Liebe Gesellschaft: Du bist dran!
Wie lebt man mit dem Wissen, dass das eigene Leben nie normal sein wird?
Mein Leben lang wollte ich nichts mehr als „nicht ich“ sein, sondern einfach so wie alle anderen. Ich wollte dazugehören, mich richtig verhalten, ein Teil der Gesellschaft sein, ja, auch „meinen Beitrag leisten“, damit diese Gesellschaft funktioniert. Ich habe mich angestrengt, weit über meine eigenen Möglichkeiten hinaus, habe mich immer noch mehr bemüht und mich dafür gehasst, dass ich es trotz allem Bemühen nicht geschafft habe.
Dann verstand ich endlich, dass es nicht an persönlichem Versagen, sondern an persönlichen Gegebenheiten liegt und eine Weile fand ich das tröstlich. Aber das ist es gar nicht.
Wenn es persönliches Versagen wäre, dann könnte ich mich einfach mehr anstrengen, noch mehr und immer mehr. ICH hätte es in der Hand, könnte eine Änderung bewirken und ein Scheitern liegt dann zwar auch an mir, aber wenn ich mich vielleicht noch ein bisschen mehr anstrengen würde, dann könnte ich es doch schaffen!
Wenn es in den Gegebenheiten liegt… was soll ich tun? Ich kann mich natürlich dennoch mehr anstrengen, aber so wenig, wie ich je lernen werde zu fliegen, so wenig werde ich es auch schaffen, mir durch genügend Anstrengung ein „normales“ Leben zu ermöglichen.
Ich bin traurig, dass es so ist und gleichzeitig bin ich wütend. Wütend, weil ich es einfach nicht ändern kann, weil mir der Handlungsspielraum genommen wurde, weil ich das kleine bisschen Kontrolle, von dem ich dachte, dass ich es besäße, einfach so geklaut wurde! Ich habe keine Kontrolle über meinen Platz in dieser Gesellschaft. Ich habe keine Kontrolle darüber, wie erfolgreich ich sein kann, wie schön, wie reich. Ich kann nichts kontrollieren!
Und doch sind wir es so gewohnt, dass alles eine persönliche Leistung – oder eben persönliches Versagen – ist, dass wir gar nicht mit dem Gedanken umgehen können, in Wirklichkeit überhaupt keine Kontrolle darüber zu haben.
Wo wir im Leben stehen, ist nichts als Glück.
Du hast dir dein Leben durch harte Arbeit verdient? Das ist toll! Nur ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass es Glück ist, dass du überhaupt so hart arbeiten kannst? Dass es vielleicht nur glückliche Umstände sind, die deine harte Arbeit erfolgreich sein lassen? Dass du vielleicht das Glück hattest, von den richtigen Personen wahrgenommen zu werden oder im richtigen Moment die richtige Idee hattest?
Ich will damit nicht sagen, dass deine harte Arbeit nichts wert ist!
Ich will nur sagen: Harte Arbeit ist nicht der einzige Faktor und deshalb ist es auch so, dass harte Arbeit auch zu überhaupt gar keinem Erfolg führen kann. Du könntest dich auch über Jahrzehnte hinweg jeden einzelnen Tag so sehr bemühen, dass du jeden Abend zu Tode erschöpft in dein Bett kippst, und trotzdem könnte es nur dafür reichen, dass du irgendwie klarkommst und es gerade noch so in dein Bett schaffst.
Harte Arbeit und der daran geknüpfte Erfolg sind nichts als eine schöne Geschichte, ein Märchen, ein Traum, der uns dazu bringen soll, genau das zu tun, was wir tun: Alles zu geben und uns trotzdem selbst die Schuld geben, wenn es nicht „reicht“.
Daran liegt auch, dass wir eigentlich nur jene Menschen sehen, die in irgendeiner Art und Weise erfolgreich sind. Wir leben für Erfolgsgeschichten und Scheitern darf nur vorübergehend sein und der Beginn einer motivierenden Geschichte, die wiederum zum Erfolg führt. Und genau das bekommen wir! Filme, Bücher, Social Media – wir sehen den Erfolg, den Wandel hin zu etwas Positivem, die Inspiration unser eigenes Leben „in die Hand zu nehmen“, weil: Wir können das doch alle!
Nein! Können wir nicht. Es gibt schlichtweg nichts, das wir einfach alle können. Natürlich können wir uns alle bemühen, wir können uns Ziele setzen und daran arbeiten, aber nicht für jede*n ist jedes Ziel gleich erreichbar.
Für mich ist das Ziel, in diese Welt, diese Gesellschaft mit all ihren Werten und Normen und Ansichten zu passen, einfach gar nicht erreichbar und ich will nicht mehr daran arbeiten. Ich will mich nicht mehr bemühen. Ich will nicht mehr meine Energie darauf verwenden als wenigstens etwas weniger seltsam durchzugehen! Ich will nicht länger auf Glück hoffen und diese Hoffnung hinter harter Arbeit verstecken.
Ich will einen Platz in dieser Welt, ohne ihn mir erkämpfen zu müssen und ich will, dass IHR ihn mir gebt. Mir und euch und allen anderen auf dieser Welt!
Es ist nicht mein Job, in diese Gesellschaft zu passen. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, für alle zu passen!
Liebe Gesellschaft: Du bist dran!