre nur noch zu. Reden, schreiben, mich mitteilen ist mir zu viel, denn in meinem Kopf sind einfach zu viele Gedanken. Gedanken, die sich auch noch überschneiden und bei denen ich im Bruchteil von Sekunden von einem Thema zu fünf anderen springe und von dort direkt weiter und immer weiter. Und dann erklären, wieso ich gedanklich wo ganz anders bin? Anstrengend…

Ich schweige also, während mein Kopf versucht, all die vielen Dinge, über die er gerne nachdenken würde, zu Ende zu denken – oder zumindest so weit, dass ich darüber reden kann. Vielleicht passiert das morgen, vielleicht in einer Woche, vielleicht auch erst in einem Monat oder einfach nie.

In der Zwischenzeit dreht sich die Welt aber weiter und neue Ideen werden in meinen Kopf gespült und auch die wollen durchdacht werden, wollen eingehegt werden in das Konstrukt an Gedanken, wollen neue Verbindungen aufbauen, schon Durchdachtes noch einmal verändern, verstärken, erweitern.

Manchmal sind es so viele neue Gedanken, dass ich denke, ich werde nie wieder aus meinem Schweigen herausfinden, weil es endlos dauert, bis alle Gedanken durchgedacht sind und doch, irgendwann ist er da, dieser Moment, in dem sich die Gedanken klären und ich wieder reden, schreiben, mich mitteilen kann.

Ich warte sehnsüchtig darauf und weiß doch, dass sich der Prozess nicht beschleunigen lässt, weil Denken auch eine Sache von Zeit ist, weil es nicht nur aktives Denken ist, sondern auch sich selbst Zeit geben, um die Gedanken zu verarbeiten und zu verdauen. Es braucht Zeit und Raum, in denen Gedanken reifen dürfen – in denen wir reifen dürfen, uns weiterentwickeln dürfen, wir werden dürfen. Ein Leben lang.

Selbstgespräches sind super
Selbstgespräche sind super

Selbstgespräche sind super

2. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Solange ich mich erinnern kann, führe ich Selbstgespräche. Sie laufen intern ab, niemand würde sie von außen bemerken, und sie sind ein nahezu konstanter Begleiter in meinem Leben. Ich habe dabei verschiedene Formen von Selbstgesprächen: Manche sind ein Dialog, bei dem ich mich mit mir selbst unterhalte, andere sind eher wie eine kommentierende oder erklärende Stimme und manche sind wie störende Zwischenrufer.

Ich empfinde meine innere Stimme die meiste Zeit als hilfreich. Sie hilft mir beim Strukturieren meiner Gedanken, sie bietet mir Trost und Ermutigung und sie erleichtert es, Ereignisse zu verarbeiten und zu memorieren.

Manchmal benutzen aber auch meine Angststörung, die Depression oder die posttraumatische Belastungsstörung die innere Stimme und dann ist sie gefährlich für mich, denn sie formuliert dann sehr viel Negatives, erzählt mir von allem, was schief gehen könnte und von allem, was schon mal schief gegangen ist, sie nimmt die Stimme meiner Traumaverursacher an und ahmt sie nach und erzählt mir, was für ein schlechter Mensch ich doch wäre, oder sie zerlegt eine Situation in lauter Einzelteile und analysiert sie endlos auf mögliche Fehler meinerseits.

Ich würde sagen, dass DAS nicht wirklich mein innerer Dialog ist. Es ist eine gekaperte, vergiftete Version davon und sie hat einen eigenen Namen: Intrusive (aufdringliche) Gedanken. Ich mag sie nicht.

Die anderen, die echten Selbstgespräche, die mag ich aber, empfinde sie als wichtigen und hilfreichen Teil von mir. Dennoch dachte ich mein Leben lang, dass meine inneren Dialoge seltsam wären und etwas, für das ich mich zu schämen hätte. Nie hätte ich jemandem davon erzählt – oder zumindest nicht so, dass ich es nicht als Witz hätte abtun können. Ich dachte, die Selbstgespräche kämen von meiner Neurodivergenz und wären nur ein weiterer Teil meiner „Seltsamkeit“ – und dann stellte sich heraus, dass dem gar nicht so ist. Oder vielleicht doch. Oder wieder auch nicht.

Zunächst: Die meisten Menschen führen Selbstgespräche UND Selbstgespräche sind etwas Gutes!

Wir beginnen im Kindesalter damit, mit uns selbst zu reden. Wir erzählen uns zum Beispiel Handlungsabläufe oder geben unseren Spielsachen Stimmen und lassen sie Situationen ausspielen. Irgendwann gehen diese gesprochenen Selbstgespräche („selbstbezogenes Sprechen“) in innere Selbstgespräche über und werden zu unserer inneren Stimme.

Sie helfen uns weiterhin dabei, Handlungen durchzuführen, Probleme zu lösen oder Situationen zu bewältigen. Der innere Monolog – oder der innere Dialog – motiviert uns, erinnert uns, verbalisiert unsere Empfindungen, bereitet uns auf Gespräche oder Situationen vor, analysiert und bewertet. Unsere innere Stimme hilft uns dabei, die Welt zu verstehen und ein Teil von ihr zu sein.

Wir können unsere Selbstgespräche bewusst initiieren und auch steuern und damit zum Beispiel gegen intrusive Gedanken vorgehen oder wir nutzen sie, um eine schwierige Aufgabe zu erleichtern oder uns auf eine Situation vorzubereiten. Daneben laufen Selbstgespräche aber auch ganz automatisch und unbewusst ab und uns fällt vielleicht gar nicht auf, dass wir gerade mit uns selbst reden.

Wie ist das jetzt mit der Neurodivergenz?

Wir haben schon gesehen: Selbstgespräche sind nicht auf neurodivergente Menschen beschränkt, sondern jeder Mensch hat einen mehr oder weniger stark ausgeprägten inneren Dialog. Die Wissenschaft geht davon aus, dass Selbstgespräche wichtig für die exekutiven Funktionen sind und untersucht daher die Wirkung und Funktionsweise von inneren Gesprächen bei Menschen mit exekutiven Dysfunktionen.

Diese Studie untersucht beispielweise speziell innere Sprache bei Autismus und bei Schizophrenie mit akustisch verbalen Halluzinationen, hat aber auch einen sehr interessanten Abschnitt über ADHS. Sie kommt dabei zu der Vermutung, dass bei Autismus der innere Dialog seltener genutzt wird (vor allem, wenn die sozio-kommunikativen Fähigkeiten eingeschränkt sind), während er bei ADHS unkontrollierter und damit tendenziell störender ist. Beides könnte nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler negative Auswirkungen auf die exekutiven Funktionen haben.

Ich kann aufgrund meiner eigenen Erfahrungen gerade die ADHS-Sicht sehr gut nachvollziehen. Nachts nicht einschlafen können, weil die Gedanken noch durch den Kopf toben? Klingt doch sehr nach unkontrollierten inneren Mono- oder Dialogen! Und auch intrusive Gedanken (die ja auch bei ADHS häufig sind) sind wahrscheinlich eine Form davon.

Man kann also sagen:

  • Selbstgespräche – egal ob verbalisiert oder innerlich (innere Stimme, innerer Dialog, innerer Monolog, innerer Sprache, inneres Gespräch…) – sind sowohl für neurotypische als auch für neurodivergente Menschen üblich.
  • Selbstgespräche sind äußerst nützlich.
  • Selbstgespräche können bewusst eingesetzt werden.
  • Selbstgespräche können aber gerade in unkontrollierter Form auch hinderlich oder schädlich sein.
  • Unkontrollierte Selbstgespräche können die Form von negativen Selbstgesprächen oder intrusiven Gedanken annehmen. Es ist möglich, diese negativen Selbstgespräche bewusst zu kontern, indem man positive Selbstgespräche dagegen einsetzt.

Ich mag meine eigenen Selbstgespräche jetzt noch mehr und werde mich zukünftig sicher auch nicht mehr dafür schämen, denn was innere Dialoge alles können ist einfach sehr, sehr cool!

Abwechslung und Routine - Autismus trifft ADHS
Abwechslung und Routine – wenn ADHS auf Autismus trifft

Abwechslung und Routine – wenn ADHS auf Autismus trifft

18. April 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Routinen sind schwierig für mich. Oder nein, eigentlich sollte ich sagen: Routinen, die mir keinen Spaß machen, sind schwierig für mich. Okay, auch mit Spaß laufen Routinen nicht so richtig perfekt, denn mein ADHS-Hirn liebt nun mal Abwechslung und Neues und Routinen sind genau das nicht – und sollen es auch gar nicht sein.

Jetzt ist es aber so, dass mein Kopf nicht nur Abwechslung liebt, sondern durchaus auch Gewohntes und Vertrautes – ADHS trifft Autismus. Gibt es zu viele Veränderungen in meinem Alltag, werde ich nervös und unausgeglichen. Noch schlimmer, wenn ich nicht selbst darüber bestimmen kann. Die Abwechslungen sind dann nicht mehr wünschenswert und belebend, sondern bedrohlich und angsteinflößend. Ich kann mich dann nicht mehr konzentrieren, werde fahrig und schreckhaft, befürchte immer das Schlimmste und habe konstant unspezifische Befürchtungen, denn: „Wer weiß, was noch alles passieren könnte!“

Ich brauche Dinge und Abläufe, die sich nicht verändern, sondern vorhersagbar und bekannt sind und mir durch diese Gleichförmigkeit Sicherheit bieten. Ich brauche… Routinen.

Aber da ist ja noch die andere Seite in mir. Die Seite, die Neues, Aufregung, Abwechslung braucht und wenn sie es nicht bekommt, ähnlich heftig reagiert. Gibt es zu wenig Veränderung in meinem Alltag wird das Bedürfnis danach immer drängender, aufgeregter, lauter. Die Gedanken drehen sich nur noch darum und werden dabei schneller und immer schneller. Der Druck nimmt beständig zu. Ich brauche Neues. Dringend! Alles in mir schreit und drängt auf eine Erfüllung des Bedürfnisses. Es nimmt allen Raum in mir ein, belegt jeden Gedanken, beeinflusst jede Entscheidung. Es ist auf seine ganz eigene Art nicht weniger beängstigend.

Mein Ziel ist es, beiden Seiten gerecht zu werden: Das richtige Maß an Neuem und Vertrautem, an Abwechslung und Routine.

Dieses Gleichgewicht zu finden ist nicht immer einfach, denn eine Unmenge an Faktoren spielt dabei eine Rolle – und ich kenne sie weder alle, noch lassen sie sich zur Gänze von mir beeinflussen. Es ist also eher eine Sache von „Versuch und Irrtum“ und klappt mal besser und mal schlechter. Ein paar dieser Faktoren habe ich aber für mich ausgemacht.

Vertraute Abläufe und Dinge

Alles, was ich regelmäßig mache, sollte für mich immer in einem ähnlichen Rahmen ablaufen und vertraute Orte und/oder Gegenstände beinhalten. Zum Beispiel:
Wocheneinkauf: Wenn möglich am gleichen Tag, zu einer ähnlichen Uhrzeit und in einem von drei oder vier möglichen Läden, wo ich dann alles in der gleichen Reihenfolge erledigen kann.
Zähne putzen: Bitte immer mit der gleichen Zahncreme. Überhaupt bin ich sehr produktfixiert: Ich suche erst ewig nach dem perfekten Produkt und kaufe dann immer genau dieses nach. Gerne auch sicherheitshalber in größeren Mengen, weil es ja aus dem Sortiment genommen werden könnte.
Brauche ich etwas außer der Reihe, kann ich das nur an einem Tag holen, an dem ich genügend Kapazitäten für diese Veränderung habe – oder ich bestelle es (wenn möglich) online.
Die gewohnten Abläufe tragen sehr stark dazu bei, dass ich genügend Vertrautes in meinem Leben habe. Entsprechend gestresst reagiere ich hier auf Veränderungen.

Kein Einfluss bedeutet mehr Stress

Wenn ich mit Veränderungen konfrontiert werde, die ich nicht beeinflussen kann, reagiere ich extrem schnell stark gestresst. Umso mehr sich also durch andere an meinem gewohnten Ablauf ändert, umso weniger komme ich damit klar und umso mehr muss ich mit mehr Ruhe und weniger Abwechslung in anderen Bereichen ausgleichen. Die wechselnden Homeoffice-Regelungen bei meinem Ehemann sind zum Beispiel ein großer Stressfaktor für mich und ich benötige bei jedem Wechsel mehrere Wochen, um mich darauf einzustellen. In dieser Zeit habe ich deutlich weniger Energie und kann nur schwer Neues anfangen oder Veränderungen auch nur überdenken. Kann ich Veränderungen jedoch selbst in Gang setzen, führen sie zu deutlich weniger Stress und erfüllen eher das Bedürfnis nach Abwechslung.
Ich hoffe immer auf möglichst wenig Veränderung von außen, weil es mir mehr Spielraum für eigene Veränderungen gibt.

Routinenabläufe

Es fällt mir grundsätzlich leichter, wenn eine Routine in einen Ablauf eingebettet wird anstatt an einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Uhrzeit gebunden zu werden. Ich lade zum Beispiel jedes Wochenende unsere elektrischen Zahnbürsten. Ich mache das aber nicht, weil es Samstag oder Sonntag ist, sondern weil wir mir ein paar Marker sagen, dass Wochenende ist: Wir schlafen aus, ich bin meistens die erste im Badezimmer, der Ehemann ist zuhause (Homeoffice-Verwirrung vorprogrammiert). Genau so funktioniert Spazierengehen für mich am Besten (und eigentlich auch nur dann), wenn ich direkt nach dem Aufstehen in Klamotten und Schuhe schlüpfe und losgehe. Mache ich erst das Bett oder entsperre auch nur das Handy, funktioniert das ganze Spazierengehen nicht mehr.
Wenn ich tatsächlich bewusst eine neue Routine etablieren möchte, arbeite ich meistens mit Routinenabläufen und schaue, wo ich meine Routine „andocken“ kann.

Abwechslungsreiche Routinen

Es gibt durchaus die Möglichkeit Routinen und Abwechslung zu kombinieren. Die beste Möglichkeit, die ich bisher dafür gefunden habe, sind für mich Spaziergänge. Ich bin auf meinen Spaziergängen meistens auf der selben Strecke unterwegs, was mir Sicherheit und Ruhe gibt. Gleichzeitig ist es aber so, dass die Natur selbst sich pausenlos verändert – es ist anderes Wetter, irgendwo wachsen Blumen oder mir begegnen Tiere. So bekomme ich selbst auf der immer selben Strecke jede Menge Abwechslung. Und wenn ich mehr Abwechslung möchte oder brauche, gibt es noch meine alternativen Wege. Nach etwa 1,5 km kommt eine Stelle, an der ich mich entscheiden kann, ob ich den gewohnten Weg nehmen möchte, oder meine Strecke etwas verändern will. Nach einem weiteren Kilometer auf dem Standardweg gibt es wieder so eine Stelle und später noch einmal. Ich entscheide mich manchmal für eine der Alternativen, aber auch, wenn ich das nicht tue, ist mein Bedürfnis nach Abwechslung beruhigt, weil ich ihm die Möglichkeit gegeben habe, sich zu melden und es berücksichtigt hätte.
Für mich ist das die beste Möglichkeit meine unterschiedlichen Bedürfnissen bewusst gleichzeitig zu befriedigen und ich schaue oft, wo und ich welchem Maß ich Abwechslung in Routinen integrieren kann.

Trotz dieses Wissens habe ich natürlich Phasen, wo ich es nicht schaffe, die Bedürfnisse beider Seiten zu erfüllen. Gerade wenn viele Veränderungen von außen kommen ist es sehr schnell sehr schwierig für mich und ich kämpfe dann massiv mit den Auswirkungen, die auch dazu führen können, dass ich tagelang komplett überlastet bin und kaum noch etwas machen kann. Der umgekehrte Fall tritt seltener ein. Wenn ich Abwechslung oder Neues bräuchte, es aber durch äußere Umstände nicht möglich ist, kann ich das meistens viel länger verkraften – auch, weil mir winzige Veränderungen oft schon reichen.

Ich empfinde meine unterschiedlichen Bedürfnisse sehr stark wie zwei Freunde, die gegenseitige Zugeständnisse machen, um eine schöne gemeinsame Zeit verbringen zu können. Meistens klappt das.

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