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My neurodivergent life is a piece of art

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

ADHS und Herausforderungen als Motivation

ADHS und Herausforderungen als Motivation

26. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Fitnesstracker sagt: „8.607 von 1.000 Schritten – Tagesziel übertroffen!“ Er lobt mich auch dafür, dass ich seit 287 Tagen mein Schrittziel erreiche. Mein Schrittziel von 1.000 Schritten. Eintausend. Nicht die üblichen Zehntausend.

Ich liebe Herausforderungen und als ich das erste Mal einen Fitnesstracker hatte, war die Vorgabe von 10.000 Schritte für mich hoch motivierend. Ich wollte unbedingt diese 10.000 Schritte laufen, wollte mein Schrittziel erfüllen und das jeden Tag. Ich weiß noch, wie ich auf dem Parkplatz des Supermarktes auf und ab gelaufen bin, um nur ja auf meine 10.000 Schritte kommen – und noch mehr erinnere ich mich daran, wie gestresst ich war, wann immer ich nicht einmal in die Nähe dieser 10.000 Schritte kam.

Nach wenigen Tagen schon war die Menge der Schritte keine Motivation mehr für mich, sondern eine ewige Drohkulisse: „Wenn du es nicht schaffst, 10.000 Schritte zu machen, dann verlierst du deine Siegessträhne!“ Ich war gestresst, habe mit mir selbst verhandelt, wie schlimm es ist, diese Siegessträhne zu verlieren, mich dazu gezwungen, doch noch eine Runde zu drehen, obwohl ich überhaupt nicht wollte, nur, damit der Schrittzähler zufrieden war. Ging es mir nicht gut und konnte ich mich kaum bewegen, drehten sich meine Gedanken den ganzen Tag darum, wie sich das auf meinen Fitnesstracker auswirken würde und ich war noch verzweifelter als sowieso schon.

Nach einer Weile habe ich schließlich die Schrittanzahl reduziert, zwischendurch sogar bis auf 500, bis ich sie dann irgendwann auf 1.000 gestellt habe. 1.000 Schritte, das schaffe ich jeden Tag, meistens sogar noch am Vormittag und auch an den Tagen, an denen es mir nicht gut geht und an denen ich mich eigentlich nur vom Bett auf die Couch und von der Couch ins Badezimmer und zurück schleppe. 1.000 Schritte, das ist einfach und… es ist keine Herausforderung.

Für die meisten Menschen ist das absurd, denn genau diese Herausforderung ist ja das, weswegen man überhaupt einen Schrittzähler verwendet. Es ist das, was einen dazu motiviert, mehr Schritte zu machen. Dass man abends erschrocken feststellt, dass das Schrittziel ja noch gar nicht erreicht ist und dann noch rasch ein paar Schritte macht, damit der Schrittzähler zufrieden ist – und man selbst auch, denn man hat sein Tagesziel erfüllt -, das ist durchaus so beabsichtigt.

Natürlich ist das großartig. Die 10.000 Schritte sind voll, man hat sich bewegt und das Ziel erreicht, nur… ist das wirklich die Form von Motivation, die gut für uns ist?

Ein hoch gestecktes Ziel, das schwierig zu erreichen ist, ist keine positive Motivation, sondern verursacht in erster Linie Druck und Stress, oft auch noch kombiniert mit Versagensangst.

Fitnesstracker sind dafür ausgelegt, dieses Versagen zu dokumentieren, dir mitzuteilen, dass du am Sonntag aber nicht besonders fleißig warst oder am Mittwoch dein Schrittziel nicht erreicht hast. Du warst nicht gut genug – und sogar deine Elektronik weiß es und teilt dir das mit. Das soll dich dazu motivieren, dich mehr zu bemühen. Vielleicht wirst du dadurch sonntags eine Extrarunde drehen, um damit den Schrittzähler davon zu überzeugen, dass du doch fleißig bist – und vielleicht überzeugst du ja auch dich, dass du sehr wohl gut genug, fleißig genug, fit genug bist, wenn es sogar dein Fitnessarmband sagt.

Vielleicht geht dir das alles aber auch so auf die Nerven, dass du den Schrittzähler immer seltener tragen und ihn schließlich in einer Schublade „vergessen“ wirst, weil du dich einfach nicht länger von einem Gegenstand stressen lassen möchtest und du bist damit nicht allein: Statistisch gesehen lässt die Anfangsmotivation schon nach etwa fünf Wochen nach und nach drei bis sechs Monaten haben die meisten endgültig genug vom Fitnesstracker und er landet – genau – in der Schublade.

Ich glaube, das ist bei vielen Dingen so, die man nutzt, um sich zu verbessern. Am Anfang ist man hochmotiviert, will am liebsten die Anforderungen einer ganzen Woche an nur einem Tag erledigen, brennt geradezu danach, etwas zu tun, vielleicht eine Belohnung in Form eines Badges oder eines Lobs der App zu bekommen oder auch nur sich selbst auf die Schulter klopfen zu können und zu sagen: „Gut gemacht! Du hast dein Ziel erreicht! Du warst fleißig!“

Nach einer Weile stellt man jedoch fest, dass diese ganzen schönen Anforderungen doch zu viel sind. Sie passen irgendwie nicht in den Alltag, überfordern uns, bringen uns dazu, unsere Grenzen und unsere Leistungsfähigkeit zu ignorieren. Dir geht es heute nicht gut? Tja, Pech. Du musst deine 10.000 Schritte vollbekommen!

Vielleicht zwingst du dich dann dazu, hast keinen Spaß dabei, aber – puh – wenigstens hast du dein Ziel erreicht, warst willensstark und diszipliniert! Wie toll! Oder?

Vielleicht stellst du aber auch fest, dass dieses „sich selbst zwingen“ für dich nicht funktioniert und genau das Gegenteil bewirkt und verlierst mehr und mehr die Lust daran, auch nur zu versuchen, dieses Ziel weiterhin zu erreichen.

Dann bemüht man sich noch eine Weile, sie dennoch zu erfüllen – schließlich hat man ja einen Grund dafür -, bis man es entweder immer häufiger nicht schafft und deswegen frustriert ist und sich Selbstvorwürfe macht oder es gelingt einem, einen klaren Schlussstrich zu ziehen und bewusst damit aufzuhören.

Mir ging das mit den 10.000 Schritten genauso. Am Anfang wäre ich am liebsten 15.000 gelaufen oder noch mehr. Ich liebte die Schrittanzeige, liebte es, mich selbst immer wieder zu übertreffen und mir zu beweisen, dass ich mehr und immer noch mehr leisten konnte.

Dann wurde es immer schwieriger, die 10.000 wirklich jeden Tag zu schaffen. Ich drehte die oben erwähnten Parkplatz-Runden – nicht aus Freude an der Bewegung oder wegen der tollen Kulisse, sondern nur aus dem Grund, dass ich wie besessen davon war, dieses Schrittziel zu erreichen.

Dann folgte der erste Tag, an dem es nicht klappte und ich war verzweifelt, schämte mich und ärgerte mich über mich. Ich nahm mir fest vor, dass es eine Ausnahme zu bleiben hatte, dass ich am nächsten Tag wieder 10.000 Schritte gehen würde – oder noch mehr, denn ich hatte die besten Absichten! Trotzdem funktionierte es bald schon wieder nicht und ich ärgerte mich noch mehr und schließlich wollte ich die Smartwatch – diese Zeugin meines Versagens – gar nicht mehr so recht tragen. Trug ich sie doch, machte ich mir automatisch Stress.

Geholfen hat mir schließlich die Reduktion der Schritte.

Im Durchschnitt komme ich auf etwa 6.000 bis 7.000 Schritte pro Tag. Da sind Tage mit 2.000 Schritten ebenso dabei wie solche mit 15.000 oder mehr Schritten. Je nachdem, wie es halt gerade passt, worauf ich Lust habe, was mein Körper zu leisten in der Lage ist, wie ich Zeit habe und was ich so unternehme.

Man kann jetzt natürlich argumentieren, dass ich ganz offensichtlich nicht auf die magischen 10.000 Schritte am Tag komme und mutmaßen, dass das an der fehlenden Motivation liegt, der Punkt ist aber: Diese Form von „Motivation“ war für mich das genaue Gegenteil.

Zu wissen, dass mich 10.000 Schritte pro Tag regelmäßig überfordern und ich dann jedes Mal von mir selbst enttäuscht bin, hat mich massiv demotiviert. Meine 1.000 Schritte sind vielleicht keine Motivation zu mehr Schritten, aber sie sind vor allem auch keine Demotivation, die mich Tag für Tag frustriert, mein Selbstwertgefühl schmälert und mich gänzlich davon abbringt, mich mehr als notwendig zu bewegen.

Es heißt immer, Menschen mit ADHS werden durch Herausforderung motiviert und ich würde das sofort unterschreiben. Was aber oft unterschlagen wird: Wir werden genauso leicht durch etwas (auch nur scheinbar) Unerreichbares demotiviert!

Wir müssen Herausforderungen finden, die für uns machbar sind – es reicht noch nicht einmal, uns zu sagen, dass wir doch nur daran glauben müssen, dass wir es könnten, denn so ein ADHS-Kopf lässt sich nicht so einfach austricksen. Er weiß genau, was er selbst für machbar hält und was wir ihm nur einreden wollen und etwas, das nur eingeredet war, motiviert ihn einfach mal überhaupt nicht.  Im Gegenteil: Er liebt es, dann zu beweisen, dass er von Anfang an recht hatte und es eben nicht möglich war. (Ja, ich finde meine ADHS etwas rechthaberisch.)

Wenn wir etwas als nicht erreichbar betrachten – ob aus Erfahrung oder aus Sturheit -, dann motiviert es uns nicht, sondern demotiviert uns. Es bringt uns nicht dazu, etwas zu versuchen und uns zu bemühen, sondern eher dazu, trotzig in der Ecke zu sitzen und notfalls die Beweise zu vernichten; z.B. die Uhr in der Schublade zu „verlieren“.

Herausforderung ist etwas Wunderbares – gerade für Menschen mit ADHS. Wir müssen allerdings akzeptieren, dass das, was unsere ADHS als Herausforderung betrachtet nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, von dem wir gerne hätten, dass es als Herausforderung betrachtet wird und wir müssen lernen, für uns passende Herausforderungen zu finden, die dann auch wirklich funktionieren.

Sind meine 1.000 Schritte eine Herausforderung? Nein. Aber meine Motivation, spazieren zu gehen und damit Schritte zurückzulegen, liegt auch nicht in einer Herausforderung oder der Anzahl, sondern darin, dass ich Spaß am Spazierengehen an sich habe, dass ich die Natur beobachten kann, dass ich verschiedene Untergründe fühle, Wind auf meiner Haut, Sonnenschein…

Herausforderungen sind eine tolle Motivation – aber nicht immer die Richtige und schon gar nicht die Einzige.

ADHS und Schlaf

ADHS und Schlaf

14. August 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Schlaf ist für neurodivergenter Menschen oft ein schwieriges Thema – einschlafen, durchschlafen, erholsam schlafen, all das ist nicht gerade einfach mit einem neurodivergenten Kopf.

Erholsam schlafe ich so gut wie nie. Das Konzept von „erholt aufwachen“ ist mir fremd und ich wundere mich regelmäßig darüber, dass es wohl üblich ist, in der Früh tatsächlich erholt zu sein! Es ist dabei vollkommen egal, wie lange ich schlafe, ob 4 Stunden oder 10 Stunden – oder alles dazwischen –, ob ich mich vom Wecker wecken lasse oder von selbst aufwache: Erholt fühle ich mich nicht.

Mein Fitnesstracker sagt dazu, dass ich nachts sehr unruhig und gestresst bin und ja, so fühlt es sich an.

Auch kurze Nickerchen oder Power-Naps funktionieren bei mir nicht. Diese klassischen 15- bis 30-minüten Power-Naps bekomme ich schlichtweg nicht hin. Ich bin dann 15 bis 30 Minuten mit geschlossenen Augen in Alarmbereitschaft, weil ich nur darauf warte, dass die Zeit um ist und ich aufstehen muss! Für ein Nickerchen muss ich die Gewissheit haben, mindestens eine Stunde schlafen zu können. Alles darunter und ich komme nicht aus dem Alarmmodus.

In Wirklichkeit dauern meine Nickerchen dann aber zwei Stunden, weil ich nach einer Stunde zwar vom Wecker geweckt werde, mich aber so erschlagen fühle, dass ich dann noch eine Stunde schlafe, bis ich von selbst aufwache – ohne fit zu sein.

Die Wissenschaft erklärt das damit, dass die ein, zwei Stunden zu lang sind und man in die Tiefschlafphase kommt und ein Nickerchen sich aber nur in der leichten Schlafphase abspielen sollte, um erholsam zu sein.

Ich schätze, ich bin kein Nickerchen-Mensch.

Auch nachts durchschlafen ist ein eher ungewöhnliches Konzept für mich und die paar Nächte im letzten Jahr, die ich durchschlafen konnte, kann ich an einer Hand abzählen. Ich wache jede Nacht vier- bis fünfmal auf – ein Teil davon ist körperlichen Beschwerden geschuldet, ein Teil meinem Kopf, der mich immer wieder mit „tollen Ideen“ aufweckt. ADHS halt. Die Hyperaktivität lässt auch nachts nicht nach und lässt mich nicht so wirklich schlafen – beschert mir aber auch immer wieder spannende Ideen, die ich dann beim wieder Einschlafen prompt vergessen kann. An manche erinnere ich mich aber irgendwann wieder und ja, doch, mein Kopf hat nachts echt gute Ideen!

Das Einzige, was ich mittlerweile deutlich besser im Griff habe ist die Sache mit dem Einschlafen.

Jahrzehntelang konnte ich abends nicht einschlafen. Während der Ehemann neben mir binnen Sekunden tief und fest schlief, lag ich wach daneben, drehte mich von einer Seite auf die andere und fand keine gute Schlafposition und die Gedanken tobten durch meinen Kopf. Wie Spielfilme liefen Momente des Tages in mir ab, ich versuchte die ungelösten Probleme der letzten Monate zu lösen oder plante den nächsten Tag. Das Einzige, was ich dabei nicht tat, war schlafen und es störte mich ungemein.

Ich probierte vermutlich jeden Einschlaftipp aus, der mir unter die Augen kam, arbeitete an meiner Schlafhygiene, benutzte das Bett ausschließlich zum Schlafen, versuchte es mit White, Pink, Brown und Einhorn-farbenem Noise, hörte Hörbücher, reduzierte die abendliche Bildschirmzeit, verwendete Blaufilter, machte vor dem Schlafengehen Sport – aber nicht zu kurz vor dem Schlafengehen! -, meditierte, führte ein Dankbarkeitstagebuch, probierte Düfte, spezielle Kissen, die angeblich perfekte Temperatur, Melatonin-Spray, -Drops und -Tabletten, CBD-Produkte und Schlaftabletten. Nichts davon half dauerhaft! Nichts!

Dennoch schlafe ich mittlerweile nahezu immer innerhalb von fünf bis zehn Minuten ein!

Das, was mir hilft, hat sich für mich im Laufe der Jahre durch Zufall ergeben. Am Anfang habe ich abends oft ganz bewusst den Tag Revue passieren lassen, habe mir die schönen Momente in Erinnerung gerufen, versucht, mich mit schönen Gedanken zur Ruhe zu bringen. Alles sollte schön und positiv und beruhigend sein und für mich den Schlaf mit etwas Angenehmen verbinden.

In Wirklichkeit habe ich damit jedoch das Gegenteil erreicht.

Mein ADHS-Kopf braucht nur einen Gedanken-Funken, um darauf anzuspringen. Zu jedem noch so kleinen Gedanken, findet er Zusammenhänge, Geschichten, Erinnerungen, Ideen und alles davon möchte beachtet und betrachtet und durchgedacht werden. Während ich also versuchte, meinen Kopf mit schönen Gedanken zu füttern, war mein Kopf damit beschäftigt, all diese Gedanken auszubauen und zu erweitern und mich damit wachzuhalten, denn da war doch NOCH etwas, worüber ich dringend nachdenken sollte!

CN: Tod, Trauer für den nächsten Absatz
2019 starb mein bester Freund gänzlich unerwartet und es ging mir monatelang sehr, sehr schlecht. Meine schönen Einschlafgedanken waren nicht mehr schön, sondern durchzogen von traurigen Erinnerungen, von Vermissen und Trauern und auch die Vorfreude auf den nächsten Tag war getrübt von dem Wissen, dass es ein weiterer Tag ohne ihn werden würde.

Ich suchte für mich verschiedene Hilfen und probierte unter anderem Achtsamkeits-Training und Meditation.

Das Achtsamkeits-Training fand ich irgendwo zwischen faszinierend und albern, zwischen spannend und nutzlos und fühlte mich von der Umsetzung überfodert. Die Meditationen wiederum halfen mir für eine Weile sehr und ich nutzte lange Zeit eine Einschlaf-Meditation statt meiner jetzt nicht mehr so schönen Gedanken.

Irgendwann brauchte ich die Hilfsmittel immer weniger und als mir die Einschlaf-Meditation schließlich nichts mehr gab, ließ ich sie sein und nahm stattdessen meine Schöne-Gedanken-Gewohnheit wieder auf. Schlief ich damit besser? Nein. Aber ich hatte ja ohnedies noch nie wirklich besser geschlafen.
Monate vergingen. Ich versuchte mich immer wieder in neuen Maßnahmen für besseres Einschlafen, doch nichts half dauerhaft und so lag ich im Bett, der Ehemann neben mir schlief, und meine Gedanken beschäftigten sich damit, wie ich das Schlafzimmer am besten umbauen könnte oder ob ich mich nicht vielleicht vor 3 Wochen unangemessen verhalten hatte.

Plötzlich sagte ich in Gedanken „Stopp!“ und „Wir schlafen jetzt!“ und das nächste, an das ich mich erinnerte war, wie ich nachts wie üblich aufwachte.

Erst war mir das gar nicht wirklich bewusst, es passierte einfach und als es mir bewusst wurde, fand ich es absurd: Seit wann hörte mein Kopf auf mich? Doch er tut es.

Ich gehe inzwischen davon aus, dass es eine der Achtsamkeitsübungen ist, die mir dabei hilft. Die Übung nennt sich Gedanken-Stopp und funktioniert so, dass man ein Stopp-Schild oder eine ausgestreckte Hand visualisiert und sich gleichzeitig in Gedanken ein nachdrückliches „Stopp“ zuruft. Dadurch unterbricht man den aktuellen Gedankenstrom. Danach lenkt man die Gedanken auf etwas Positives und vermeidet dadurch, dass der ursprüngliche Gedanken wieder zurückkommt.
Ich habe mir offenbar angewöhnt, diese Umleitung sein zu lassen – mein ADHS-Kopf würde ja ohnedies nur in einem neuen endlosen Gedankenzug landen – und mich schlafen zu schicken.

Das funktioniert heute (3 Jahre nachdem ich die Technik kennengelernt habe) tatsächlich fast immer! Ich glaube aber, dass dazu noch etwas anderes beiträgt, dass ich mir aus der Einschlaf-Meditation abgeleitet habe.

In den Meditationen sprach mich immer wieder ein Satz an, der aussagte, dass ich alles für diesen Tag erledigt hatte und das, was ich nicht erledigt hatte auf einen anderen Tag warten würde. Für mich hieß das: „Du darfst den Tag jetzt beenden.“

Ich nutze es heute so, dass ich mich etwa eine Stunde vor dem Schlafengehen frage, ob es noch etwas gibt, dass ich unbedingt heute erledigen möchte/muss. Früher war da immer eine ganze Liste an Dingen, die ich unbedingt noch tun wollte: Malen, Häkeln, Basteln, Spielen, Fernsehen, Lesen… Alles, was ich gerne mochte und wofür ich am Tag keine Zeit oder Energie gehabt hatte. Ich „musste“ das doch noch tun! Wer weiß, ob ich am nächsten Tag dazu kommen würde!
Heute sage ich mir fast immer: „Das kann ich auch ein anderes Mal tun.“ Vielleicht ist dieses „andere Mal“ dann tatsächlich am nächsten Tag, vielleicht stelle ich aber auch am nächsten Tag fest, dass mir gerade etwas anderes wichtiger ist – oder das, was mir am Abend noch so dringend und unaufschiebbar schien, jetzt doch nicht mehr so wichtig für mich ist.

Ich schließe dadurch den Tag für mich ab, beende ihn und gehe ohne Drängendes „aber ich will doch noch…“ schlafen. Auch Gedanken oder Pläne verschiebe ich auf ein anderes Mal. Manchmal schreibe ich sie mir auf, damit ich sie nicht vergesse, aber oft sind es Dinge, die wirklich überhaupt nicht wichtig sind oder mich unnötig belasten.

Ich meine, ich muss ja wohl echt nicht darüber nachdenken, ob ich mich vor x Wochen im Gespräch mit einer mir völlig fremden Person unpassend verhalten habe! Auch, wenn der Kopf das gerne genau vor dem Einschlafen dringend tun wollen würde.

Ich gehe mit der Überzeugung schlafen, dass ich alles erledigt habe und nichts so wichtig ist, dass es nicht bis zur nächsten Gelegenheit warten kann. Und wenn der Kopf dann anfängt, doch über irgendetwas nachdenken zu wollen, dann sage ich ihm „Stopp!“ und erinnere ihn daran, dass „heute“ gar nichts mehr zu tun oder zu denken ist und dass wir jetzt schlafen. Und dann schlafen wir. Manchmal auch erst nach der zweiten oder dritten Erinnerung, aber wir schlafen.

Nach wie vor nicht durch und nicht erholsam, aber wir schlafen, anstatt stundenlang wach zu liegen und über unnötige Dinge nachzudenken und auch, wenn ich nachts aufwache, weil da wohl doch noch etwas durchdacht werden wollte, kann der Kopf das ja wohl auch ohne meine bewusste Anwesenheit und ich kann so lange schlafen!

Selbst so ein ADHS-Kopf hat Stellschrauben! Vielleicht hat deiner ganz andere, aber der Punkt ist: Sie existieren und du kannst sie für dich finden. Nicht, indem du einer vorgegebenen Lösung folgst, sondern indem du deinen Kopf inspirierst, herumprobierst und ihn seine eigene Lösung bauen lässt, denn genau darin, sind ADHS-Köpfe echt gut!

Das wird nicht alle deine Probleme lösen, aber vielleicht hilft es dir dabei einzuschlafen oder durchzuschlafen oder erholsam zu schlafen – oder bei etwas ganz anderem; Hauptsache, es macht dein Leben ein kleines bisschen einfacher für dich.

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

Let’s talk about: Exekutive Dysfunktion

5. Juli 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Viele unserer Tätigkeiten passieren ganz oder großteils automatisch, man spricht auch vom Autopiloten. Wenn du etwas trinken möchtest, gehst du zum Beispiel zum Schrank, nimmst ein Glas heraus und füllst es mit deinem üblichen Getränk. Du denkst normalerweise nicht darüber nach, welches Glas du nimmst, wo du es abstellst, um es zu füllen oder wie voll du es machen wirst. All das passiert ganz von selbst.

Die meiste Zeit kann ich das auch, aber wenn meine exekutiven Funktionen gerade nicht auf der Höhe sind, setzt dieser Autopilot aus.

Das beginnt dann schon damit, dass ich darüber nachdenke, wie ich denn den Schrank mit den Gläsern überhaupt öffne. Muss ich meinen Arm heben? Aber tut mir nicht die Schulter weh? Wird der Schmerz schlimm sein? Wo greife ich die Schranktür an? Wie viel Kraft brauche ich, um sie zu öffnen?

All das, was eigentlich eine ganz automatisch ablaufende Handlung ist, wird mit einem Mal in lauter einzelne Teile zerlegt.

Oder ich muss ganz bewusst darüber nachdenken, in welcher Reihenfolge ich etwas mache. Erst die Schranktür öffnen? Oder erst den Wasserhahn aufdrehen?

Stell dir vor, dich würde jemand fragen, ob du beim Händewaschen erst das Wasser aufdrehst und die Hände nass machst oder erst die Seife nimmst. Oder drehst du vielleicht das Wasser auf, nimmst aber erst Seife und machst die Hände dann nass?

Wenn du die Aufgabe in einzelne Schritte zerlegst, wird sie plötzlich kompliziert, du musst sie dir vielleicht genau vorstellen und vielleicht bekommst du sogar Zweifel, ob du es wirklich so machst, wie du denkst.

Bei einer Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen entsteht genau dieses Nachdenken und diese Unsicherheit. Gerne noch zusätzlich verbunden mit konstantem Hinterfragen: Mache ich das richtig? Brauche ich das wirklich? Geht es nicht vielleicht doch anders? Was kommt als nächstes?

Du wäschst dir nicht mehr einfach die Hände, holst dir nicht mehr einfach ein Glas Wasser, sondern die simple Tätigkeit wird zu einer riesengroßen Aufgabe.

Es gibt verschiedene Hilfen dafür.

Manchen hilft es, wenn sie visuelle oder auditive Anweisungen bekommen, zum Beispiel Zeichnungen, wie man Zähne putzt.

Anderen hilft es, die einzelnen Schritte aufzuschreiben, um das Chaos im Kopf ein wenig zu sortieren und sich einen Plan zurechtlegen zu können.

Bei mir hilft am Besten, nicht darüber nachzudenken.

Ich versuche, den Moment der Verwirrung und des Planens zu überspringen und doch wieder in den Automatismus zu kommen, indem ich an einer „späteren“ Stelle ansetze.

Vielleicht kennst du die Taktik von der Eingabe von Passwörtern oder PINs.

Wenn du ein Passwort häufig benutzt, tippen es deine Finger quasi automatisch, du denkst nicht bewusst darüber nach. Wenn du aber längere Zeit im Urlaub warst, fällt dir vielleicht am Abend des letzten Urlaubstags ein: „Mist, ich habe mein Passwort vergessen!“ Du denkst darüber nach und es fällt dir einfach nicht ein oder du erinnerst dich an alte Passwörter oder die für ganz andere Accounts.

Am nächsten Tag öffnest du trotzdem das Anmeldefenster, willst noch ein letztes Mal darüber nachdenken und mit einem Mal tippen deine Finger ganz automatisch das Passwort ein. Das richtige Passwort. Du hast nicht darüber nachgedacht, dich nicht bewusst erinnert, deine Finger wussten einfach, was zu tun ist. Das ist das Muskel- oder Körpergedächtnis.

Genau das nutze ich bei Phasen von exekutiver Dysfunktion. Ich denke nicht über das, was ich tun möchte, nach, sondern überlasse dem Körper die Führung.

Es funktioniert nicht bei Tätigkeiten, die ich noch nicht oft genug gemacht habe oder die ganz neu sind oder wenn ich einer Anleitung folgen muss. Deswegen kann ich in solchen Phasen zum Beispiel nicht backen. Ich kann aber damit zum Beispiel trotz exekutiver Dysfunktion die Küche aufräumen – WENN es mir gelingt, den Schritt des Nachdenkens zu überspringen und das Muskelgedächtnis aktiviert wird.

Wenn nicht… tja, dann kann ich für eine ganze Weile gar nichts mehr tun, weil ich einerseits versuche, mich dazu zu bringen, diese Sache zu machen, es aber andererseits nicht schaffe und quasi „feststecke“.

Wichtig für mich ist also immer: NICHT NACHDENKEN! TUN!

… und mich nicht darüber ärgern, wenn es mal wieder nicht funktioniert. Dann räume ich die Küche halt ein anderes Mal auf und backe den Kuchen dann, wenn die exekutiven Funktionen besser sind.

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

Neurodivergenz und das Bedürfnis nach Zeit für sich

30. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wisst ihr noch, als ich gesagt habe, ich würde verstehen, dass sich so viele Menschen für „ein bisschen autistisch“ halten würden? Oder, dass sie der Meinung wären, ADHS-Merkmale wären „normal“? Ich verstehe es immer noch, denn vieles von dem, wovon neurodivergente Menschen erzählen, gleicht dem, was andere Menschen auch mal erleben. Es ist nur weit davon entfernt, unserer Lebensrealität zu entsprechen, denn die Intensität, die Häufigkeit und die Einschränkungen, die damit einhergehen, sind ganz, ganz anders.

Ich dachte daher, ich erzähle davon, wie mein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein aussieht, denn das gehört auch zu diesen Dingen, die ja jede*r kennt… oder vielleicht doch nicht?

In vorpandemischen Zeiten war es so, dass mein Mann morgens das Haus verließ, bevor ich aufstand. Er kam nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr zurück und wir hatten dann etwa sechs gemeinsame Stunden, bevor wir schlafen gingen. Am Wochenende verbrachten wir mehr Zeit zusammen, aber im Großen und Ganzen kann man sagen, ich hatte jede Woche etwa 50 bis 60 wache Stunden für mich alleine – und ich brauchte sie nicht nur, sie waren mir auch oft nicht genug.

Durch die Pandemie hat sich viel verändert, der Ehemann hat vermehrt Homeoffice gemacht und ich fand es sehr, sehr schwierig, mich daran zu gewöhnen. Von einem Moment auf den anderen hatte ich gar keine Zeit mehr für mich! Wir waren ständig zusammen und Rückzug bedeutete auf einmal mich hinter meinem Laptop und meinen Noise-Cancelling-Kopfhörern zu verstecken, aber keine echte Ruhe, kein echtes Alleinsein mehr zu haben.

Ich habe mich damit arrangiert, habe mich abgelenkt, habe versucht, damit klarzukommen und dann kam der Moment, als er zurück ins Büro sollte. So wie mich davor der Wechsel von „viel Zeit alleine“ zu „gar keine Zeit alleine“ beeinträchtigt hatte, so ging es mir auch jetzt wieder mit dem Gegenteil. Ich hatte Angst alleine. Ich fühlte mich nicht wohl. Ich lag stundenlang wie erstarrt auf der Couch oder futterte mich durch den Kühlschrank auf der Suche nach emotionaler Regulation. Es war furchtbar.

Wir suchten Lösungen wie ein gemeinsames Mittagessen, damit ich nicht ganz alleine war, und mit der Zeit wurde es besser. Ich fing langsam wieder an, die Zeit alleine zu genießen, sie tatsächlich für mich zu nutzen, anstatt in einen tagtäglichen Wartemodus zu verfallen, wo ich nur darauf wartete, dass er wiederkam.

Und langsam begann auch der konstante Stress nachzulassen, die konstante Überreizung durch die so lange ständige Anwesenheit einer anderen Person bei gleichzeitig fehlender Erholungszeit wurde weniger und ich merkte, dass ich mich endlich wieder ruhiger fühlte.

Momentan habe ich drei Wochentage, wo ich alleine zuhause bin, an einem davon essen wir noch gemeinsam zu Mittag, an den übrigen vier Tagen ist der Mann die ganze Zeit anwesend. Das funktioniert meistens sehr gut, ich merke aber auch: In stressigen Zeiten reicht mir diese Menge an Alleinzeit nicht aus.

Die letzten fünf Wochen habe ich viel, viel Energie in Projekte für andere Menschen gesteckt. Ich mochte das und dennoch hat es mich gleichzeitig sehr, sehr angestrengt. Dazu kamen ein emotional sehr schwieriges Wochenende und das letzte Drittel meines Zyklus und Anfang dieser Woche war ich zu nichts mehr fähig. Totale Überlastung.

Ich konnte keine Gespräche mehr führen, erinnere mich an große Teile der Zeit überhaupt nicht mehr, weiß nicht einmal mehr so recht, was wir gegessen haben. Ich konnte nicht mehr nachdenken, nicht mehr schreiben, nicht mal mehr Ideen haben. Alles war weg und ich unendlich erschöpft.

Ich habe dann den Home-Office-Tag des Mannes mit Noise-Cancelling-Kopfhörern und einer Serie verbracht, habe auch an den anderen Tagen viel, viel Zeit mit nichts als Serie gucken und essen verbracht und dazwischen geputzt und aufgeräumt, weil mir das Gefühl von Ordnung und Kontrolle gut getan hat. Am ersten Tag alleine habe ich ein bisschen herumgemalt, Konzentration war noch schwierig und ich habe immer nur ein Blümchen oder ein Steinchen ausgemalt. Abends habe ich mich hinter meine Serie verkrochen, wollte meine Ruhe haben und es ging mir definitiv nicht gut. Am zweiten Tag allein habe ich den Ehemann darum gebeten, das gemeinsame Frühstück ausfallen zu lassen, damit ich mehr Zeit für mich hatte und am Nachmittag ging es mir immerhin so gut, dass ich meinen Bandwebstuhl bespannen konnte – Serienzeit für mich alleine brauchte ich dennoch. Heute ist Tag 3, an dem ich Zeit nur für mich habe, die Serie ist zu Ende geguckt, ich kann meine Gedanken wieder in Worte fassen und ich hoffe, ich schaffe es heute, etwas zu kochen.

Morgen ist Home-Office-Tag und so sehr ich mich darauf freue, dass der Ehemann anwesend ist – denn ich verbringe wirklich gerne Zeit mit ihm -, so sehr weiß ich auch jetzt schon, dass mir noch ein, zwei oder noch mehr Tage nur für mich sehr gut tun würden.

Ich BRAUCHE diese Zeit nur für mich. Ich brauche Zeit, in der nichts außer mir und meinen Gedanken anwesend ist, in der ich mich auf mich konzentrieren kann, die ich ohne Druck oder Notwendigkeiten steuern und gestalten kann. Ich tue viele Dinge für uns in dieser Zeit – ich kümmere mich um den Haushalt, schmiede Pläne, organisiere Sachen… was man halt normalerweise so nach Feierabend noch erledigen muss. Das kann ich aber wiederum nur, weil diese Tätigkeiten eingebettet sind in Ruhephasen und in Zeiten, in denen mein Kopf nicht mit der Anwesenheit einer anderen Person beschäftigt ist.

(Es gibt eine Szene in der BBC-Serie Sherlock, wo Sherlock einen Polizisten aus dem Raum schickt, weil seine Anwesenheit ihn beim Denken stört. Ich finde diese Szene sehr, sehr nachvollziehbar!)

Mit einem „normalen“ Leben sind 50-60 Stunden Alleinsein pro Woche nicht zu vereinbaren. Also zumindest, wenn man in der Zeit auch Wachsein möchte, denn da kommen ja noch mal 50-60 Stunden Schlaf dazu. Bei 168 Stunden pro Woche heißt das, dass ich selbst eine mir sehr, sehr nahestehende Person im Wachzustand gerade mal rund 40 Stunden ertrage… besser weniger. Und bei weniger nahestehenden Personen sind noch mal deutlich weniger Stunden erträglich.

Mein Leben – unser Leben – ist so weit wie möglich auf meine Bedürfnisse abgestimmt. (Disclaimer: Auch auf die des Ehemanns!) Wir haben das große Glück – das Privileg! -, dass das möglich ist – nicht ohne Einschränkungen, aber trotzdem möglich! Trotzdem komme ich regelmäßig an meine Grenzen, liege metaphorisch am Boden, weil ich nicht mehr kann und bin überfordert, überlastet, überreizt, am Ende meiner Kräfte, verliere Tage, weil nichts mehr geht – weil so das Leben mit meinen psychischen und physischen Einschränkungen nun mal ist. Weil so das Leben mit Behinderungen ist.

Und dennoch, ich wiederhole es: Ich habe Glück!

So, so viele Menschen haben dieses Glück nicht! Sie MÜSSEN irgendwie funktionieren, auch wenn sie schon am Boden liegen, wenn sie sich seit Wochen, seit Monaten, ja seit Jahren nicht mehr komplett erholen konnten, weil ihre Bedürfnisse im Kapitalismus nicht vorgesehen sind. Weil uns weißgemacht wird, dass, wer nichts „leistet“ auch nichts wert ist. Weil wir darauf gedrillt werden, davon auszugehen, dass alle anderen faul sind, sich auf Kosten anderer bereichern wollen würden oder nur einfach härter arbeiten müssten, damit es ihnen besser ginge.

Aber so ist es nicht.

Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern, sind nicht diejenigen, die arm sind, nicht diejenigen, die krank sind, nicht diejenigen, die als nicht fleißig und leistungsfähig genug gelten. Diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereichern sind diejenigen, die unsere Vorbilder sind: Die Reichen, die Mächtigen, die Bewundernswerten.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Vorbilder zu wechseln.

Liebe Gesellschaft: Du bist dran!

Liebe Gesellschaft: Du bist dran!

19. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wie lebt man mit dem Wissen, dass das eigene Leben nie normal sein wird?

Mein Leben lang wollte ich nichts mehr als „nicht ich“ sein, sondern einfach so wie alle anderen. Ich wollte dazugehören, mich richtig verhalten, ein Teil der Gesellschaft sein, ja, auch „meinen Beitrag leisten“, damit diese Gesellschaft funktioniert. Ich habe mich angestrengt, weit über meine eigenen Möglichkeiten hinaus, habe mich immer noch mehr bemüht und mich dafür gehasst, dass ich es trotz allem Bemühen nicht geschafft habe.

Dann verstand ich endlich, dass es nicht an persönlichem Versagen, sondern an persönlichen Gegebenheiten liegt und eine Weile fand ich das tröstlich. Aber das ist es gar nicht.

Wenn es persönliches Versagen wäre, dann könnte ich mich einfach mehr anstrengen, noch mehr und immer mehr. ICH hätte es in der Hand, könnte eine Änderung bewirken und ein Scheitern liegt dann zwar auch an mir, aber wenn ich mich vielleicht noch ein bisschen mehr anstrengen würde, dann könnte ich es doch schaffen!

Wenn es in den Gegebenheiten liegt… was soll ich tun? Ich kann mich natürlich dennoch mehr anstrengen, aber so wenig, wie ich je lernen werde zu fliegen, so wenig werde ich es auch schaffen, mir durch genügend Anstrengung ein „normales“ Leben zu ermöglichen.

Ich bin traurig, dass es so ist und gleichzeitig bin ich wütend. Wütend, weil ich es einfach nicht ändern kann, weil mir der Handlungsspielraum genommen wurde, weil ich das kleine bisschen Kontrolle, von dem ich dachte, dass ich es besäße, einfach so geklaut wurde! Ich habe keine Kontrolle über meinen Platz in dieser Gesellschaft. Ich habe keine Kontrolle darüber, wie erfolgreich ich sein kann, wie schön, wie reich. Ich kann nichts kontrollieren!

Und doch sind wir es so gewohnt, dass alles eine persönliche Leistung – oder eben persönliches Versagen – ist, dass wir gar nicht mit dem Gedanken umgehen können, in Wirklichkeit überhaupt keine Kontrolle darüber zu haben.

Wo wir im Leben stehen, ist nichts als Glück.

Du hast dir dein Leben durch harte Arbeit verdient? Das ist toll! Nur ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass es Glück ist, dass du überhaupt so hart arbeiten kannst? Dass es vielleicht nur glückliche Umstände sind, die deine harte Arbeit erfolgreich sein lassen? Dass du vielleicht das Glück hattest, von den richtigen Personen wahrgenommen zu werden oder im richtigen Moment die richtige Idee hattest?

Ich will damit nicht sagen, dass deine harte Arbeit nichts wert ist!

Ich will nur sagen: Harte Arbeit ist nicht der einzige Faktor und deshalb ist es auch so, dass harte Arbeit auch zu überhaupt gar keinem Erfolg führen kann. Du könntest dich auch über Jahrzehnte hinweg jeden einzelnen Tag so sehr bemühen, dass du jeden Abend zu Tode erschöpft in dein Bett kippst, und trotzdem könnte es nur dafür reichen, dass du irgendwie klarkommst und es gerade noch so in dein Bett schaffst.

Harte Arbeit und der daran geknüpfte Erfolg sind nichts als eine schöne Geschichte, ein Märchen, ein Traum, der uns dazu bringen soll, genau das zu tun, was wir tun: Alles zu geben und uns trotzdem selbst die Schuld geben, wenn es nicht „reicht“.

Daran liegt auch, dass wir eigentlich nur jene Menschen sehen, die in irgendeiner Art und Weise erfolgreich sind. Wir leben für Erfolgsgeschichten und Scheitern darf nur vorübergehend sein und der Beginn einer motivierenden Geschichte, die wiederum zum Erfolg führt. Und genau das bekommen wir! Filme, Bücher, Social Media – wir sehen den Erfolg, den Wandel hin zu etwas Positivem, die Inspiration unser eigenes Leben „in die Hand zu nehmen“, weil: Wir können das doch alle!

Nein! Können wir nicht. Es gibt schlichtweg nichts, das wir einfach alle können. Natürlich können wir uns alle bemühen, wir können uns Ziele setzen und daran arbeiten, aber nicht für jede*n ist jedes Ziel gleich erreichbar.

Für mich ist das Ziel, in diese Welt, diese Gesellschaft mit all ihren Werten und Normen und Ansichten zu passen, einfach gar nicht erreichbar und ich will nicht mehr daran arbeiten. Ich will mich nicht mehr bemühen. Ich will nicht mehr meine Energie darauf verwenden als wenigstens etwas weniger seltsam durchzugehen! Ich will nicht länger auf Glück hoffen und diese Hoffnung hinter harter Arbeit verstecken.

Ich will einen Platz in dieser Welt, ohne ihn mir erkämpfen zu müssen und ich will, dass IHR ihn mir gebt. Mir und euch und allen anderen auf dieser Welt!

Es ist nicht mein Job, in diese Gesellschaft zu passen. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, für alle zu passen!

Liebe Gesellschaft: Du bist dran!

Wenn ich still werde

Wenn ich still werde

13. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Ich habe immer etwas zu sagen. Ich liebe es, Wissen weiterzugeben, meine Gedanken zu teilen, Dinge – inkl. mir selbst – zu erklären. Und doch werde ich immer mal wieder still, rede für Wochen nur wenig, möchte mich nicht an Gesprächen beteiligen und höre nur noch zu. Reden, schreiben, mich mitteilen ist mir zu viel, denn in meinem Kopf sind einfach zu viele Gedanken. Gedanken, die sich auch noch überschneiden und bei denen ich im Bruchteil von Sekunden von einem Thema zu fünf anderen springe und von dort direkt weiter und immer weiter. Und dann erklären, wieso ich gedanklich wo ganz anders bin? Anstrengend…

Ich schweige also, während mein Kopf versucht, all die vielen Dinge, über die er gerne nachdenken würde, zu Ende zu denken – oder zumindest so weit, dass ich darüber reden kann. Vielleicht passiert das morgen, vielleicht in einer Woche, vielleicht auch erst in einem Monat oder einfach nie.

In der Zwischenzeit dreht sich die Welt aber weiter und neue Ideen werden in meinen Kopf gespült und auch die wollen durchdacht werden, wollen eingehegt werden in das Konstrukt an Gedanken, wollen neue Verbindungen aufbauen, schon Durchdachtes noch einmal verändern, verstärken, erweitern.

Manchmal sind es so viele neue Gedanken, dass ich denke, ich werde nie wieder aus meinem Schweigen herausfinden, weil es endlos dauert, bis alle Gedanken durchgedacht sind und doch, irgendwann ist er da, dieser Moment, in dem sich die Gedanken klären und ich wieder reden, schreiben, mich mitteilen kann.

Ich warte sehnsüchtig darauf und weiß doch, dass sich der Prozess nicht beschleunigen lässt, weil Denken auch eine Sache von Zeit ist, weil es nicht nur aktives Denken ist, sondern auch sich selbst Zeit geben, um die Gedanken zu verarbeiten und zu verdauen. Es braucht Zeit und Raum, in denen Gedanken reifen dürfen – in denen wir reifen dürfen, uns weiterentwickeln dürfen, wir werden dürfen. Ein Leben lang.

Selbstgespräches sind super
Selbstgespräche sind super

Selbstgespräche sind super

2. Juni 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Solange ich mich erinnern kann, führe ich Selbstgespräche. Sie laufen intern ab, niemand würde sie von außen bemerken, und sie sind ein nahezu konstanter Begleiter in meinem Leben. Ich habe dabei verschiedene Formen von Selbstgesprächen: Manche sind ein Dialog, bei dem ich mich mit mir selbst unterhalte, andere sind eher wie eine kommentierende oder erklärende Stimme und manche sind wie störende Zwischenrufer.

Ich empfinde meine innere Stimme die meiste Zeit als hilfreich. Sie hilft mir beim Strukturieren meiner Gedanken, sie bietet mir Trost und Ermutigung und sie erleichtert es, Ereignisse zu verarbeiten und zu memorieren.

Manchmal benutzen aber auch meine Angststörung, die Depression oder die posttraumatische Belastungsstörung die innere Stimme und dann ist sie gefährlich für mich, denn sie formuliert dann sehr viel Negatives, erzählt mir von allem, was schief gehen könnte und von allem, was schon mal schief gegangen ist, sie nimmt die Stimme meiner Traumaverursacher an und ahmt sie nach und erzählt mir, was für ein schlechter Mensch ich doch wäre, oder sie zerlegt eine Situation in lauter Einzelteile und analysiert sie endlos auf mögliche Fehler meinerseits.

Ich würde sagen, dass DAS nicht wirklich mein innerer Dialog ist. Es ist eine gekaperte, vergiftete Version davon und sie hat einen eigenen Namen: Intrusive (aufdringliche) Gedanken. Ich mag sie nicht.

Die anderen, die echten Selbstgespräche, die mag ich aber, empfinde sie als wichtigen und hilfreichen Teil von mir. Dennoch dachte ich mein Leben lang, dass meine inneren Dialoge seltsam wären und etwas, für das ich mich zu schämen hätte. Nie hätte ich jemandem davon erzählt – oder zumindest nicht so, dass ich es nicht als Witz hätte abtun können. Ich dachte, die Selbstgespräche kämen von meiner Neurodivergenz und wären nur ein weiterer Teil meiner „Seltsamkeit“ – und dann stellte sich heraus, dass dem gar nicht so ist. Oder vielleicht doch. Oder wieder auch nicht.

Zunächst: Die meisten Menschen führen Selbstgespräche UND Selbstgespräche sind etwas Gutes!

Wir beginnen im Kindesalter damit, mit uns selbst zu reden. Wir erzählen uns zum Beispiel Handlungsabläufe oder geben unseren Spielsachen Stimmen und lassen sie Situationen ausspielen. Irgendwann gehen diese gesprochenen Selbstgespräche („selbstbezogenes Sprechen“) in innere Selbstgespräche über und werden zu unserer inneren Stimme.

Sie helfen uns weiterhin dabei, Handlungen durchzuführen, Probleme zu lösen oder Situationen zu bewältigen. Der innere Monolog – oder der innere Dialog – motiviert uns, erinnert uns, verbalisiert unsere Empfindungen, bereitet uns auf Gespräche oder Situationen vor, analysiert und bewertet. Unsere innere Stimme hilft uns dabei, die Welt zu verstehen und ein Teil von ihr zu sein.

Wir können unsere Selbstgespräche bewusst initiieren und auch steuern und damit zum Beispiel gegen intrusive Gedanken vorgehen oder wir nutzen sie, um eine schwierige Aufgabe zu erleichtern oder uns auf eine Situation vorzubereiten. Daneben laufen Selbstgespräche aber auch ganz automatisch und unbewusst ab und uns fällt vielleicht gar nicht auf, dass wir gerade mit uns selbst reden.

Wie ist das jetzt mit der Neurodivergenz?

Wir haben schon gesehen: Selbstgespräche sind nicht auf neurodivergente Menschen beschränkt, sondern jeder Mensch hat einen mehr oder weniger stark ausgeprägten inneren Dialog. Die Wissenschaft geht davon aus, dass Selbstgespräche wichtig für die exekutiven Funktionen sind und untersucht daher die Wirkung und Funktionsweise von inneren Gesprächen bei Menschen mit exekutiven Dysfunktionen.

Diese Studie untersucht beispielweise speziell innere Sprache bei Autismus und bei Schizophrenie mit akustisch verbalen Halluzinationen, hat aber auch einen sehr interessanten Abschnitt über ADHS. Sie kommt dabei zu der Vermutung, dass bei Autismus der innere Dialog seltener genutzt wird (vor allem, wenn die sozio-kommunikativen Fähigkeiten eingeschränkt sind), während er bei ADHS unkontrollierter und damit tendenziell störender ist. Beides könnte nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler negative Auswirkungen auf die exekutiven Funktionen haben.

Ich kann aufgrund meiner eigenen Erfahrungen gerade die ADHS-Sicht sehr gut nachvollziehen. Nachts nicht einschlafen können, weil die Gedanken noch durch den Kopf toben? Klingt doch sehr nach unkontrollierten inneren Mono- oder Dialogen! Und auch intrusive Gedanken (die ja auch bei ADHS häufig sind) sind wahrscheinlich eine Form davon.

Man kann also sagen:

  • Selbstgespräche – egal ob verbalisiert oder innerlich (innere Stimme, innerer Dialog, innerer Monolog, innerer Sprache, inneres Gespräch…) – sind sowohl für neurotypische als auch für neurodivergente Menschen üblich.
  • Selbstgespräche sind äußerst nützlich.
  • Selbstgespräche können bewusst eingesetzt werden.
  • Selbstgespräche können aber gerade in unkontrollierter Form auch hinderlich oder schädlich sein.
  • Unkontrollierte Selbstgespräche können die Form von negativen Selbstgesprächen oder intrusiven Gedanken annehmen. Es ist möglich, diese negativen Selbstgespräche bewusst zu kontern, indem man positive Selbstgespräche dagegen einsetzt.

Ich mag meine eigenen Selbstgespräche jetzt noch mehr und werde mich zukünftig sicher auch nicht mehr dafür schämen, denn was innere Dialoge alles können ist einfach sehr, sehr cool!

Produktivität bringt dir nichts oder: Warum ich Produktivitätstipps hasse

Produktivität bringt dir nichts oder: Warum ich Produktivitätstipps hasse

25. April 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Ich hasse Produktivitäts- und Selbstoptimierungstipps. Also eigentlich hasse ich gar nicht die Tipps an sich – manche sind tatsächlich hilfreich -, sondern vielmehr das, was sie einem vermitteln: Dieses permanente Gefühl, nicht gut genug zu sein, verbunden mit der Botschaft, sich einfach mehr anstrengen zu müssen. Darin schwingt immer das stille Versprechen mit: „Wenn du DAS tust, dann wird dein Leben besser! Noch diese eine Maßnahme und du wirst erfolgreich, berühmt und schön und schwimmst in Geld!“ Wirst du nicht und irgendwo weißt du das auch, aber dennoch regt sich die Hoffnung in dir: „Es könnte doch dieses Mal so sein?“

Kein Wunder, dass ganze Ratgeber darüber geschrieben werden, dass „erfolgreiche“ Menschen regelmäßig nach ihren Geheimtipps gefragt werden – oder sie ganz ungefragt geben – oder dass man mit all den Infografiken zum Thema Selbstoptimierung und Produktivitätssteigerung vermutlich ganze Städte tapezieren könnte.

Die meisten dieser Tipps sind recht klein, schlicht und allgemeingültig und ich dachte daher immer, es wäre meine Schuld, dass ich immer noch nicht erfolgreich war und maximal meine große Zehe in Geld baden konnte. Sicher lag es daran, dass ich sie nicht konsequent genug befolgte, nicht hart genug an mir arbeitete und mein Glas Wasser morgens immer vergaß. /s (Tonindikator: Sarkasmus)

Entsprechend erfreut war ich also, als ich das erste Mal auf Tipps speziell für Menschen mit ADHS stieß: „Juchu! Endlich gibt es auch Menschen, die meine Probleme berücksichtigen!“ Ich erfuhr, dass ich mit Timern arbeiten sollte, meine Termine in einen Kalender eintragen sollte, To-Do-Listen schreiben, Aufgaben zerlegen und strenger mit mir sein sollte. „Hm“, dachte ich mir, „hatten wir das nicht alles schon?“

Zusätzlich tauchten jetzt aber auch Tipps auf, wie ich Putzen und Aufräumen organisieren sollte, wie ich auch meine privaten Termine in strikt geführte Kalender eintragen sollte, mein Leben besser durchtakten sollte und was ich tun konnte, um weniger häufig Dinge zu verlegen und zuverlässiger in meiner Kommunikation mit Freund*innen zu sein. Die Produktivitätsanforderungen hatten eindeutig auch das Privatleben erreicht.

Erst wollte ich unbedingt all diese Tipps ausprobieren, wollte eine bessere Freundin und Partnerin, ein besserer Mensch sein… und dann wurde ich wütend.

All diese Selbstoptimierungstipps und Produktivitätsratgeber gaukeln uns vor, dass es unser oberstes Ziel ist, besser zu werden. Konstant. Noch dazu nicht nur in den Dingen, die uns vielleicht tatsächlich an uns stören, sondern einfach in allem, schlichtweg weil es möglich ist und weil sich jemand einen Tipp dafür überlegt hat.

Bei mir – wie bei vielen Menschen mit ADHS – stößt das auf offene Ohren, denn wir haben oft von klein auf gelernt, dass wir ja so viel Potential hätten, es nur leider nicht ausschöpfen würden und uns eben mehr anstrengen müssten. Wir könnten ja so viel erreichen, wenn wir nur mehr an uns arbeiten würden. Wir könnten so viel bessere Kinder, Freund*innen, Partner*innen, Menschen sein, wenn wir uns einfach nur mehr Mühe geben würden.

Ich glaube mittlerweile, dass ich mich mein ganzes Leben mit Produktivitätstipps beschäftigt habe, um „besser“ zu werden und dieses ominöse Potential zu erfüllen, das andere in mir zu sehen meinten. Irgendwann wurde dieser Glaube, dann zu meinem eigenen und ich sagte mir beständig, dass ich mich mehr und immer mehr anstrengen, mein „Potential“ endlich mal ausschöpfen müsste und machte mir die größten Vorwürfe, dass ich es nie schaffte. Also habe ich den nächsten Produktivitätstipp probiert und den nächsten und den nächsten. Gut genug fühlte ich mich dadurch immer noch nicht.

Genau das ist das Perfide an Produktivitätstipps und Selbstoptimierungsratgebern: Für sie sind wir nie gut genug. Wir können immer noch etwas verbessern und danach noch etwas und selbst wenn wir denken „Jetzt reicht es aber mal“, zeigt uns gleich darauf jemand, dass es doch nicht reicht, weil wir noch nicht das neueste Selbstoptimierungs-Allheilmittel ausprobiert haben und das wäre schließlich der ultimative Tipp!

Unser Drang zu mehr Produktivität und Selbstoptimierung führt am Ende vor allem zu zwei Dingen: Jede Menge Stress und ein reduziertes Selbstwertgefühl.

Ich habe irgendwann aufgehört, produktiver und erfolgreicher sein zu wollen. Auch die Jagd nach meinem angeblichen Potential habe ich aufgegeben. Ich versuche heute nur noch, der Mensch zu sein, mit dem ich mich wohlfühle.

Ich lese immer noch Produktivitätstipps, vor allem jene für Menschen mit ADHS, denn manche davon greifen tatsächlich das auf, was auch ich probiere: MIT dem eigenen Gehirn, der eigenen Denkweise, den eigenen Schwächen zu arbeiten, anstatt dagegen anzukämpfen.

Es geht nicht darum, sich immer noch mehr anzustrengen und zu bemühen und einem unerreichbaren Ideal hinterherzulaufen, sondern darum, herauszufinden, was man tatsächlich braucht und möchte: Im Job, im Privatleben, im Zuhause, in der Partnerschaft… – und was realistisch erreichbar ist. Und dann geht es darum, für sich selbst Wege zu finden, das alles möglichst leicht und mit wenig Aufwand langfristig umzusetzen, denn – große Überraschung: Umso WENIGER man sich in seinem Alltag anstrengen und bemühen muss, umso mehr Energie hat man für das, was man liebt, wofür man brennt und wofür man gerne diese Energie einsetzen möchte – und das ist bei mir nun mal einfach nicht „erfolgreich sein“.

Produktivität an sich bringt dir nichts. Sie macht dich nicht zu einem „besseren“ Menschen und sie wird dich auch nicht reich und berühmt machen und an dir selbst zu arbeiten ist zwar toll, aber du musst dich nicht „optimieren“ – es gibt keine Blaupause dafür wie du sein sollst.

Gute Produktivitätstipps machen deinen Alltag besser und einfacher und das bringt dir mehr als jede noch so große Produktivität.

Abwechslung und Routine - Autismus trifft ADHS
Abwechslung und Routine – wenn ADHS auf Autismus trifft

Abwechslung und Routine – wenn ADHS auf Autismus trifft

18. April 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Routinen sind schwierig für mich. Oder nein, eigentlich sollte ich sagen: Routinen, die mir keinen Spaß machen, sind schwierig für mich. Okay, auch mit Spaß laufen Routinen nicht so richtig perfekt, denn mein ADHS-Hirn liebt nun mal Abwechslung und Neues und Routinen sind genau das nicht – und sollen es auch gar nicht sein.

Jetzt ist es aber so, dass mein Kopf nicht nur Abwechslung liebt, sondern durchaus auch Gewohntes und Vertrautes – ADHS trifft Autismus. Gibt es zu viele Veränderungen in meinem Alltag, werde ich nervös und unausgeglichen. Noch schlimmer, wenn ich nicht selbst darüber bestimmen kann. Die Abwechslungen sind dann nicht mehr wünschenswert und belebend, sondern bedrohlich und angsteinflößend. Ich kann mich dann nicht mehr konzentrieren, werde fahrig und schreckhaft, befürchte immer das Schlimmste und habe konstant unspezifische Befürchtungen, denn: „Wer weiß, was noch alles passieren könnte!“

Ich brauche Dinge und Abläufe, die sich nicht verändern, sondern vorhersagbar und bekannt sind und mir durch diese Gleichförmigkeit Sicherheit bieten. Ich brauche… Routinen.

Aber da ist ja noch die andere Seite in mir. Die Seite, die Neues, Aufregung, Abwechslung braucht und wenn sie es nicht bekommt, ähnlich heftig reagiert. Gibt es zu wenig Veränderung in meinem Alltag wird das Bedürfnis danach immer drängender, aufgeregter, lauter. Die Gedanken drehen sich nur noch darum und werden dabei schneller und immer schneller. Der Druck nimmt beständig zu. Ich brauche Neues. Dringend! Alles in mir schreit und drängt auf eine Erfüllung des Bedürfnisses. Es nimmt allen Raum in mir ein, belegt jeden Gedanken, beeinflusst jede Entscheidung. Es ist auf seine ganz eigene Art nicht weniger beängstigend.

Mein Ziel ist es, beiden Seiten gerecht zu werden: Das richtige Maß an Neuem und Vertrautem, an Abwechslung und Routine.

Dieses Gleichgewicht zu finden ist nicht immer einfach, denn eine Unmenge an Faktoren spielt dabei eine Rolle – und ich kenne sie weder alle, noch lassen sie sich zur Gänze von mir beeinflussen. Es ist also eher eine Sache von „Versuch und Irrtum“ und klappt mal besser und mal schlechter. Ein paar dieser Faktoren habe ich aber für mich ausgemacht.

Vertraute Abläufe und Dinge

Alles, was ich regelmäßig mache, sollte für mich immer in einem ähnlichen Rahmen ablaufen und vertraute Orte und/oder Gegenstände beinhalten. Zum Beispiel:
Wocheneinkauf: Wenn möglich am gleichen Tag, zu einer ähnlichen Uhrzeit und in einem von drei oder vier möglichen Läden, wo ich dann alles in der gleichen Reihenfolge erledigen kann.
Zähne putzen: Bitte immer mit der gleichen Zahncreme. Überhaupt bin ich sehr produktfixiert: Ich suche erst ewig nach dem perfekten Produkt und kaufe dann immer genau dieses nach. Gerne auch sicherheitshalber in größeren Mengen, weil es ja aus dem Sortiment genommen werden könnte.
Brauche ich etwas außer der Reihe, kann ich das nur an einem Tag holen, an dem ich genügend Kapazitäten für diese Veränderung habe – oder ich bestelle es (wenn möglich) online.
Die gewohnten Abläufe tragen sehr stark dazu bei, dass ich genügend Vertrautes in meinem Leben habe. Entsprechend gestresst reagiere ich hier auf Veränderungen.

Kein Einfluss bedeutet mehr Stress

Wenn ich mit Veränderungen konfrontiert werde, die ich nicht beeinflussen kann, reagiere ich extrem schnell stark gestresst. Umso mehr sich also durch andere an meinem gewohnten Ablauf ändert, umso weniger komme ich damit klar und umso mehr muss ich mit mehr Ruhe und weniger Abwechslung in anderen Bereichen ausgleichen. Die wechselnden Homeoffice-Regelungen bei meinem Ehemann sind zum Beispiel ein großer Stressfaktor für mich und ich benötige bei jedem Wechsel mehrere Wochen, um mich darauf einzustellen. In dieser Zeit habe ich deutlich weniger Energie und kann nur schwer Neues anfangen oder Veränderungen auch nur überdenken. Kann ich Veränderungen jedoch selbst in Gang setzen, führen sie zu deutlich weniger Stress und erfüllen eher das Bedürfnis nach Abwechslung.
Ich hoffe immer auf möglichst wenig Veränderung von außen, weil es mir mehr Spielraum für eigene Veränderungen gibt.

Routinenabläufe

Es fällt mir grundsätzlich leichter, wenn eine Routine in einen Ablauf eingebettet wird anstatt an einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Uhrzeit gebunden zu werden. Ich lade zum Beispiel jedes Wochenende unsere elektrischen Zahnbürsten. Ich mache das aber nicht, weil es Samstag oder Sonntag ist, sondern weil wir mir ein paar Marker sagen, dass Wochenende ist: Wir schlafen aus, ich bin meistens die erste im Badezimmer, der Ehemann ist zuhause (Homeoffice-Verwirrung vorprogrammiert). Genau so funktioniert Spazierengehen für mich am Besten (und eigentlich auch nur dann), wenn ich direkt nach dem Aufstehen in Klamotten und Schuhe schlüpfe und losgehe. Mache ich erst das Bett oder entsperre auch nur das Handy, funktioniert das ganze Spazierengehen nicht mehr.
Wenn ich tatsächlich bewusst eine neue Routine etablieren möchte, arbeite ich meistens mit Routinenabläufen und schaue, wo ich meine Routine „andocken“ kann.

Abwechslungsreiche Routinen

Es gibt durchaus die Möglichkeit Routinen und Abwechslung zu kombinieren. Die beste Möglichkeit, die ich bisher dafür gefunden habe, sind für mich Spaziergänge. Ich bin auf meinen Spaziergängen meistens auf der selben Strecke unterwegs, was mir Sicherheit und Ruhe gibt. Gleichzeitig ist es aber so, dass die Natur selbst sich pausenlos verändert – es ist anderes Wetter, irgendwo wachsen Blumen oder mir begegnen Tiere. So bekomme ich selbst auf der immer selben Strecke jede Menge Abwechslung. Und wenn ich mehr Abwechslung möchte oder brauche, gibt es noch meine alternativen Wege. Nach etwa 1,5 km kommt eine Stelle, an der ich mich entscheiden kann, ob ich den gewohnten Weg nehmen möchte, oder meine Strecke etwas verändern will. Nach einem weiteren Kilometer auf dem Standardweg gibt es wieder so eine Stelle und später noch einmal. Ich entscheide mich manchmal für eine der Alternativen, aber auch, wenn ich das nicht tue, ist mein Bedürfnis nach Abwechslung beruhigt, weil ich ihm die Möglichkeit gegeben habe, sich zu melden und es berücksichtigt hätte.
Für mich ist das die beste Möglichkeit meine unterschiedlichen Bedürfnissen bewusst gleichzeitig zu befriedigen und ich schaue oft, wo und ich welchem Maß ich Abwechslung in Routinen integrieren kann.

Trotz dieses Wissens habe ich natürlich Phasen, wo ich es nicht schaffe, die Bedürfnisse beider Seiten zu erfüllen. Gerade wenn viele Veränderungen von außen kommen ist es sehr schnell sehr schwierig für mich und ich kämpfe dann massiv mit den Auswirkungen, die auch dazu führen können, dass ich tagelang komplett überlastet bin und kaum noch etwas machen kann. Der umgekehrte Fall tritt seltener ein. Wenn ich Abwechslung oder Neues bräuchte, es aber durch äußere Umstände nicht möglich ist, kann ich das meistens viel länger verkraften – auch, weil mir winzige Veränderungen oft schon reichen.

Ich empfinde meine unterschiedlichen Bedürfnisse sehr stark wie zwei Freunde, die gegenseitige Zugeständnisse machen, um eine schöne gemeinsame Zeit verbringen zu können. Meistens klappt das.

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