Deine Neurodivergenz macht dich nicht zum Safe Space
Als ich das erste Mal online von meinem Autismus erzählte passierte etwas sehr Schönes: Menschen, die ebenfalls Autist*innen waren, begannen, sich mit mir auszutauschen, erzählten mir von ihren Leben, ihren Schwierigkeiten und sofort fühlte ich mich bedeutend weniger alleine.
Eines Tages aber machte ich den „Fehler“ und erzählte davon, dass Duschen für mich oft schwierig wäre, weil ich Wasser auf meiner Haut nicht immer ertragen kann. Eine Person, mit der ich davor sehr viel Kontakt hatte, war empört, beschimpfte mich, beschuldigte mich, ihr das Leben durch solche Aussagen schwerzumachen und erwartete von mir, „so etwas“ nie wieder über Autist*innen zu sagen.
Ich war geschockt. Ich zitterte am ganzen Körper, wiederholte wieder und wieder, was sie gesagt hatte, was sie aufgeregt hatte, was da abgegangen war, sprach mit verschiedenen Menschen darüber und brauchte dennoch am Ende Monate, in denen ich mich auch komplett von Social Media zurückzog, um endlich damit klarzukommen, und die Angst vor einer möglichen weiteren solchen Reaktion zu verlieren.
Irgendwann traute ich mich zurück, traute mich auch wieder, auch „solche“ Dinge zu teilen, aber ich bin bis heute sehr, sehr zurückhaltend, was engeren Kontakt zu anderen Menschen anbelangt – auch und gerade zu anderen neurodivergenten Menschen!
Als marginalisierte Menschen tendieren wir dazu, andere Menschen, die zu unserer Gruppe gehören, automatisch als Safe(r) Space wahrzunehmen. Die sind wie wir! Da müssen wir nicht masken, nicht immer alles erklären, nicht um Verständnis für unsere Probleme bitten, denn wir wissen, dass wir diese Probleme teilen und sie damit verstehen können.
Das passiert in jeder Gruppe: People of Color, Behinderte, neurodivergente Menschen, queere Menschen, Alleinerziehende, Pflegende…. Wir fühlen uns zueinander hingezogen, weil wir ähnliche Kämpfe haben, weil wir wissen, wie es ist, in dieser Gesellschaft nicht immer dazuzugehören und oft sind wir so dankbar dafür, endlich Menschen gefunden zu haben, die so sind wie wir, dass wir vergessen, dass es nicht diese eine Eigenschaft ist, die uns ausmacht, die uns „kompatibel“ zueinander macht, sondern noch viel, viel mehr.
Wir vergessen, dass wir trotz eines identischen Hintergrundes, ganz unterschiedliche weitere Hintergründe haben können, unterschiedliche Werte, unterschiedliche Lebenssituationen und uns in ganz unterschiedlichen Stadien unserer persönlichen Entwicklungsreise befinden können.
Wir haben dennoch etwas gemeinsam – gar keine Frage -, aber all diese anderen Dinge beeinflussen, wie wir miteinander umgehen.
Als ich damals davon erzählte, dass ich Duschen schwierig finde, dass Wasser sich schmerhaft auf meiner Haut anfühlen kann, da war ich total glücklich, denn ich hatte etwas über mich gelernt, das mir schon mein Leben lang Probleme bereitet, mit Scham behaftet ist und mit regelmäßigen inneren Kämpfen verbunden war. Ich war so glücklich, dass es offensichtlich auch anderen Menschen so ging (denn ich hatte in einem Instagram-Post darüber gelesen) und ich wollte diese Freude teilen, damit es noch mehr Menschen so gehen würde, wie mir.
Was mir entgegenkam war Ableismus.
Ich verstehe das heute und ich verstehe auch, dass diese Person ihren internalisierten Ableismus gegen mich gerichtet hat, weil es das Einzige war, was ihr einen Umgang mit ihren eigenen „Schwächen“ ermöglicht hat.
Internalisierter Ableismus der zu einer Waffe gegen andere behinderte Menschen wird, begegnet mir seither immer wieder. Während er mich bei nicht-behinderten Menschen nicht wundert, macht er mich bei anderen behinderten und neurodivergenten Menschen sehr traurig. Ich weiß, dass diese Menschen sich immer wieder selbst dafür verachten, wie sie sind. Ich weiß, dass diese Menschen ihren unreflektierten, internalisierten Ableismus nicht nur gegen andere Menschen richten, sondern auch gegen sich selbst. Ich weiß aber auch, dass es diese Menschen zu einem Risiko für mich und andere behinderte Menschen macht.
Nicht, weil sie denselben ableistischen Gedanken wie die Allgemeinheit anhängen – was schon problematisch genug ist -, sondern weil wir als behinderte und neurodivergente Menschen, dazu neigen, ihnen zu vertrauen, weil sie so sind wie wir. Wir vertrauen ihnen, wir lassen sie an uns heran, wir öffnen uns ihnen gegenüber – und dann werden wir von jenen verraten, denen wir uns eigentlich verbunden fühlen, weil sie ihren eigenen Ableismus noch nicht als Problem erkannt haben, noch nicht ausreichend reflektiert, noch nicht ausreichend überarbeitet haben.
Am stärksten fällt es mir tatsächlich immer wieder in punkto Ableismus auf, aber das ist nicht der einzige dieser Punkte, wo ich merke, dass neurodivergente Menschen für mich oft gefährlicher sind als neurotypische. Auch unterschiedliche Werte, ein unterschiedliches Grundverständnis oder unterschiedliche Basisannahmen können zu einem Risiko werden.
Ich glaube fest an einige Dinge, die mir wichtig sind, die mein Wesen, mein gesamtes Verständnis dieser Welt (mit-)bestimmen und der Punkt ist: Du kannst noch so viele Ähnlichkeiten zu mir haben, noch so viele meiner Marginalisierungen teilen, wenn du in diesen Grundannahmen anders denkst als ich, werden wir einander irgendwann verletzen.
Ich glaube ganz fest daran, dass jede*r von uns selbst für das eigene Handeln verantwortlich ist – aber nicht für das anderer Menschen. Ich glaube ganz fest daran, dass jede*r von uns, das eigene Beste versucht, dieses „Beste“ aber ganz unterschiedlich ist. Ich glaube daran, dass niemand absichtlich anderen schaden sollte. Ich glaube daran, dass wir zur Selbstreflexion fähig sind und regelmäßig unsere eigenen Überzeugungen und Handlungen reflektieren sollten – erst recht, wenn uns jemand einer (anderen) marginalisierten Gruppe für etwas kritisiert.
Ich glaube daran, dass es unser aller Aufgabe ist, die Welt für ALLE Menschen zu einem guten Ort zu machen, und dass wir damit einhergehend alle, die noch weniger eine Stimme als wir selbst haben, ganz selbstverständlich unterstützen müssen und kein Sieg ein echter Sieg ist, wenn er nur für unsere eigene Gruppe errungen wird.
Und ich glaube ganz fest daran, dass jeder Mensch gleich wertvoll ist, egal, ob er reich, berühmt und erfolgreich ist oder nichts davon, egal, ob er Zehntausende Menschen hat, die ihm zuhören, oder gerade mal eine Handvoll. Jeder Mensch ist wertvoll. Jede Stimme ist gleich wichtig.
Daraus folgt auch: Wenn mir viele Menschen zuhören, ist es meine Verpflichtung, meinerseits vielen Menschen zuzuhören! Wenn ich viele Menschen habe, die sich meine Worte zu Herzen nehmen, ist es meine Aufgabe, diese Worte besonders abzuwägen und den Stimmen, die ich selbst nicht bedacht habe, extra Raum zu geben und sie zu verstärken.
Ich weiß heute, dass ich am besten mit Menschen klarkomme, die reflektiert sind, die gelernt haben, auch ihren eigenen Ableismus – und andere (internalisierte) Diskriminierungsformen – zu erkennen und zu hinterfragen, Menschen, die Kritik als Möglichkeit zum Lernen betrachten und bereit sind, zuzuhören, anstatt einfach nur recht haben zu müssen.
Ich mag Menschen mit AuDHS, weil wir oft automatisch Gemeinsamkeiten haben und ich vieles nicht extra erklären muss, aber Neurodivergenz ist nicht das einzige Kriterium, dass jemand zu einem für mich guten Menschen macht.
Und ich glaube, das sollte es auch für dich nicht sein.
Sei wählerisch, wem du vertraust, selbst dann, wenn du unendlich glücklich bist, endlich andere Menschen mit ADHS und/oder Autismus gefunden zu haben. Wir sind nicht alle gut füreinander und du brauchst Menschen, die deine Werte und Überzeugungen unterstützen.