Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ganz am Anfang beginnen: Was ist eine Krankheit? Wann ist man überhaupt krank? Und wann ist man gesund?
Nun, eines vorweg: Die Frage ist viel schwieriger zu beantworten, als man denkt, denn beide Begriffe sind letzten Endes nur sprachliche Konstrukte und so es gibt viele Definitionen für Gesundheit und Krankheit. Die einfachste lautet: Wer nicht gesund ist, ist krank.
Aber wie ist man überhaupt gesund?
Die WHO sagt dazu:
“Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.”
(Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.)
Satzung der Weltgesundheitsorganisation
Das geht weit über das, was wir in unserem Alltag als „Gesundheit“ verstehen, hinaus. Laut der Definition der WHO sind wir nur gesund, wenn unser Wohlbefinden nicht gestört ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist krank aber doch eher etwas, das sich „schlimmer“ anfühlt und wir haben daher für all das, was zwischen diesem „schlimmer“ und „gesund“ liegt das Wort „Befindlichkeitsstörung“ erfunden. Habe ich eine Befindlichkeitsstörung ist mein (Wohl-)befinden durch irgendetwas gestört ist, es „geht mir nicht so gut“.
Im Alltag werden Befindlichkeitstörungen leider meistens abgetan. Es ist ja nichts „Richtiges“, keine echte Krankheit. Aber was ist überhaupt eine Krankheit? In der Wikipedia findet man dazu folgendes:
Krankheit [..] ist ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit, der auf Funktionsstörungen von einem oder mehreren Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus eines Lebewesens beruht.
Wikipedia
Das leuchtet durchaus ein: Habe ich zum Beispiel eine Erkältung ist meine Leistungsfähigkeit ganz klar vermindert. Habe ich mir den Arm gebrochen auch. Jetzt gibt es aber auch Krankheiten, die meine Leistungsfähigkeit vielleicht gar nicht einschränken, oder chronische Krankheiten, die in Schüben auftreten und wo meine Leistungsfähigkeit zwischen den Schüben nicht vermindert ist. Krankheiten sind sie trotzdem.
Und die Befindlichkeitstörung? Ich fürchte, an der Stelle müssen wir sagen: „Es kommt darauf an.“
Die Sache ist die: Die Grenzen zwischen Krankheit, Befindlichkeitsstörung und Gesundheit sind letzten Endes fließend und von unserer sozialen und kulturellen Prägung abhängig. Personen mit den gleichen Symptomen können sich trotzdem unterschiedlich einstufen – die eine empfindet sich vielleicht noch als gesund, während die zweite sich schon deutlich krank fühlt und eine dritte findet, sie wäre „nicht so richtig krank, aber auch nicht gesund“. Wenn diese Personen aber zum Arzt gehen wird sie*er möglicherweise in allen drei Fällen sagen: „Sie sind krank, sie haben…“
An dieser Stelle kommen wir also zu dem, was ganz offensichtlich Krankheiten sind, nämlich das, was Ärztinnen und Ärzte diagnostizieren.
Stellen Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen eine Diagnose, erhält diese Diagnose einen Code gemäß der ICD-10. ICD steht dabei für International Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und wird von der WHO herausgegeben. Die 10 steht für die Versionsnummer und ist in der deutschen Fassung (ICD-10-GM) die aktuell in Deutschland gültige.
In der ICD-10 werden alle Krankheiten mit einem Code verschlüsselt – du kennst das vielleicht von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, da steht häufig ein Buchstabe gefolgt von ein paar Zahlen. Schnupfen hat zum Beispiel den Code J00, Frühkindlicher Autismus ist F84.0, Asperger-Autismus (ein heute von vielen stark abgelehnter Begriff!) hat den Code F84.5. Wie du siehst, unterscheidet die ICD-10 noch verschiedene Typen von Autismus. Das wird in der Folgeversion ICD-11 zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Die Version 11 ist inzwischen von der WHO verabschiedet, wird in Deutschland aber voraussichtlich frühestens in 5 Jahren eingeführt.
Den Diagnosen durch die ICD einen Code zuzuordnen, dient vor allem der statistischen Erfassung von Krankheiten und deren Abrechenbarkeit gegenüber Krankenkassen. In der ICD finden sich aber teilweise auch Diagnosekriterien für Krankheiten.
Für psychische Erkrankungen wurde in den USA zusätzlich das DSM entwickelt, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und statistisches Handbuch für psychische Störungen). Der große Unterschied zur ICD ist, dass das DSM sich deutlich stärker auf die Diagnose der (psychischen) Krankheiten konzentriert. Es gilt heute international als Standardwerk der Psychiatrie. Aktuell liegt es in der 5. Fassung (DSM-5 oder DSM-V) aus dem Jahr 2013 vor, die auch auf Deutsch übersetzt wurde.
Einer der Grundsätze des DSM ist es, für jede psychische Erkrankung Symptome aufzulisten und genaue Kriterien festzulegen, welche davon unbedingt für eine Diagnose erforderlich sind. Die Symptome sind hauptsächlich von außen sichtbare, klinische Merkmale und werden möglichst neutral beschrieben.
Das ist gleichzeitig einer der Kritikpunkte am DSM. Eine rein symptombasierte Diagnostik ist immer subjektiv und unterliegt der Einschränkung dessen, was überhaupt als Symptom von außen erkannt werden kann. Sie lässt andere wichtige Hinweise, wie zum Beispiel das Erbgut oder bildgebende Verfahren (wie MRT oder CT), außen vor. Auch das, was von neurodivergenten Menschen als „andere“ Denkweise betrachtet wird, findet in den Diagnosekriterien des DSM keine Berücksichtigung. Es ist nur ein Blick von außen.
Das DSM und die ICD sind ausschließlich für die Klassifizierung (und Diagnose) von Störungen und Krankheiten vorgesehen. Für psychische Störungen gilt dabei laut DSM: „Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten.“
Ich habe also (typischerweise) nur dann eine psychische Störung, wenn ich bedeutsam leide, und damit kommen wir zurück zur Überschrift: Ohne Leid kein Autismus?
Es steckt schon im Namen: Autismus, eigentlich ja Autismus-Spektrum-Störung, ist eine (psychische) Störung und als solche setzt sie also voraus, dass ich leide. Und tatsächlich, die zwingend notwendigen Diagnosekriterien für Autismus laut DSM-5 besagen:
„[Die] Symptome verursachen klinisch signifikante Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen der gegenwärtigen Funktionsweise.“
DSM-5
Im Deutschen wird das häufig als „Leidensdruck“ interpretiert und ich kenne Fälle, in denen bei der Diagnostik tatsächlich abgefragt wurde: „Leiden Sie?“ In anderen Fällen interpretiert die diagnostizierende Person selbst, ob der Patient oder die Patientin zu leiden scheint oder ob die Beeinträchtigungen ausreichend signifikant sind. Ist das Leiden nicht ersichtlich oder werden die Beeinträchtigungen nicht als ausreichend signifikant bewertet (wofür es übrigens keine Skala gibt), erfolgt keine Autismus-Diagnose. Das betrifft auch AD(H)S, denn dort gilt das gleiche Kriterium.
Jetzt kann man natürlich sagen: „Na, wenn du nicht stark beeinträchtigt bist, hast du auch keine Störung. Freu dich doch!“ Vielleicht wirke ich aber nur nicht so stark beeinträchtigt, weil ich es geschafft habe, mein Leben für mich passend einzurichten und mein – letzten Endes ja auch immer subjektives – Leid ist sehr gering.
Nehmen wir eine klassische Frage aus Autismus-Screening-Tests: „Machen Ihnen gesellige Anlässe Spaß?“ Ich würde die Frage mit einem klaren „Nein!“ beantworten. Bei einem geselligen Anlass fühle ich mich äußerst unwohl und möchte eigentlich die ganze Zeit nur weg. Dort leide ich tatsächlich. Das muss ich aber gar nicht, denn ich habe auch die Möglichkeit, nicht hinzugehen! Im Normalfall nehme ich an geselligen Anlässen nicht teil und empfinde somit auch keinen Leidensdruck dabei. Ist es eine Beeinträchtigung für mich, dort nicht hinzugehen? Nein. Die Beeinträchtigung entsteht nur dann, wenn ich hingehen muss und das ist so selten, dass ich dabei nicht von einer „signifikanten Beeinträchtigung“ reden würde. Meine „Strategie“ reduziert also die Wahrscheinlichkeit, dass ich als leidend gesehen werde und somit – laut DSM-5 – auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich Autistin bin!
An der Stelle dreht sich jetzt alles ein wenig im Kreis: Ich brauche solche Strategien, weil ich autistisch bin, entwickle ich aber viele davon, um mit meinem Autismus klarzukommen, habe ich nicht mehr ausreichend Beeinträchtigungen um überhaupt als Autistin zu gelten. Man könnte also sagen: Umso besser ich mit meinem Autismus zurechtkomme, umso weniger bin ich mit Autismus diagnostizierbar. /hj Tonindikator: half-joking
Das ist der für mich größte Kritikpunkt an den aktuellen Diagnosekriterien von Autismus. Autismus ist es offiziell nur dann, wenn ich signifikante Probleme habe, die auch noch jemand anderes so bewerten muss! (Gilt auch für ADHS.)
Das Hauptproblem liegt dabei darin, dass nur psychische Störungen diagnostiziert werden. Eine neurologische Abweichung ist aber nicht automatisch eine Störung, es ist erstmal einfach nur eine Abweichung. Zur diagnostizierbaren Störung – mit dem notwendigen Kriterium der Beeinträchtigung – wird es erst dadurch, dass ich tatsächlich beeinträchtigt werde.
Was bin ich jetzt aber, wenn ich diese Beeinträchtigung nicht so empfinde, mich nicht leidend fühle oder es von außen nicht so wahrgenommen wird? Ehrlich gesagt: Ich fürchte, es gibt keinen Begriff dafür.
Autismus-Spektrum-Störung (Autismus) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind Begriffe für Störungen und alles was keine Störung ist, hat bisher einfach keine Bezeichnung. Ich würde dennoch erstmal sagen: Es ist Autismus. Es ist ADHS. Für die ganz Korrekten vielleicht: Nicht pathologische Autismus-Spektrum-Störung bzw. nicht pathologische ADHS. Oder ich würde allgemein von Neurodivergenz sprechen, was aber leider die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Neurodivergenzen unsichtbar macht, die ja noch mehr umfassen als nur ADHS und Autismus.
Letzten Endes bräuchten wir aber neue Bezeichnungen für die verschiedenen neurodivergenten Ausprägungen. Bezeichnungen, die nicht von Störungen ausgehen und deren Diagnose nicht ausschließlich auf dem basiert, was andere Menschen von uns wahrnehmen. Wir bräuchten Diagnosekriterien, die unsere Innensicht berücksichtigen und uns nicht länger als Krankheit oder Störung betrachten und im allerbesten Fall würden unsere Bedürfnisse, unsere Eigenarten und unsere Andersartigkeit auch ohne Diagnose berücksichtigt werden, weil wir als Gesellschaft lernen würden, auf alle Rücksicht zu nehmen.
Utopisch? Ja. Aber anfangen können wir trotzdem schon mal damit.