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Unkelbach Art

My neurodivergent life is a piece of art

Author

Claudia Unkelbach

Posts by Claudia Unkelbach

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

5. Februar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Meistens erzähle ich davon, was der Ehemann alles im Alltag für mich übernimmt, wie sehr er mich unterstützt und meine Behinderung – sowohl durch meine chronischen Schmerzen als auch durch meine Neurodivergenz – mitträgt. Heute zeige ich euch aber eine andere Seite, denn behindert zu sein bedeutet bei Weitem nicht, dass der nicht-behinderte Part unheimlich heldenhaft wäre und man als behinderter Mensch nichts zur Beziehung beiträgt.

Fangen wir damit an, dass ich den Ehemann heute angeschrien habe, weil er etwas verschüttet hat.

Nein, das ist nicht mein „toller“ Beitrag zu unserer Partnerschaft, aber es passiert ab und zu, wenn ich sehr viel Stress habe, überreizt, überlastet oder übermüdet bin und nicht so aufmerksam war, wie sonst. Der Ehemann ist nämlich der Typ „zerstreuter Professor“ und ganz oft sehr verpeilt, unaufmerksam und ungeschickt und ich gleiche das im Alltag aus und eliminiere mögliche Probleme, bevor sie passieren, oder bin für ihn „mit aufmerksam“.

Manchmal geht das schief, eben weil ich zu gestresst bin, überreizt oder übermüdet (oder in einer Zyklusphase, wo die Hormone „anstrengend“ sind) und dann explodiere ich innerlich und ein Teil davon landet halt auch äußerlich. Merke ich das rechtzeitig, bitte ich normalerweise den Ehemann darum, an diesem Tag besonders… besonnen zu agieren. Das heißt jetzt nicht, dass er den ganzen Tag Angst haben muss, dass ich wegen Kleinigkeiten explodieren könnte oder er alle eventuellen Fehlerquellen vorweg denken und unbedingt vermeiden muss. Es bedeutet, dass er bewusster handeln muss für diesen Tag.

Auf jemand anderen zu achten ist nämlich ganz schön anstrengend und frisst viel Energie und Nerven und macht es für mich schwierig, abzuschalten, wenn er anwesend ist. All das kann ich bei Stress, Überreizung, Übermüdung etc. einfach nicht leisten und dann muss er das selbst tun.

Ich rede normalerweise nicht darüber. Zu erwähnen, dass man aufpasst, dass der Ehemann nichts unabsichtlich verschüttet oder zerbricht, klingt entweder albern oder übertrieben und ich bekomme dann zu hören, dass ICH da ja wohl wichtiger bin und auf mich selbst achten soll und außerdem: „Er ist doch erwachsen und kann ja wohl selbst aufpassen.“

Aber wisst ihr, ich halte nichts von diesem Konzept, dass jeder Mensch möglichst selbst- und eigenständig zu sein hat und Dinge können muss, weil er eben erwachsen ist. So funktioniert Partnerschaft nicht für uns. Für uns bedeutet Partnerschaft, dass jeder von uns dafür sorgt, dass es dem anderen möglichst gut geht – soweit das halt in unseren Möglichkeiten liegt.

So holt der Ehemann für mich Rezepte und Überweisungen von Ärzt*innen, geht zur Apotheke, kommt beim Einkaufen mit, erledigt die Wäsche, weil man dabei Nachbar*innen begegnen könnte und so weiter; und ich achte auf die Dinge, die für ihn schwierig sind und kümmere mich darum.

Ja, natürlich erwarten wir von Menschen ab einem bestimmten Alter, dass sie all das selbst machen – aufpassen genauso wie einkaufen – und sehen nicht ein, warum „man“ das nicht einfach selbst macht, aber genau das ist es ja: Es ist nicht für jede Person gleich „einfach‘.

Für den Ehemann kostet die notwendige Aufmerksamkeit auf den Alltag Unmengen an Energie – für mich deutlich weniger. Warum sollte ich ihn dazu zwingen seine Energie für etwas zu verpulvern, dass ich ihm zu geringeren „Kosten“ abnehmen kann? Warum sollte er mich dazu zwingen, selbst Rezepte bei Ärzt*innen abzuholen, wenn das für mich super anstrengend ist, während es für ihn eine kleine Aufgabe ist?

Weil jeder von uns erwachsen ist und das können sollte?
Weil wir das „ja mal lernen müssen“?
Weil wir dann nicht zurechtkommen werden, wenn sich unsere Wege trennen sollten?

Sorry, aber das ist halt einfach Quatsch!

Wenn es notwendig ist, schaffen Menschen ganz erstaunliche Dinge. Dinge, die dann Unmengen an Energie und Nerven kosten, aber wir schaffen sie. Falls wir uns irgendwann tatsächlich trennen sollten, wird jeder von uns schon klarkommen und neue Lösungen für die „Problemstellen“ finden.

Solange wir aber zusammen sind, ist es nur logisch, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten die schwachen Stellen der Partnerperson auszugleichen. So sparen wir beide Energie, Kraft, Nerven, Zeit, was weiß ich.

Es hat einfach keinen Sinn, nur zum Lernen oder wegen „Arbeitsteilung“ oder wegen „das muss man aber können“, ständig Dinge zu tun, die super schwierig für einen sind, während jemand danebensteht und es viel einfacher übernehmen könnte. Das heißt ja nicht, dass einer von uns sagt: „Hab‘ keinen Bock auf diese Scheiß-Tätigkeit, die kann ja mein*e Partner*in machen.“

Es ist halt Abwägungssache, Gucken, Ausloten, Diskutieren und so weiter. Es ist der Wunsch, das Leben der Partnerperson so gut und einfach wie möglich zu machen.

Wie möglich! Das bedeutet nicht „dem anderen alles in den Schoß legen“!

„So einfach wie möglich“ bedeutet, dass jeder schaut, wie sich die beste mögliche Variante für alle Beteiligten finden lässt, weil eben alle gleich wertvoll und gleich wichtig sind, ungeachtet ihres Könnens, ihrer Leistungsfähigkeit oder ihres finanziellen Beitrags.

Partnerschaft bedeutet für uns nicht, dass man alles (vermeintlich gerecht) in so viele Teile teilt, wie es Partner gibt und dann jede*r gleich viel leistet. Partnerschaft bedeutet für uns, dass jede*r im Rahmen der eigenen Möglichkeiten daran mitwirkt, dass es allen Personen in der Partnerschaft so gut geht, wie das eben möglich ist, dass alle so viel Zeit und Möglichkeiten haben, ihre Interessen auszuleben, dass alle in den Dingen unterstützt werden, die schwierig für sie sind – egal, wie lächerlich diese Dinge wirken mögen.

Das heißt dann eben auch, dass ich auf den Ehemann „aufpasse“, auch wenn es dazu führt dass ich eher unentspannt bin, wenn er anwesend und nicht längere Zeit „sicher“ beschäftigt ist. Und es heißt, dass ich mich bemühe, ihm Bescheid zu geben, wenn ich nicht ausreichend Energie und/oder Nerven habe, um das zu leisten und er dann eben mehr seiner Energie/Nerven investiert, um selbst auf sich aufzupassen, auch wenn das bedeutet, dass er dann an dem Tag nicht mehr alles so tun kann, wie er das gerne würde.

Es ist ein gegenseitiges auf die jeweiligen Bedürfnisse des anderen achten und dafür sorgen, dass ALLE so viel gute Zeit wie möglich haben können – egal wie die am Ende aussieht.

Neurodivergenz und Schule – das kann auch gutgehen

Neurodivergenz und Schule – das kann auch gutgehen

12. Januar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wenn neurodivergente Menschen über ihre eigene oder die Schulzeit ihrer Kinder erzählen ist das in den meisten Fällen die Erzählung über eine schlimme Zeit in ihrem Leben. Ich komme mir dann immer ein bisschen seltsam und merkwürdig „fehl am Platz“ vor, denn meine eigene Schulzeit war schön und ich war viel, viel lieber in der Schule als zuhause. Okay, das liegt natürlich zum Teil daran, dass es zuhause sehr schlimm war, aber halt auch daran, dass Schule für mich wirklich ein guter Ort war.

Ich will damit absolut nicht sagen, dass andere Erfahrungen falsch sind! So gehäuft, wie sie auftreten, ist ganz klar: Das Schulsystem denkt neurodivergente Menschen nicht mit. Ich möchte euch nur ein klitzekleines bisschen Hoffnung geben, dass Schule nicht schlimm sein muss, sondern auch gut sein kann.

Ich bin in den 1980er und 90er Jahren in Österreich zur Schule gegangen. Ich kann keine wirklichen Vergleiche zum deutschen Schulsystem – weder damals noch heute – ziehen und weder sagen, wie die rechtlichen, noch die tatsächlichen Voraussetzungen sind. Ich kann euch nur erzählen, was Schule für mich gut gemacht hat, und vielleicht bietet das ja Ansatzpunkte – für euch selbst, eure Kinder oder Pädagog*innen.

Die Grundschulzeit

Ich war immer ein „seltsames“ Kind. Schon im Kindergarten war ich anders und merkwürdig, aber die Erklärung dafür fand sich dann – scheinbar – durch die Scheidung meiner Eltern, wie ich fünf Jahre alt war: Ein zerrüttetes Elternhaus. Scheidungskind. Die Arme.

Dazu war ich dick und es erschien jedem ganz klar, dass mich andere Kinder deswegen aufzogen und verspotteten, oder dass ich – gerade im Turnunterricht – Dinge nicht konnte. Gleichzeitig konnte ich aber bereits zu Schulanfang lesen, merkte mir Lieder und Geschichten unheimlich schnell und war ungemein hilfsbereit – und dass, obwohl mir Kinder eher Angst machten und ich viel lieber in der Nähe Erwachsener blieb.

Ab der 2. Klasse hatte ich eine Lehrerin, die sich sehr um mich bemühte. Sie nahm sich im Turnunterricht Zeit, schirmte mich gefühlt von den anderen Kindern ab und ließ mich das, worin ich schlecht war, wieder und wieder probieren – sofern ich es wollte, denn es fühlte sich für mich nie wie Zwang an, sondern tatsächlich wie Unterstützung. In Mathe erkannte sie, wie leicht mir der Umgang mit Zahlen fiel und holte mich in die Förderstunden, die eigentlich für Kinder mit Schwierigkeiten in Mathe gedacht waren, für mich aber zusätzliche Aufgaben und Beschäftigung bedeuteten. Sie kümmerte sich viel darum, dass ich auch außerhalb der üblichen Schulzeiten Zeit an der Schule verbringen konnte und gab mir damit einen sicheren Platz, den ich zuhause nur sehr bedingt hatte.

Mit den anderen Kindern war alles deutlich schwieriger. Ich passte nicht dazu und das bekam ich Tag für Tag zu spüren. Es gab Tage, da versteckte ich mich unter meinem Tisch, weil alles zu viel für mich war und ich einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte – irgendwann warf ich sogar einen Atlas nach einem meiner Mitschüler, weil er einfach nicht aufhörte, mich zu verhöhnen. Besser wurde das für mich, als ein Junge in unsere Klasse kam, mit dem auch niemand etwas zu tun haben wollte, denn er war auf andere Art anders: Er kam nicht aus Österreich. Fortan war ich zumindest nicht mehr ganz alleine, sondern hatte so etwas wie einen Freund an meiner Seite.

Am Gymnasium

Meine Schulnoten waren in der gesamten Grundschulzeit ausgezeichnet und es war immer klar: Ich sollte aufs Gymnasium. Ich war dann auf drei verschiedenen Gymnasien, weil wir mehrfach umzogen und es ging mir dort unterschiedlich gut.

Mitschüler*innen waren immer ein Problem und ich hatte die meiste Zeit keine Freund*innen.

Meine Noten waren dafür großteils gut – ohne, dass ich je wirklich lernen musste -, ließen aber klar erkennen, wo ich mit meinen Lehrer*innen nicht gut klarkam, denn nichts beeinflusste mein Interesse, meine Mitarbeit und meine Leistung so sehr, wie die Lehrkraft, die das Fach unterrichtete. So schwankte ich durchaus 2 bis 3 Noten auf oder ab, je nachdem, wie gut die jeweilige Lehrkraft und ich miteinander klarkamen – nicht, weil sie mich unfair behandelt hätten, sondern weil mein Interesse schlagartig nachließ, wenn ich die Lehrkraft unangenehm fand und ich mich nicht mehr auf den Unterricht und die Themen konzentrieren konnte.

Die 5 besten Schuljahre überhaupt

Nach der 4. Klasse Gymnasium wechselte ich auf eine berufsbildende höhere Schule. In Österreich bedeutet das eine fünfjährige Schulzeit mit Elementen aus dem Gymnasium und berufsqualifizierenden Fächern, die mit einer Hochschulzugangsberechtigung (Matura/Abitur) und einem berufsqualifizierenden Abschluss einhergeht. Mein ursprünglicher Wunsch klappte nicht, dann zogen wir mal wieder um und am Ende landete ich – zu meinem großen Glück – an der Handelsakademie in einem kleinen Ort.

Handelsakademie (HAK) bedeutet, dass man nach 5 Jahren Schule neben der Hochschulzugangsberechtigung einen Abschluss als staatlich geprüfte*r Betriebswirt*in bekommt. Dafür gibt es dann Fächer wie kaufmännisches Rechnen, Rechnungswesen, Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, kaufmännische Software und 2 lebende Fremdsprachen – neben den „klassischen“ Fächern wie Deutsch, Biologie, Geografie usw.

Die Schule war klein, die fünfjährige Variante war erst im Schuljahr davor überhaupt eingeführt worden und wir waren alle zusammen gerade mal 200 Schüler*innen und vielleicht 20 Lehrer*innen. Ich habe es von Anfang an geliebt.

Ich weiß nicht, wie es kam, aber alle Lehrkräfte (bis auf eine bzw. später zwei), die ich dort hatte, waren für mich persönlich genau richtig.

Da war die Englischlehrerin, der Grammatik und Vokabeln zwar wirklich wichtig waren, für die es aber noch viel, viel wichtiger war, dass wir beides anwenden konnten. Wir führten viele Gespräche in ihrem Unterricht und ich lernte die meisten Vokabeln einfach über die Beschäftigung mit dem jeweils aktuellen Thema.

Da war die Rechnungswesen-Lehrerin, in deren Unterrichtsfach mein autistischer Kopf total glücklich war, weil es so viele klare Regeln und Strukturen gab, und die als erste erkannte, wie gut ich darin war, anderen Menschen etwas beizubringen. Sie empfahl mich den Eltern einer Mitschülerin als Nachhilfe und von dem Moment an gab ich nicht nur Nachhilfeunterricht, sondern hatte quasi auch die Erlaubnis in ihrem Unterricht meinen Mitschüler*innen Dinge zu erklären.

Da war die Lehrerin für kaufmännisches Rechnen, die es total okay fand, wenn ich die Aufgaben schneller durchrechnete als der Rest der Klasse und bei der ich dann eben lesen durfte, wenn ich nichts mehr zu tun hatte.

Da war der Betriebswirtschaftslehrer, der später auch Informatik unterrichtete, der von Jahr zu Jahr lockerer wurde und bei dem ich später auch während des Unterrichts anderen Dinge erklären durfte, was für mich definitiv eines der Dinge ist, die für mich und meinen persönlichen Wohlfühlfaktor am wichtigsten waren.

Womit ich nicht klarkam, das waren zwei Lehrkräfte, die einerseits zu wenig klar für mich waren, ständig Dinge anders erklärte oder bei denen ich einfach nicht wusste, woran ich war. Ganz besonders schlimm war für mich eine Lehrkraft die Regeln extrem genau befolgen wollte, allerdings nicht aus dem Bedürfnis und Verständnis heraus, dass Regeln wichtig sind, sondern aus der Angst davor, Fehler zu machen und vielleicht Ärger deswegen zu bekommen.

Ich verstehe dieses Verhalten heute durchaus, aber als Schülerin fand ich es sehr anstrengend – vor allem auch deshalb, weil ich bei vielen andern Lehrer*innen erlebte, dass es nicht darum ging, der „Obrigkeit“ gegenüber alles richtig zu machen, sondern es für uns als Schüler*innen richtig zu machen.

Für mich waren diese fünf Jahre die Zeit mit den größten Freiheiten und dem geringsten Druck zu Konformität. Ich saß in der ersten Reihe, genau vor dem Lehrer*innentisch (weil ich mich dort am wohlsten gefühlt habe) und habe im Unterricht Bücher gelesen, gezeichnet (Stimming) oder habe anderen Dinge erklärt. Ich habe mich dort frei gefühlt, so zu sein, wie ich bin, und habe für dieses Ich-Sein sogar noch Anerkennung bekommen.

Ich hatte zwar auch in dieser Zeit kaum Freund*innen – die meisten fanden mich einfach total seltsam -, aber doch ein paar Mitschülerinnen, mit denen ich ganz gut klarkam, wodurch Gruppenarbeiten einfacher wurden.

Fazit

Rückblickend glaube ich, dass das, was mir am meisten in meiner Schulzeit geholfen hat, Lehrer*innen waren, die bereit waren, sich auf mich einzulassen – auch, wenn es aus den „falschen“ Gründen war, weil ich (in der Grundschule) als Scheidungskind galt, mit dem man besonders sorgsam umgehen musste, dem man „merkwürdiges“ Verhalten oft nachsah, weil man die Scheidung als Grund dafür betrachtete und dem man dadurch einfach mehr Verständnis entgegengebracht hat.

Später war es dann ein überschaubares Umfeld, wenig Veränderungen an Menschen und Orten, das Anerkennen meiner „Eigenarten“ und zum Teil eben auch das bewusste Fördern dieser Eigenarten, weil Lehrkräfte erkannten, dass ich mit meinem Erklären etwas Gutes beizutragen hatte, auch wenn es so im Konzept Schule nicht vorgesehen war.

Ich habe 2000 mein Abi gemacht und mir ist klar, dass sich in diesen mehr als 20 Jahren vieles verändert hat und es heute deutlich mehr Regeln und Vorschriften gibt – und damit auch weniger Freiheiten, Energie und Raum, Dinge auf eine persönliche Art zu lösen. Dennoch glaube ich, dass Schule nicht automatisch furchtbar für neurodivergente Kinder sein muss – immerhin bringen neurodivergente Menschen viele positive Eigenschaften mit, auch für ein schulisches Umfeld!

Ich wünsche mir sehr, dass alle neurodivergenten Kindern so viel Glück mit ihren Lehrkräften haben, wie ich – und dass es vielleicht eines Tages kein Glück mehr ist, sondern Normalität. Schulzeit ist nie einfach, aber sie müsste deutlich weniger schlimm sein, als sie für viele von euch war und für eure Kinder heute ist.

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

Ich bin behindert

Ich bin behindert

3. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

CN: Ableismus

Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ich wusste das nicht und das klingt vielleicht seltsam, denn in den letzten Monaten habe ich gelernt, mich selbst so zu bezeichnen: Behindert.

Immer noch kämpfe ich damit, halte mich für die Selbstbezeichnung an manchen Tagen für arrogant und unverschämt, finde mich „nicht behindert genug“ und so, als würde ich übertreiben. Ich habe keine sichtbare Behinderung. Ich humple manchmal wegen meines Bandscheibenvorfalls, ja, aber sonst sieht man mir nicht an, was mich behindert macht – und selbst das Humpeln versuche ich zu vermeiden, denn: Es könnte ja wem auffallen.

Ich fühle mich privilegiert dadurch. Ich werde nicht wegen meiner Behinderung angestarrt, bekomme keine zu neugierigen Rückfragen, kann fast ganz unauffällig sein, wenn ich das möchte und selbst bestimmen, wofür ich auffallen will, wenn ich auffallen will. Kein Mensch nimmt mir diese Entscheidung einfach ab, weil ich körperlich anders wirke als er und er denkt, dass es dadurch zu meiner Pflicht wird, ihn darüber aufzuklären, warum ich denn so anders bin – also bis auf manchmal, wenn die Menschen denken, dass es sie etwas angeht, dass ich dick bin und doch ist das anders.

Wenn die liebe Freundin mir erzählt, dass sie schon wieder in der Bahn angestarrt wurde oder zu einer Veranstaltung nicht gehen möchte, weil sie nicht abschätzen kann, ob dort ihre Bedürfnisse mitgedacht werden, fühle ich zunächst Scham. Scham darüber, nicht daran gedacht zu haben und auch zu denen zu gehören, die sie nicht mitdenken – und dann fällt mir ein, dass ich zum Teil deswegen nicht bewusst daran denke, weil ich das, was sie erzählt, auch irgendwie kenne und als „normal“ empfinde.

Es ist anders bei mir und ich bin mir viel zu oft nicht bewusst, wo genau ihre Schwierigkeiten liegen, und doch gibt es Gemeinsamkeiten, ein ähnliches Erleben, ähnliche Kämpfe, ähnliches Verpassen und Vermeiden – all das, was Behinderung mit uns macht. Mit mir, mit der lieben Freundin und all den anderen Menschen, die auf die eine oder andere Art behindert sind.

Ich bin grundsätzlich ungern in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Es ist anstrengend, wenn viele Menschen um mich herum sind. Ihre Blicke machen mir Angst, ihr Gelächter und ihr Getuschel. Ich will auch nicht die vorwurfsvollen Mienen sehen, weil ich einen Sitzplatz nutze, obwohl ich dick bin. Lieber stehe ich, vor Schmerzen schwitzend, klammere mich an einen Haltegriff und konzentriere mich auf meinen Atem, immer voller Angst, dass die Schwärze vor meinen Augen mich doch noch umwerfen könnte.

Aber ich muss mir zumindest keine Gedanken darüber machen, ob ich das Verkehrsmittel überhaupt betreten werde können…

Letztens wollte ich einen Workshop besuchen. Weidenflechten. Ich habe mich nicht einmal getraut, mich anzumelden, denn neben der Tatsache, dass fremde Menschen immer schwierig für mich sind und ich in sozialen Situationen große Probleme habe, war mir auch nicht klar, wie ich das machen sollte, dort mehrere Stunden eine körperliche Tätigkeit zu verrichten. Ich bräuchte wahrscheinlich alle 30 Minuten eine Pause, müsste mich hinlegen, weil ich mit Schwindel und Schmerzen zu kämpfen habe und würde den ganzen Workshop aufhalten, weil ich… behindert bin. Aber naja, dann besuche ich den Workshop eben nicht, macht ja nichts.

Und doch: Es MACHT was!

Es macht was mit mir, dass ich nicht einfach so mit einem Bus fahren kann, dass ich nicht einfach so zu einem Vortrag oder einem Workshop gehen kann, dass ich nicht einfach so an unbekannte Plätze gehe, weil ich nicht weiß, was mich dort erwartet und ob ich dort klarkommen werde, ob die Menschen dort Masken tragen werden und auf Abstand achten werden. Es macht etwas mit mir, dass ich mir vor jeder noch so kleinen Unternehmung überlegen muss, ob sie für mich geeignet sein wird, oder ich mich zumindest so weit anpassen können werde, dass ich sie durchhalten kann. Ob sie dann noch Spaß macht, mal vollkommen dahingestellt.

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, einfach irgendwo hinzufahren, eine Reise zu buchen, an einer Veranstaltung teilzunehmen oder einen Ausflug zu machen. Ja, das ist bei mir aus anderen Gründen als bei jemandem, dessen Rollstuhl oder Sehbehinderung mitbedacht werden muss, aber am Ende bin ich dennoch behindert.

Ich muss immer meinen körperlichen und psychischen Zustand mitbedenken, meine Energie, meine Aufgaben für die nächsten Tage und Wochen, meine Leidensfähigkeit, meine sozialen Fähigkeiten, mein Durchhaltevermögen, auch in Bezug auf Reize und Menschen. Ich muss Wochen im Voraus planen – und gleichzeitig immer bereit sein, im letzten Moment die Pläne umzuwerfen, weil es dann doch nicht geht.

Sind andere Menschen involviert, meide ich Pläne dann oft komplett. Ich möchte nicht ständig im letzten Moment absagen, will nicht, dass andere auf mich Rücksicht nehmen müssen, möchte ihnen nicht das Gefühl verleihen, dass sie mir nicht so wichtig sind, dass ich mich nicht einfach „ein bisschen zusammenreiße“. Wie sollte ich ihnen auch erklären, dass es eben nicht „ein bisschen zusammenreißen“ ist, sondern weit über meine Grenzen gehen, tagelang NICHTS mehr machen können und zwar wirklich nichts. Gar nichts.

„Nichts machen“ bedeutet für andere Menschen, dass sie nichts „Sinnvolles“ machen. Sie lesen dann vielleicht, basteln, backen, schauen fern, treffen sich mit Freund*innen. „Nichts“. Mein Nichts bedeutet, dass ich auf der Couch liege und mich mit Instagram-Reels ablenke, weil alles, was darüber hinausgeht, zu anstrengend ist. Mein Nichts bedeutet, dass ich nicht mit Menschen kommunizieren kann, nicht kochen kann, nicht basteln kann, keine Hörbücher hören – geschweige denn lesen – kann, nicht einkaufen kann, ja noch nicht mal rausgehen kann. Mein Nichts bedeutet NICHTS und mein Nichts ist die Folge von dem, was für andere Menschen ganz normale, alltägliche Dinge sind!

Ich bin behindert.

Immer noch bin ich erst am Anfang davon, das für mich als wahr zu verstehen, zu begreifen, dass behindert eben nicht nur das ist, was wir sehen, sondern all das, was uns das Leben so viel schwerer macht als den meisten und was wir meistens überspielen, um für andere nicht zu anstrengend zu sein.

Immer noch bin ich erst dabei, mir selbst klarzumachen, dass auch ich behindert bin: Ohne sichtbare Behinderung, ohne die spezifischen Probleme, die aus diesen Behinderungen entstehen, aber durch andere Behinderungen und deren Folgen.

Ich bin behindert und der 3. Dezember ist auch mein Tag.

Wir und die anderen

Wir und die anderen

27. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

CN: Klassismus, Fettfeindlichkeit, Ableismus

Unser Adventskranz sieht fast so aus wie letztes Jahr. Es ist ein alter Spiegel, dessen Rahmen ich weiß gestrichen habe und den ich als Unterlage verwende. Darauf kommen von mir gefaltete Fröbelsterne – um die Weihnachtszeit bekomme ich immer Lust auf Papierfalten -, eine Lichterkette, Glasnuggets, metallene Kugeln und schwarz-weiße Kugeln, Zuckerstangen und natürlich Kerzen. Große, rote Kerzen.

Die Kerzen vom letzten Jahr waren – wie das halt oft so mit Adventskranz-Kerzen ist – nicht komplett heruntergebrannt und natürlich zu schade zum Wegwerfen und ich hatte im Januar noch gedacht: „Ich lasse sie einfach draußen und dann können wir sie immer wieder anzünden, bis sie heruntergebrannt sind. Das wird schön.“ Ich habe sie nie angezündet. Nach Weihnachten sind Kerzen irgendwie egal und so standen sie zwar herum und waren ein hübscher Farbtupfer, aber sie waren eben immer noch nicht heruntergebrannt und wegwerfen wollte ich sie nach wie vor nicht.

Wie ich dann den diesjährigen Adventskranz zusammenbaute, stellte ich die alten Kerzen darauf – frische hatte ich gerade nicht und ohne Kerzen sah er so kahl aus – und witzelte, dass ich doch eigentlich die Kerzen wiederverwenden könnte. War es wirklich ein Witz? Ich kann es bis heute nicht sagen, denn einerseits finde ich den Gedanken, die Kerzen eben tatsächlich „aufzubrauchen“ total gut, andererseits macht er mir aber Angst.

Ein Adventskranz mit bereits angebrannten Kerzen! „Das geht doch nicht“, ruft eine Stimme in mir ganz laut. Es ist die Stimme meiner Mutter, die Stimme, die immer unheimlich viel Wert daraufgelegt hat, nicht „so“ zu sein. „So“, das waren Menschen, die kein Geld hatten, Menschen, die dick waren, Menschen, die anders waren als die meisten. „So“, das waren die Menschen, die wir waren.

Wir hatten wenig Geld in meiner Kindheit und Jugend, oder nein, wir hatten phasenweise gefühlt viel Geld und im nächsten Moment überhaupt keines. Ich erinnere mich noch daran, als es hieß, jeder von uns dürfe sich zu Weihnachten Geschenke im Wert von (umgerechnet) 200 Euro aussuchen! 200 Euro! Ich wusste überhaupt nicht, was ich mir von so viel Geld wünschen sollte! Am Ende gab es aber zu Weihnachten sowieso nichts von dem Gewünschten, denn das Geld, von dem es die Weihnachtsgeschenke geben sollte, gab es am Ende nämlich auch nicht.

So war das häufig. Geld – oder etwas, das man mit Geld kaufen konnte – wurde in Aussicht gestellt und am Ende gab es nichts davon und es wurde vielleicht sogar der Strom oder das Telefon abgestellt, weil auch dafür das Geld nicht dagewesen war. War es nie da oder zerrann es meinen Eltern einfach in den Händen? Ich kann es nicht sagen. Die Erinnerung an meine Kindheit und Jugend ist aber geprägt von dem ständigen Gefühl, bloß nichts kaputtzumachen, bloß nichts zu verlieren, bloß keine Kosten zu verursachen – aber immer so, dass es nach außen nicht auffiel.

Als ich bei der Planung für einen Schulausflug angab, nicht mitfahren zu können, weil wir das Geld dafür nicht hatten – was stimmte – und ein Fonds der Schule die Kosten übernehmen wollte, gab es zuhause unheimlichen Ärger: Wie hatte ich sagen können, dass wir kein Geld hätten?! Wir hatten kein Geld. Aber das sollte niemand wissen.

Wie oft ging ich mit Hosen in die Schule, deren Oberschenkel-Innenseiten Löcher hatten und verdeckte das mit langen Shirts und Pullovern, damit es niemand merkte, hatte Angst davor, mich im Turnunterricht umzuziehen, weil es da ja wem auffallen hätte können, ignorierte die von den Stoffrändern wundgescheuerte Haut. Damit es niemand merkte. Damit niemand wusste, dass wir uns keine neuen Hosen für mich leisten konnte. Damit niemand wusste, dass ich meine Hosen durchscheuerte, weil ich dick war. Denn auch das hatte ich nicht zu sein.

Also grundsätzlich natürlich nicht dick, aber das war ja schwer zu übersehen, aber dann doch zumindest niemand von „diesen“ Dicken. Denen, die „nicht ordentlich“ angezogen waren. Denen, die faul waren. Denen, die in der Öffentlichkeit aßen. So waren wir nicht! Nein, nein.

Wir waren auch nicht die, die mit Plastiktüten herumliefen, denn Plastiktüten, die verwendeten nur „die anderen“, die GANZ schlechten Menschen, die, auf die wir irgendwie herabsehen konnten, weil doch ohnedies alle auf uns herabsahen. Aber darin, in diesen Plastiktüten, in diesem Vorgeben, Geld zu haben, das wir gar nicht hatten, in der „guten“ Kleidung… darin lag das, was uns zu unterscheiden schien, das, was uns zu „besseren“, „wertvolleren“ Menschen machte. Oder wovon wir es zumindest glauben wollten.

Es gab viele dieser „das macht uns besser“-Dinge. Rucksäcke auf beiden Schultern tragen. Niemals geflickte Sachen tragen. Keine gebrauchten Dinge annehmen. Nichts Gestricktes anziehen. Nichts Selbstgemachtes verschenken. Immer „ordentliche“ Kleidung tragen. Keine bunten Fingernägel. Keine Tattoos. Kein Fast Food in der Öffentlichkeit. Keine Süßigkeiten. Am besten gar nichts essen. Nicht laut atmen. Nicht schnaufen. Nicht weinen. Nicht rot werden. Nicht um Hilfe fragen. Nicht den Eindruck erwecken, Hilfe zu brauchen.

Die Liste ist endlos und vieles ist mir bis heute gar nicht bewusst, sondern einfach nur ein fest integriertes „SO macht man das“, das ganz automatisch abläuft und bei dem sich alles in mir sträubt, ich Magenschmerzen bekomme, Angst, Panik… „Ich bin nicht SO“, möchte ich dann schreien, „Ich bin eine von den Guten!“

Ich weiß heute, wie schlimm diese Denkweise ist. Wie verletzend. Wie herablassend. Wie klassistisch. wie ableistisch. Und ich muss jedes Mal wieder dagegen ankämpfen, denn diese automatische Abgrenzung von denen, die ich irgendwie als „schlechter als ich“ sehen kann, steckt tief.

Bis heute sehe ich auf Menschen herab, die im Jogginganzug einkaufen. „Das macht man doch nicht“, denke ich ganz automatisch – und dann rufe ich mich zurück. Bis heute denke ich mir: „Puh, zum Glück bin ich nicht SO!“ und schaue schnell weg, wenn Menschen in der Öffentlichkeit schwanken, stolpern, stürzen – immer verbunden mit der Scham über den Tag, als ich selbst gestürzt bin und mich Menschen auslachten: „Ha ha, die Dicke kann nicht mal laufen!“ Wie peinlich! Ich war „SO eine“!

Ich kämpfe damit, dass ich körperliche Beschwerden habe, die man mir anmerken könnte, weil ich eben schwanke oder stolpere, weil ich eine Pause brauchen könnte, weil ich nicht mehr klar sehen kann vor Schmerzen. Ich kämpfe damit, den guten Schein nicht mehr aufrecht erhalten zu können und endgültig jemand von „denen“ zu sein, jenen, die ich gelernt habe, zu verachten, denn wenn du nichts hast, hast du doch immer noch deinen Stolz, nicht wahr?

Ich verrate euch was: Stolz ist Mist.

Ich bin keinen Deut besser als irgendjemand. Es macht mich nicht besser, dass ich Schuhe mit Schnürsenkeln, statt welche mit Klettverschluss trage, dass ich meine Einkäufe in einem hübschen Queerdinx-Stoffbeutel statt einer Plastiktüte nach Hause trage, dass ich eine Treppe nehme statt dem Aufzug – oder dann halt doch den Aufzug, weil ich mich ganz fest zusammenreiße und an mich und meine Gesundheit denke und nicht daran, ob ich jetzt jemand von „denen“ oder „denen“ oder „denen“ sein könnte.

Es macht niemanden besser einer Erwerbsarbeit nachzugehen, nicht krank zu sein, Kinder zu haben, nur nachhaltige Kleidung zu kaufen, vegan zu leben, auf Konsum verzichten zu können, weiß zu sein, dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zu entsprechen, die „richtigen“ Sprachen zu beherrschen, mit christlichen Bräuchen aufgewachsen zu sein, ein Dach über dem Kopf zu haben oder nicht auf Medikamente angewiesen zu sein.

Wir sind auf so viele Dinge stolz, weil sie uns vermeintlich zu besseren Menschen machen, uns abgrenzen und „nicht SO“ sein lassen, doch in Wirklichkeit tun sie überhaupt nichts davon. Sie SIND einfach nur. Wir SIND einfach nur. Vollkommen egal, wie sehr wir uns an alle Regeln halten – oder an gar keine -, wie sehr wir uns anpassen, ändern, bemühen, abmühen… wir sind trotzdem kein bisschen besser als jemand, der das alles nicht kann oder nicht will.

Egal, wie viele internalisierte -ismen – Klassismus, Ableismus, Rassismus… – uns weismachen wollen, dass und wofür wir besser sind: Wir sind es nicht.

Wir sind genauso gut, genauso wertvoll wie der Mensch, den wir am meisten verachten.

Das heißt nicht, dass wir uns ab sofort alle verachten sollen – wir sollten nur anfangen, diese Dynamiken wahrzunehmen, unseren internalisierten Rassismus, Klassismus, Ableismus, Sexismus usw. zu erkennen und gegen sie anzuarbeiten.

Auch wenn es manchmal nur so eine Kleinigkeit ist, wie die alten Adventskranz-Kerzen im nächsten Jahr wieder zu verwenden – weil wir es wollen und nicht, weil wir dadurch zu besseren oder schlechteren Menschen werden.

Nein, das ist nicht egal.

Nein, das ist nicht egal.

25. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

„Da traut man sich ja gar nichts mehr schreiben!“ In letzter Zeit lese ich immer wieder, dass die neurodivergente Community so ausschließend und besserwisserisch wäre, so empfindlich auf falsche Begriffe reagieren würde (z.B. „neurodivers“ statt „neurodivergent“) und sich Neulinge ja gar nichts schreiben trauen würden aus Angst, von irgendjemandem verbal angefahren zu werden.

Ich verstehe diese Angst. Mir geht das in neuen Räumen eigentlich immer so, dass ich mich erstmal nichts sagen traue, wochen-, ja manchmal monatelang nur mitlese, bis ich endlich den Mut fasse, auch selbst etwas zu schreiben. In allen neuen Räumen (und übrigens am stärksten in neurotypischen). Da spielt sehr stark meine Angst vor Zurückweisung hinein, mein Wunsch, niemanden zu verletzen, vielleicht auch ein gewisser Perfektionismus, aber halt auch meine Liebe zur Sprache und zur richtigen Verwendung von Begriffen.

Begriffe sind bedeutsam. Für uns neurodivergente Menschen vielleicht sogar noch mehr als an anderen Stellen.

Für viele von uns ist es wichtig, den Inhalt einer Aussage wirklich, wirklich, wirklich richtig zu verstehen. Wir sind es gewohnt, nicht immer alles so zu verstehen, wie es gemeint ist und dann deswegen anzuecken. Nur wie es denn etwas gemeint? Wie erfasst man das?

Mein Gehirn bleibt manchmal stecken, wenn ein Satz mehrdeutig – oder zumindest nicht absolut eindeutig – ist. Es versucht dann, jede mögliche Bedeutung des Satzes zu verstehen und abzuwägen, welche der*die Sprecher*in denn genau gemeint haben könnte. Oft klappt das nicht, weil es einfach viel zu viele Möglichkeiten gibt, wie ein einzelner Satz gemeint sein könnte und die tatsächliche Bedeutung lässt sich dann eben nur deuten. Richtige, eindeutige Begriffe helfen da.

Deswegen sind auch Redewendungen und Metaphern vor allem für Autist*innen manchmal schwierig. Wir versuchen nämlich, sie absolut richtig zu verstehen. Redewendungen, die wir nicht kennen, sind dann erstmal verwirrend, denn wir erkennen vielleicht noch nicht einmal, dass es eine Redewendung ist, versuchen, das Gesagte wörtlich zu verstehen und stolpern darüber, dass es wortwörtlich einfach keinen Sinn ergibt. Das wird im Laufe der Jahre oft besser, weil wir immer mehr Redewendungen kennen und sie oft ja auch selbst verwenden – noch mehr, wenn Sprache ein Spezialinteresse ist.

Was aber bleibt ist eine gewisse Unsicherheit an vielen Stellen.

Vielleicht kennst du das, wenn jemand zu dir sagt „Wir treffen uns nächstes Wochenende.“ und du fragst dich: „Ist das in 3 Tagen oder in 10?“ „Nächstes Wochenende“ ist nicht so eindeutig, wie wir oft denken und bei unseren Gesprächspartner*innen lösen wir dann damit Verwirrung aus. Nach einem kurzen peinlichen Moment suchen wir nach besseren Erklärungen und legen uns vielleicht auf ein genaues Datum fest, um alle Missverständnisse zu vermeiden.

Viele Autist*innen lieben es, sich möglichst genau auszudrücken. Wir „oversharen“, wir verwenden Klammern und Gedankenstriche, Fußnoten und Einschübe, denn wir wollen das, was wir von uns geben, so unmissverständlich wie nur irgendwie möglich machen. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten auch immer noch dazu schreiben, in welcher Verfassung ich einen Text gerade verfasst habe, nur damit auch ganz sicher klar ist, wie etwas gemeint ist. Wäre es trotzdem nicht, also kann ich mich bremsen.

Für uns sind genaue Begriffe also tatsächlich wichtig. Sie helfen uns, Klarheit herzustellen und Unsicherheiten zu vermeiden.

Und ja, manchmal sind wir auch ein bisschen besserwisserisch und wollen, dass du den richtigen Begriff verwendest, selbst wenn wir dich auch sonst verstehen. Für mich fühlt es sich nach Wertschätzung an, wenn du dich um die richtigen Begriffe bemühst und im Gegenzug fühle ich mich oft nicht respektiert, wenn dir Begriffe, die für mein Leben wichtig sind, egal sind. Zusätzlich kann ein „neurodivers“ statt „neurodivergent“ bei mir tatsächlich dazu führen, dass ich auf etwas nicht reagieren kann – nicht, um dir eine Lektion zu erteilen, sondern weil mein Gehirn quasi einen Kurzschluss hat und nicht mehr korrekt funktioniert. Ja, wegen einer Kleinigkeit wie einem falschen Wort! Ich bin Autistin. Mein Kopf funktioniert eben so.

Was auch noch eine Rolle bei unserer „Pingeligkeit“ in Bezug auf Begriffe spielt: Viele Autist*innen legen sehr großen Wert auf Regeln. Richtige Begriffe fühlen sich für mich durchaus wie eine Regel an und verwendest du den falschen Begriff, brichst du quasi die geltende Regel und ich winde mich innerlich, weil ich natürlich weiß, dass das keine große, wichtige Regel ist, aber sie sich für mich an dieser Stelle wichtig anfühlt, weil sie „richtig“ von „falsch“ trennt.

Ich verstehe, dass all das dazu führen kann, dass neurodivergente Communities sich beängstigend anfühlen, wenn man das erste Mal mit ihnen in Kontakt kommt. Ich verstehe auch, dass es problematisch ist, so viel Wert auf Begriffe zu legen, die man ja erstmal kennen und lernen muss. Und ja, wir reagieren nicht immer lieb und geduldig, sondern sind auch mal genervt und haben keine Lust, zu erklären, warum der von dir verwendete Begriff falsch ist. Das ist menschlich. Genauso wie es menschlich ist, wenn du einen falschen Begriff verwendest.

Ich nehme es dir nicht übel, wenn du das machst – auch, wenn du dadurch einen inneren Konflikt oder einen Kurzschluss in mir auslöst -, aber wenn ich oder ein anderer neurodivergenter Mensch mal nicht geduldig mit dir ist, denke bitte daran, dass du in unseren Raum kommst und wir diejenigen sind, die dort sie selbst sein können sollten.

Das bedeutet nicht, dass du keine Fehler machen darfst. Aber so, wie du vielleicht von uns erwartest, dass wir dir deine Fehler nachsehen, erwarte ich auch von dir, dass du uns so nimmst, wie wir sind: Autistisch.

Let’s talk about: PMDS – Prämenstruelle dysphorische Störung

Let’s talk about: PMDS – Prämenstruelle dysphorische Störung

13. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

In der Nacht wache ich auf. Alles ist dunkel. Ich bekomme Angst. Ich taste nach dem Ehemann. Ist er noch da? Ich berühre seinen Körper. Bin für einen Moment beruhigt, doch dann der nächste Schreckmoment. Ich lausche. Versuche, seinen Atem wahrzunehmen, denn ich habe unendliche Angst, Angst, dass er vielleicht nicht mehr da ist.

Jahrelang war diese Angst mein Begleiter. Viele, viele Nächte bin ich aufgewacht, hatte Angst, dass mein Kater gestorben sein könnte, mein Ehemann, ein Freund. Und nicht nur davor: Ich hatte immer wieder unbeschreibliche Angst vor allen möglichen Dingen. Ohne Grund. Von einem Moment auf den anderen. Es gab keinen Auslöser, keine Erfahrung. Es gab einfach nur diese Angst.

Dazu immer wieder intensive depressive Phasen. Phasen, in denen ich das Gefühl hatte, von der Unerträglichkeit der Welt erdrückt zu werden, nicht mehr atmen zu können, nicht mehr atmen zu wollen. Phasen, in denen alles schon in Gedanken zu viel war, in denen ich mich tagsüber wieder und wieder in den Schlaf geflüchtet habe, weil Wach-sein eine Qual war und Schlaf das einzige Entkommen war.

Depression. Angststörung.

Ich arbeitete daran. Trainierte Skills. Suchte Hilfsmittel. Aber nichts half gegen diese Wellen an psychischem Chaos in mir. Sie kamen und sie gingen. Unvorhersehbar. Unbeherrschbar. Und die Angst vor dieser Willkür war fast noch größer als die Angst vor den Phasen selbst.

Bis mir irgendwann auffiel, dass es gar nicht willkürlich war.

Zuerst wurde mir bewusst, dass die Angst immer in Phasen kam, in denen ich ganz furchtbar leicht wütend wurde. Phasen, die ich bereits mit meinem Zyklus verband – PMS! Und tatsächlich, die Angst kam immer einige Tage vor dem Einsetzen meiner Periode auf und hatte die Depression im Schlepptau. Manchmal nur 3 oder 4 Tage vorher, manchmal auch 10 oder 12, aber immer verschwanden beide am 1. oder spätestens am 2. Zyklustag wieder – komplett und ohne, dass ich irgendetwas dagegen getan hätte.

Was ich für willkürlich hielt, richtete sich in Wirklichkeit nach meinem Körper!

Mir glaubte das damals niemand. Es wurde als Einbildung abgetan. Ich hatte ja offensichtlich psychische Probleme, also war ich doch ganz offensichtlich nicht zurechnungsfähig und außerdem war ich ja keine Fachperson, also hatte ich auch ganz sicher keine Ahnung.

Hatte ich aber sehr wohl. Ich beobachtete mich ja. Ich erlebte, was da in mir abging und wann und auch, wie es wie von Zauberhand einfach wieder verschwand! Und doch war ich es so gewohnt, Fachleuten zu vertrauen, dass ich ihnen glaubte! Ich glaubte ihnen, dass ich mir das alles einbildete! Ich glaubte ihnen, dass ich keine Ahnung von meinem eigenen Körper hatte! Ich glaubte ihnen, dass ich gar keine Hilfe bräuchte…

… bis ich so verzweifelt war, weil mich Angst und Depression mal wieder so unbarmherzig überrannten, dass ich im Internet nach meinen Problemen suchte. Das, was doch nur ganz, ganz schreckliche Patient*innen machen und was man besser keinem Arzt und keiner Ärztin verrät. Ich verriet es auch nicht, aber ich suchte dennoch danach.

Das Internet erzählte mir dann das erste Mal etwas von PMDD: Premenstrual dysphoric disorder (zu Deutsch: PMDS – Prämenstruelle dysphorische Störung).

Die Zusammenfassung ist oft „PMS nur schlimmer“ und das trifft es durchaus, aber das Ausmaß des „schlimmer“ ist doch… unerwartet. Mit PMS verbindet man vor allem „schlechte Laune“, „Gereiztheit“ und ein paar körperliche Dinge, wie spannende Brüste oder Pickel. „Schlimmer“ klingt also mehr nach „das alles, aber halt ein bisschen stärker“.

In Wirklichkeit umfasst das „schlimmer“ bei PMDS aber teils deutlich mehr und vor allem auch in sehr starker Ausprägung.

Psychisch finden wir da:

  • Nervosität
  • Unruhe
  • Schlaflosigkeit
  • Angstzustände
  • Verwirrung
  • Vergesslichkeit
  • Paranoia
  • Erschöpfungszustände
  • Depressionen
  • und einiges mehr…

Und auch physisch ist die Liste lang, umfasst natürlich die „normalen“ PMS-Symptome, geht aber darüber hinaus und beinhaltet auch neurologische Probleme. Auf der Webseite von John Hopkins Medicine gibt es zum Beispiel eine ausführliche (englischsprachige) Auflistung an Symptomen.

Meine Einbildung war also doch keine Einbildung, nur das Wissen über meine angeblich eingebildeten Probleme war bei meinen Ärzt*innen einfach nicht präsent genug!

Wenn ich mich heute im deutschsprachigen Internet umschaue, ist das Wissen um PMDS zum Glück endlich deutlich verbreiteter.

In den USA ist PMDD seit 2013 eine offizielle Diagnose und in Deutschland wird es das zukünftig auch endlich sein, denn die ICD-11, die (irgendwann) in den nächsten Jahren auch in Deutschland eingeführt werden wird, enthält mit GA34.41 tatsächlich einen Diagnoseschlüssel für PMDS!

Das ganze Thema wird endlich bekannter! Es gibt Forschung in dem Bereich und es wird inzwischen vermutet, dass das in der 2. Zyklushälfte gebildete Progesteron vom Körper „falsch“ verarbeitet wird und es darüber hinaus Abweichungen im Serotoninhaushalt gibt. Und sogar Medikamente sollen speziell für PMDS entwickelt werden.

Noch sieht es allerdings so aus, dass die einen versuchen, ihre menstruierenden Patient*innen zu „stressreduzierendem Verhalten“ zu bringen und empfehlen ihnen entsprechend Entspannungsübungen (schon wieder…) und ruhigen Sport, während die anderen mit der Unterdrückung des Zyklus durch die dauerhafte Einnahme der Pille arbeiten oder versuchen, die schlimmsten Symptome mit der Gabe von Antidepressiva – entweder dauerhaft oder punktuell – zu verbessern.

Und die dritten – wie mein letzter Gynäkologe – arbeiten mit pflanzlichen Mitteln. So empfahl er mir hochdosiertes Johanniskraut und Mönchspfeffer und das nehme ich jetzt seit einigen Jahren. Tatsächlich reduzieren sie meine Probleme deutlich – wenn auch nicht perfekt, denn diesen Text schreibe ich, weil die nächtliche Angst wieder zu Besuch war. Aber eben doch so gut, dass ich damit klarkomme.

Nachdem ich heute aber doch mal wieder nach dem aktuellen Kenntnisstand recherchiert habe, werde ich vielleicht nächstes Jahr mal die Suche nach einer neuen gynäkologischen Fachperson in Angriff nehmen und schauen, wie weit das Wissen um das Vorhandensein und die Behandlung von PMDS bis dahin vorangekommen sind und davor für eine Weile ein Zyklus-Tagebuch führen – oder es zumindest versuchen, denn mit ADHS ist das ja nicht immer so einfach.

Was ich dir mitgeben mag: Auch wenn dir vielleicht gerade niemand glaubt, dass du Probleme hast, lass‘ dir nicht einreden, dass du sie dir nur einbildest! Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Probleme einfach nur noch nicht bekannt genug sind ist deutlich höher als die, dass du sie dir tatsächlich nur einbildest.

Medizin und Psychologie entwickeln sich und werden das vermutlich bis in alle Ewigkeiten so machen. Wir müssen uns alle – Fachkräfte, Patient*innen, Angehörige…. – bewusst machen, dass das heutige Fachwissen bei weitem nicht komplett ist und „Einbildung“ die falsche Antwort auf ein Problem ist.

Stress ist kein individuelles Problem

Stress ist kein individuelles Problem

8. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 2 comments

Gehe ich zu Ärzt*innen und erzähle von meinen körperlichen Problemen, taucht früher oder später die Frage auf: „Sind Sie oft gestresst?“ Früher fand ich die Frage immer unangenehm, denn Stress, das war das, was Menschen haben, die beruflich stark eingespannt sind und ich, die gerade mal ein paar Stunden die Woche erwerbsarbeitete – und noch nicht mal auf einer „wichtigen“ Position -, ich konnte doch nicht gestresst sein.

Ich spürte aber, dass die erwartete Antwort ein „Ja“ war- weil es Probleme erklären würde, weil man nicht weiter nach der Ursache suchen würde müssen, weil es doch eine einfache Lösung gab: „Sie sollten mal Entspannungsübungen probieren!“ Also sagte ich brav „Ja“, mir wurden die Entspannungsübungen empfohlen und ich wurde nach Hause geschickt. Problem gelöst! Patientin muss sich einfach besser um sich kümmern.

Irgendwann kam ich zumindest zu dem Punkt, zu realisieren, dass mein Stress nicht von meiner Arbeits- oder Nicht-Arbeits-Situation abhing, sondern von ganz anderen Faktoren. Ich hatte einen Ärzt*innen-Termin? Ich war schon Tage vorher unbeschreiblich im Stress. Ich sollte Formulare ausfüllen? Stress! Ein Handwerker musste in die Wohnung? Stress! Ich lese Nachrichten? Stress! Stress! Stress!

Natürlich war das alles nur meine Schuld, denn ICH reagierte ja so gestresst, dafür kann doch niemand was und sowieso: Alle anderen gehen ja auch zu Ärzt*innen, füllen Formulare aus und informieren sich über das Weltgeschehen… wahrscheinlich sind sie einfach viel besser in ihrem Stressmanagement, machen öfter Entspannungsübungen und wissen einfach, wie man mit stressigen Situationen umgeht. Ich musste das einfach auch lernen!

Ich habe Unmengen an Entspannungsübungen ausprobiert, habe Achtsamkeitstraining gemacht, meditiert, Tiefenentspannung und Atemübungen getestet. Manches mochte ich nicht, anderes gefiel mir sehr, einiges habe ich über Monate hinweg tatsächlich täglich gemacht, bei anderem war ich eher noch gestresster und ließ es daher schnell wieder sein. Wieder anderes mache ich immer noch – in abgewandelter Form oder in bestimmten Situationen. Alles in allem also: Ja, Entspannungsübungen sind wirklich nicht schlecht.

Was sie allerdings alle nicht bewirkt haben: Eine dauerhafte Stressreduktion. Die Tage im Jahr, an denen meine Smartwatch mir attestiert, dass ich entspannt gewesen wäre, lassen sich an einer Hand abzählen. Die meiste Zeit teilt sie mir lapidar mit, dass ich zu gestresst wäre und dauerhafter Stress würde zu Erschöpfung führen. Ach? Wäre mir ja nie aufgefallen… /j (Tonindikator: joking)

Vor ein paar Monaten erst war es mal wieder so schlimm mit mir und dem Stress, dass ich erneut einen Entspannungskurs probierte – irgendwann musste ich doch endlich lernen, entspannt zu sein! Es war ein Audiokurs und der Sprecher ging mir vom ersten Moment an auf die Nerven, wie er da mit salbungsvoller Stimme erklärte, was ich bisher alles falsch machte, denn für ihn war klar: Zu wenig Achtsamkeit war der Schlüssel aller Probleme, wir müssten öfter über unsere Handlungen nachdenken, sie bewusster durchführen und schon wäre der Stress verschwunden.

Versteht mich nicht falsch: Ich bin sehr dafür, Dinge bewusst zu tun und ich nutze tatsächlich ein paar Achtsamkeitsübungen in meinem Alltag, aber Handlungen bewusst durchzuführen IST mein Alltag. Ich denke ständig über alles nach und mir zu sagen, dass es ein Fehler wäre, ganz unterbewusst Zähne zu putzen und nicht über die einzelnen Handlungsschritte nachzudenken, ist eher sinnlos, denn ich würde mir sehnlichst wünschen, unterbewusst Zähneputzen zu können und nicht jeden Tag wieder damit zu kämpfen, weil mein Kopf die einzelnen Schritte sortieren muss. Leider fühlt es sich nicht nach Achtsamkeit und Stressreduktion an, sondern nach Kampf und Stress.

Ich tröstete mich damit, dass dieser Entspannungskurs halt einfach nicht der richtige für mich war und beschloss, es mit Tiefenentspannung zu probieren. Das fand ich sehr angenehm, übte auch fleißig und vertraute auf das Versprechen: „Üben Sie regelmäßig und sie werden deutlich entspannter und gesünder durchs Leben gehen!“

Dann passierte irgendwas, weil ja immer irgendwas passiert – wir müssen nur morgens einen Blick auf die Nachrichten werfen und schon ist klar, dass ein neues Irgendwas passiert ist und es Stress bedeutet. Mal mehr Stress und mal weniger, mal nur kurzfristig und mal für eine nicht absehbare Zeit, aber Stress ist immer irgendwo in diesen Irgendwassen versteckt und entsprechend war ich also doch wieder gestresst, Tiefenentspannung hin oder her.

Ja, natürlich ist es meine Reaktion auf Nachrichten, meine Angst vor Ärzt*innen, meine Panik vor Formularen, mein Unwohlsein gegenüber fremden Menschen, aber das macht meinen Stress nicht zu einem individuellen Problem und von mir zu verlangen, dass ich eben stressresistenter werden müsse, ist nicht die Lösung.

Das Weltgeschehen IST Stress. Kriege, Klima, Menschenrechtslage… die Liste ist endlos und die Lage IST schrecklich. Ich kann mir nicht gleichzeitig der Tatsache bewusst sein, dass es weltweit riesengroße Probleme gibt und gleichzeitig NICHT gestresst davon sein. Es geht einfach nicht! Das ist, als würde ich ganz gechillt auf einem Bahngleis Tee trinken und der Zug würde auf mich zurasen, lautstark hupen, die Gleise würden immer lauter und lauter summen und vibrieren, aber ich würde lieber erstmal in Ruhe meinen Tee austrinken, bevor ich akzeptiere, dass der Zug überhaupt auf diesem Gleis ist!

Wir sind nicht gestresst, weil wir nicht stressresistent genug wären. Wir sind gestresst, weil wir erkannt haben, dass es GRUND gibt, um gestresst zu sein!

Genauso wenig habe ich grundlos Angst vor Ärzt*innen. Meine Erfahrungen sagen, dass jeder einzelne Besuch bei einer medizinischen Fachperson zu einem schlimmen Erlebnis führen kann und ich am Ende wochenlang damit kämpfen werden müssen. Nicht, weil ich nicht stressresistent wäre, sondern weil mich die Person, der ich vertrauen soll, der ich meine Probleme schildern und bei der ich um Hilfe bitten soll, schlichtweg nicht gut behandelt! Ich bin gestresst, weil viel zu viele Ärzt*innen in der Vergangenheit so waren und weil jeder einzelne Ärzt*innen-Besuch das (sehr realistisch auch noch große) Risiko birgt, dass es wieder so läuft.

Stress kommt nicht aus dem Nichts. Stress ist keine komplett sinnlose Reaktion des Körpers. Stress ist die Summe unserer Erfahrungen, angewandt auf unsere gegenwärtige Realität. Umso schlechter deine Erfahrungen, umso mehr Stress. Umso problematischer unsere gegenwärtige Realität, umso mehr Stress!

Vollkommen egal, wie achtsam ich bin, wie oft ich meditiere, wie viel Zeit ich in der Natur verbringe, wie hoch meine Vitamin-Level sind, wie viel Sport ich treibe oder wie oft ich meine Entspannungsübungen mache: Ich werde meinen Stress damit nicht loswerden.

Ich will nicht sagen, dass nichts davon hilft! Natürlich kann einiges oder alles davon ausgleichend sein, dabei helfen, besser mit dem unvermeidbaren Stress unseres Lebens klarzukommen, aber wir müssen endlich akzeptieren, dass diese Dinge nicht die Lösung sind und wir müssen aufhören, Menschen dafür verantwortlich zu machen, wenn sie gestresst sind, weil sie ja „nicht genügend dagegen tun“.

Die Antwort auf unseren Stress ist nicht Entspannung! Die Antwort auf unseren Stress ist es, globale, gesamtgesellschaftliche, systemische Lösungen für unsere Probleme zu suchen!

Wir brauchen eine Gesellschaft, die endlich auf marginalisierte Gruppen achtet, die ihren eigenen Rassismus, Ableismus, Sexismus, Klassismus usw. hinterfragt, erkennt und daran arbeitet. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Kapitalismus durchdenkt, durchschaut und auseinandernimmt. Wir brauchen eine Gesellschaft, die den auf uns zurasenden Zug in Form des Klimawandels als so nah und gefährlich wahrnimmt, wie er ist. Wir brauchen eine Gesellschaft, die gestresst ist! So gestresst, dass sie endlich anfängt, etwas dagegen zu tun, anstatt weiterhin auf Entspannungsmaßnahmen zu setzen.

Stress ist kein individuelles Problem. Stress ist ein globales Warnsignal und wir müssen diese Warnung endlich ernstnehmen!

Über Kulturen – oder eben nicht

Über Kulturen – oder eben nicht

27. Oktober 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

In meinem Text „Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen“ verwende ich Kultur, um zu beschreiben, wie es sich anfühlt, als neurodivergenter Mensch in einer neurotypischen Welt zu leben. Für mich persönlich ist das stimmig, denn ich nehme wahr, in wie vielen verschiedenen Kulturen ich mich selbst bewege, wie ich ein Teil von vielem verschiedenen und doch ein Individuum darin bin und wie leicht oder schwierig der Übergang für mich zwischen „meinen“ Kulturen ist und auch, dass einige dieser Schwierigkeiten eben durch meine Neurodivergenz entstehen.

Was ich dabei aber übersehen habe: „Kultur“ bedeutet nicht für jeden Menschen dasselbe und während es für mich in meinem Verständnis von Kultur ein passender Vergleich ist, habe ich keinerlei Kontrolle darüber, was Kultur – und noch stärker „andere Kultur“ – für dich oder jemand anderen bedeutet, wie es sich anfühlt, was die Assoziationen und Einordnungen dabei sind. Ich habe komplett übersehen, wie sehr wir „fremde Kultur“ zur Ab- und Ausgrenzung nutzen, wie sehr wir Menschen in „Kulturen“ einsortieren, um ihnen Eigenschaften, Denkweisen und Werte zuzuordnen, die aber nur durch ihre vermeintliche „Kulturzugehörigkeit“ legitimiert sind und nicht durch das jeweilige Individuum.

Und so kommt es, dass ich mit meinem Kulturvergleich ungewollt auch Rassismus Raum gegeben habe.

Es nervt mich ungemein. Ich mag den Begriff „Kultur“. Ich mag, was er für mich darstellt. Ich mag ihn, weil er für mich ein wunderbares Konstrukt ist, in dem jeder Mensch sich bewegt – flexibel, vielseitig, groß. So groß, dass ich Kultur auf „Sprache und fremde Gesten, Rituale und Bräuche“ heruntergebrochen habe, um ihn möglichst greifbar zu machen und damit am Ende noch mehr ein rassistisches Bild produziert habe!

Großartig… /s (Tonindikator: Sarkasmus)

Also natürlich nicht großartig, sondern einfach furchtbar ärgerlich. Und ja, natürlich ärgert es mich auch, dass ich „Kultur“ nicht mehr verwenden kann – nicht, weil es mir jemand verbieten würde(!), sondern weil wir Menschen auch diesen Begriff mit unserem uns innewohnenden Rassismus, unserem Drang zur Abgrenzung und zur Bewertung von Leben zu einer Waffe gegen alle, die „nicht wie wir“ sind, gemacht haben. Menschen sind schrecklich. Ja, ich auch.

An dieser Stelle mein aufrichtiger Dank an Solveïg von Intersektionale Bildung, denn hen hat mich darauf aufmerksam gemacht – und mein Dank und vor allem auch meine Entschuldigung an die, mir unbekannte Person, die wiederum Solveïg darauf aufmerksam gemacht hat und an alle, die ich durch meinen Kulturvergleich verletzt und deren Leben und Erleben ich durch mein sorgloses Verwenden von „Kulturen“ nicht mitgedacht habe.

Und jetzt wollen wir versuchen, das besser zu machen! Achtung: Das wird lang!

Wir befinden uns an dieser Stelle, wo ich langsam versuche, begreifbar zu machen, wie es sich anfühlt, als neurodivergenter – hier im speziellen: autistischer – Mensch mit neurotypischen Menschen und Standards konfrontiert zu sein:

Als Autistin bin ich es gewohnt, dass meine Wahrnehmung als falsch oder unpassend empfunden wird. Ich bin es gewohnt, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, wenn ich etwas anders wahrnehme, dass ich mich dafür entschuldigen muss, wenn neurotypische Menschen mich mal wieder falsch verstehen oder dass ich mich so verhalten muss, wie es für mich unangenehm ist, nur um andere nicht zu enttäuschen oder als unhöflich empfunden zu werden.

Darauf folgte mein Kulturvergleich, den ich aus heutiger Sicht nicht mehr verwenden möchte. Dafür will ich es so zu erklären versuchen:

Stell dir vor, du hättest eine neue Beziehungsperson. Ihr fühlt euch wohl miteinander, eure Gespräche sind gleichzeitig lustig und ernst und ganz wunderbar leicht zu führen, ihr versteht euch und du kannst dir gut vorstellen, dass ihr längere Zeit zusammen sein werdet. Eines Tages sagt deine Beziehungsperson zu dir: „Meinen Geburtstag feiere ich bei meinen Eltern – du kommst doch mit?“

Du kennst ihre Eltern bisher nicht.

Freust du dich darauf, sie kennenzulernen? Oder bist du vielleicht verängstigt? Machst du dir Sorgen, was die Eltern von dir halten könnten? Denkst du vielleicht gar nicht weiter darüber nach und sagst einfach zu? Grübelst du in den kommenden Tagen darüber, ob das eine tiefere Bedeutung hat? Denkst du, dass es ganz sicher keine hat? Oder vielleicht im Gegenteil, dass es ganz sicher eine hat und bist ein bisschen stolz, weil du das durchschaut hast?

Ist dir überhaupt schon der Gedanke gekommen, dass es unterschiedliche Bedeutungen haben könnte und du – egal, wie gut du deine Beziehungsperson kennst – nicht mit Sicherheit sagen kannst, was es für sie bedeutet?

Du beschließt, es in aller Ruhe angehen zu lassen.

Also zumindest würdest du das gerne, denn umso näher der Geburtstag rückt, umso nervöser wirst du. Dir fällt plötzlich ein, dass du überhaupt nicht weißt, ob deine Beziehungsperson eigentlich ein Geschenk erwartet? Also du gehst eigentlich davon aus, aber dann fällt dir ein, dass ihr mal über unnötige und unpassende Geschenke und über sinnlosen Konsum gesprochen habt und mit einem Mal bist du dir nicht mehr so sicher: Wäre es falsch, ihr etwas zu schenken? Wäre es falsch, ihr NICHTS zu schenken?

Du hast Glück, denn am Abend, als du mit deiner Beziehungsperson plauderst, lässt sie – wohlplatziert oder zufällig? – fallen, dass sie sich eine bestimmte Sache zu ihrem Geburtstag wünschen würde. Du atmest auf. Klare Informationen sind toll! Zeitgleich fragt sie, ob du schon ein Gastgeschenk für ihre Eltern besorgt hast. Du erschrickst! Gastgeschenk? Was denn um alles in der Welt für ein Gastgeschenk? So was hast du noch nie besorgt!

Vielleicht hast du an der Stelle das Glück, dass du mit deiner Beziehungsperson darüber reden und sie fragen kannst. Vielleicht bist du dir sicher, dass du das einfach im Internet herausfinden kannst und fragst gar nicht erst. Vielleicht wirst du dir aber auch einfach etwas überlegen, so schwer kann das ja nicht sein.

Deine Beziehungsperson lässt noch kurz fallen, dass ihre Eltern sich eigentlich immer über handgestrickte Socken freuen und du nickst – nur ein klein wenig verzweifelt. Handgestrickte Socken? Woher sollst du denn bis übermorgen 2 Paar handgestrickte Socken nehmen? Und – fällt dir da noch ein – in welcher Größe denn überhaupt? Wie schnell du wohl stricken lernen kannst?

Den Rest des Abends bist du nicht mehr so richtig aufmerksam. Deine Gedanken kreisen unaufhörlich um Socken und Stricken und Gastgeschenke, darum, was du vielleicht noch alles überhaupt nicht über Eltern-kennenlern-Geburtstagsbesuche weißt und überhaupt: Geburtstage! Bei dir gibt es immer einen Kuchen mit Kerzen und deine Eltern und Freunde singen „Zum Geburtstag viel Glück“. Wie das wohl hier ist?

Der Tag vor dem Geburtstag. Du hast schlecht geschlafen, weil du ständig über handgestrickte Socken und Schuhgrößen nachgedacht hast und irgendwann beugte sich eine riesengroße Socke über dich und lachte dich aus, weil du nicht stricken kannst. „Zum Glück nur im Traum“, denkst du, während du deine Socken – NICHT handgestrickt, Schuhgröße 42 – anziehst und in deine Schuhe schlüpfst. Dir ist inzwischen klargeworden, dass diese Sockengeschichte nicht lösbar ist – und klammheimlich fragst du dich, ob deine Beziehungsperson das tatsächlich ernstgemeint hat oder dich vielleicht damit aufziehen wollte, aber nachfragen kannst du jetzt auch nicht mehr, weil wie stehst du denn dann da? Als ob du keine Witze verstehen würdest! Oder als ob du ihr nicht glauben würdest… Beides nicht wünschenswert.

Direkt nach dem Aufwachen hast du doch ins Internet geschaut. Blumen stand da. Wein. Pralinen. Erst willst du Blumen holen, aber dann fällt dir ein, dass Blumen kompliziert sind, weil ihre Farben Bedeutungen haben und ihre Sorten und wer weiß, ob wirklich alle dieselbe Bedeutung darin sehen? Am Ende löst du einen Eklat aus und ruinierst den ganzen Geburtstag! Nein. Keine Blumen. Also Wein oder Pralinen und da du von Wein keine Ahnung hast, entscheidest du dich für Pralinen. Damit kann man nichts falsch machen. Jeder mag Pralinen!

Am Abend chattest du mit deiner Beziehungsperson über den nächsten Tag und da schreibt sie plötzlich: „Ach, ganz vergessen: Sei nicht überrascht, wenn es keinen richtigen Kuchen gibt. Meine Eltern essen keinen Zucker und deswegen gibt es bei uns immer einen großen Brotlaib mit Kerzen!“ Du starrst auf die Worte. „Ah ja“, tippst du. Dann starrst du weiter. Die Pralinen kommen dir in den Sinn. Ob du vielleicht zuckerfreie Pralinen gekauft hast? Gibt es sowas überhaupt? Du musst das recherchieren!

Bevor du dazu kommst, erscheint ein Video im Chat: Ein Geburtstags-Brotlaib mit flackernden Kerzen, deine Beziehungsperson, die sie auspustet und – vermutlich – ihre Eltern, die „Zum Geburtstag viel Glück“ singen. „Puh“, denkst du erleichtert, „wenigstens ETWAS, das dir bekannt ist!“ In dem Moment singen sie „… zum Geburtstag, zum Geburtstag, zum Geburtstag viel Glück!“ Du bist verwirrt. Bei dir wurde da immer dein Name gesungen!

Du schaust dir das Video noch mal an – der Geburstags-Brotlaib ist eigentlich ziemlich cool – und ja, tatsächlich, bei deiner Beziehungsperson wird „Zum Geburtstag viel Glück“ ohne Namen gesungen. Okay, das bekommst du hin! Also hoffst du zumindest, du wirst einfach ganz konzentriert sein und gut aufpassen, damit du nichts falsch machst. Ihr vereinbart noch, wo ihr euch am nächsten Tag treffen wollt, um dann gemeinsam zu den Eltern deiner Beziehungsperson zu fahren, und wünscht euch eine gute Nacht.

Auch diese Nacht wird alles andere als gut. Dieses Mal verfolgen dich Pralinen durch deine Träume und streuen mit kleinen Pralinen-Armen Zucker auf brennende Brotlaibe. Die Pralinen wirst du definitiv nicht mitnehmen! Sicherheitshalber isst du ein paar zum Frühstück – diese Stärkung kannst du gerade echt gut brauchen. Kurz huscht der Gedanken durch deinen Kopf, dass du das bei der Geburtstagsfeier vielleicht besser nicht erzählen solltest, was würden die Eltern bloß von dir halten?! Dann ärgerst du dich, dass es dir wichtig ist, was die Eltern deiner Beziehungsperson von dir halten.

Missmutig gehst du los, um halt doch Blumen zu holen. „Gelb“, denkst du, „gelbe Blumen sind fröhlich, damit kann man nichts falsch machen.“ Oder solltest du vielleicht doch lieber noch mal nachschauen? Während du unschlüssig stehenbleibst und dein Handy aus der Tasche ziehen möchtest, fällt dein Blick auf ein Schaufenster: Schlüsselanhänger in Sockenform! Du stürzt in den Laden und kaufst zwei – nur unterbrochen von einer kurzen Verunsicherung über die richtigen Farben, die du aber mit aller Kraft beiseiteschiebst: Du hasst Gastgeschenke. Aber: Thema abgehakt!

Auf dem Weg zum Treffpunkt gehst du im Kopf noch einmal alle Punkte durch: Gastgeschenk. Geburtstagsgeschenk. Singen ohne Namen! Brot. Kein Zucker. Wie stellst du dich überhaupt vor? Oder stellt dich deine Beziehungsperson vor? Und siezt du ihre Eltern? Oder duzt du sie? Und sie dich? Ob du wohl deine Schuhe ausziehen solltest? Hättest du Hausschuhe mitnehmen sollen?

Vor Nervosität beginnt dein Bauch zu grummeln. Jetzt nur nicht daran denken, wäre ja super peinlich, direkt aufs Klo zu stürzen, wenn ihr angekommen seid. „Entschuldigung, wo ist denn ihr Klo?“ – zack, weg! Nein, das geht nicht. Aber überhaupt: Was ist denn ein guter Zeitpunkt danach zu fragen? Und ob sie wohl von „Klo“ sprechen? Oder von „Toilette“? Dir wird heiß und dann eiskalt. Dein Bauch tut jetzt echt weh. Ob du vielleicht absagen kannst? Vielleicht könnte dich einfach ein Auto anfahren und du müsstest ins Krankenhaus und dann müsstest du nicht dorthin…

Am Ende wirst du natürlich nicht von einem Auto angefahren und kommst ins Krankenhaus, sondern fährst mit deiner Beziehungsperson zu ihren Eltern – du willst schließlich niemanden enttäuschen, schon gar nicht am Geburtstag! Es geht dir den ganzen Tag nicht gut und du hast ständig Angst, etwas falsch zu machen, etwas Falsches zu sagen, oder etwas NICHT zu sagen, was du aber sagen solltest. Du fühlst dich keinen Moment ruhig oder entspannt, bist ständig hoch konzentriert, beobachtest, analysierst und versuchst, dein Verhalten bestmöglich anzupassen. Deinen weiterhin grummelnden, schmerzenden Bauch ignorierst du, ebenso wie die Magenschmerzen und die im Laufe des Tages immer stärker werdenden Kopfschmerzen. Du reißt dich zusammen. Beim Singen stolperst du dann natürlich doch über den Namen und es ist dir furchtbar unangenehm, auch wenn die anderen nichts dazu sagen. „Vermutlich sind sie einfach nur höflich“, denkst du erschöpft und wünschst dir zum 3600. Mal in der letzten Stunde, dass du doch vom Auto angefahren worden wärst.

Irgendwie überstehst du den Tag. Am Abend fällst du komplett erledigt ins Bett. Du hast keine Energie mehr, um deine Zähne zu putzen oder dein Handy ans Ladekabel zu hängen und willst einfach nur noch schlafen, legst dich ins Bett, schließt die Augen und – bumm – der ganze Tag spielt sich erneut in deinem Kopf ab! Jeder Augenblick läuft wie ein Film an deinem inneren Auge vorbei. Du fühlst dich wieder so furchtbar wie während der letzten Stunden. Jedes Gespräch, jedes Wort, jeder Augenblick wiederholt sich und du denkst darüber nach, ob du dich an dieser Stelle passend verhalten hast und an jener. Immer wieder fällt dir etwas Neues auf, ein weitere Fehler deinerseits, eine Peinlichkeit, eine Ungeschicklichkeit. Du drehst dich im Bett hin und her, du bist müde, du willst schlafen, aber der Schlaf kommt nicht.

Irgendwann spät in der Nacht schläfst du dann doch noch ein. Du träumst wieder einmal wirr und im Traum wird der vergangene Tag noch ein bisschen schrecklicher, noch ein bisschen peinlicher, noch ein bisschen anstrengender.

Am nächsten Tag bist du zu erschöpft für alles. Du bleibst lange im Bett, scrollst durch dein Handy – immerhin hast du es doch noch geschafft, es ans Ladekabel anzuschließen – zwischendurch stehst du ratlos vor dem Kühlschrank, aber alles führt schon beim Gedanken daran, es zu essen, zu Magenschmerzen. Zwischendurch denkst du wieder über deine „Performance“ vom Vortag nach. Du fühlst dich furchtbar.

Auch am übernächsten Tag fühlst du dich nicht gut. Immerhin hast du heute Zähne geputzt und vielleicht wirst du es ja später sogar unter die Dusche schaffen. Du willst mit niemandem reden, niemanden sehen. Vielleicht ja morgen…

Kennst du etwas davon? Vielleicht sogar vieles? Oder alles? Geht es dir hin und wieder auch so? Oder ist quasi jeder deiner Tage ein Teil davon?

So wie „dir“ bei dieser Geburtstageinladung, geht es mir konstant. Ich denke ständig darüber nach, wie ich mich in einer Situation zu verhalten habe, stolpere über mein Nicht-Wissen über gesellschaftliche Gepflogenheiten und die Unsicherheiten, die selbst dann noch da sind, wenn ich Informationen darüber recherchiere. Manchmal helfen mir Hinweise und Informationen – manchmal sorgen sie aber auch dafür, dass ich mir noch mehr Gedanken und Sorgen mache. Ich betrachte alles von mehreren Seiten. Immer. Und manchmal vergesse ich dann doch eine Seite und ärgere mich ganz furchtbar darüber, dass ich nicht ALLES bedacht habe. Ich bin außerhalb von wirklich vertrauten, für mich sicheren Situationen konstant angespannt, nervös, hoch konzentriert und reagiere körperlich darauf. Nicht vertraute Menschen, Orte und Situationen sind für mich Ausnahmesituationen – immer – und ich brauche tagelang Erholung danach. Und am Ende wird analysiert, wiederholt, hinterfragt, dazu gelernt, denn ein Teil von mir will immer, immer nur eines: Einfach dazugehören können.

Ein Hinweis zum Schluss: Das ist meine Beschreibung, meines Erlebens. Für andere neurodivergente Menschen kann das ganz, ganz anders sein, denn wir haben sehr unterschiedliche Profile, unterschiedliche Stärken und Schwierigkeiten, unterschiedliche Erfahrungen und Strategien. Und es ist natürlich keine reale Geschichte – obwohl ich über den Geburtstag-Brotlaib mal nachdenken muss /hj (Tonidikator: half-joking) -, sondern nur der Versuch, verschiedene Erlebensebenen greifbar zu machen. Und mein Humor 😀

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen

25. Oktober 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Erst kürzlich tauchte auf einer großen Autismus-Seite mal wieder ein Text zum Thema „Autismus überwinden“ auf. In dem Text ging es hauptsächlich darum, wie falsch es doch wäre, davon auszugehen, dass Autismus ein Teil von einem selbst sei und dass er nicht heilbar wäre. Man müsse nur tüchtig an sich arbeiten und dann wäre der Autismus auch nicht mehr diagnostizierbar und damit geheilt. Wer das Gegenteil behaupte, hätte einfach nur das Problem, sich zu sehr mit seinem Autismus zu identifizieren und das gelte es zu überwinden.

Jetzt ist es so, dass der Artikel ein bisschen schummelt. Der Autor stützt sich auf die DIAGNOSTIZIERBARKEIT von Autismus und wir wissen ja: Autismus wird nur diagnostiziert, wenn die Diagnosekriterien erfüllt sind. Die Diagnosekritierien umfassen aber in erster Linie von außen erkennbare Symptome plus Leidendruck. Wirkt man also auf andere nicht mehr autistisch und hat keinen Leidensdruck mehr – ZACK – geheilt!

Das ist aber eigentlich nur der Punkt, an dem das „Störungsmodell“ psychischer Krankheiten an sein Limit kommt und wo wir nicht über Heilbarkeit, sondern über Diagnostizierbarkeit diskutieren sollten. Diagnosen sind nicht dafür da, um ein anderes Denken, Fühlen oder Wahrnehmen zu beschreiben. Sie sind dafür da, um eine Störung, eine Abweichung im Norm-Verhalten (also dem Verhalten der Mehrheit) zu beschreiben und diese Abweichung möglichst so zu verändern, dass sie nicht mehr „stört“ (meistens eher das Umfeld als die Betroffenen). Ich empfehle hierzu auch sehr den Post „Diagnose nur mit Leidensdruck“ der Autismusambulanz Halle!

Wenn der Autor des genannten Artikels also darüber spricht, dass Autismus „heilbar“ ist, sagt er eigentlich: Man kann als Autist*in so gut lernen, die autistischen Merkmale zu verstecken, dass man nicht mehr als Autist*in erkannt wird. Herzlichen Glückwunsch! /s (Tonindikator: Sarkasmus) Hier wird Masking als Heilung verkauft!

Warum ist es so schwer – auch als Autist*in – zu akzeptieren, dass man für immer autistisch sein wird?
Warum ist der Gedanke daran, nicht „geheilt“ werden zu können, so unerträglich, dass man sich selbst Brücken baut, um sich nicht länger als Autist*in wahrnehmen zu müssen?

Ich fürchte, die Antwort liegt darin, wie Autismus immer noch wahrgenommen wird. Sie liegt in all den Defiziten und den Problemen. Sie liegt in den Diagnosekriterien und sie liegt in den „Therapien“, die allzu oft immer noch darauf abzielen genau das zu erreichen, was der Autor des von mir kritisierten Textes empfiehlt: Benimm‘ dich normal, dann bist du auch kein*e Autist*in mehr! Dann störst du nicht mehr! Dann bist du nicht mehr lästig! Dann muss ich keine Rücksicht mehr auf dich nehmen!

So ist es aber nicht. Autismus hat man für immer – und Rücksicht verdient übrigens jeder Mensch!

Vollkommen egal, ob ich mich autistisch präsentiere oder nicht, ob ich dir in die Augen sehen kann oder nicht, ob ich Sarkasmus und Redewendungen verstehe, Spezialinteressen habe oder diesen Wollpullover, den du so kuschelig findest als unerträglich kratzig bezeichne und sofort wieder ausziehen muss oder ertragen kann – ich bin autistisch.

Autismus, das ist nicht das, was du von außen siehst. Er ist nicht das, was mich für dich anstrengend und seltsam macht. Autismus ist auch nicht das, was für dich unangenehm ist oder mich als pingelig und übersensibel dastehen lässt.

Autismus ist das, was ich empfinde, wie ich wahrnehme, wie ich denke. Autismus ist meine Sicht auf die Welt, nicht deine.

Du findest mich anstrengend, unhöflich, kleinlich und überempfindlich? Aber warum stört dich das überhaupt? Warum nervt es dich, wenn ich dir nicht in die Augen sehe? Warum fühlst du dich davon verletzt, dass ein Pulli, den du angenehm empfindest, für mich kratzt? Warum ist es so schlimm, dass meine Wahrnehmung eine andere als deine ist?

Und warum darf das für dich schlimm sein, aber nicht für mich?

Als Autistin bin ich es gewohnt, dass meine Wahrnehmung als falsch oder unpassend empfunden wird. Ich bin es gewohnt, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, wenn ich etwas anders wahrnehme, dass ich mich dafür entschuldigen muss, wenn neurotypische Menschen mich mal wieder falsch verstehen oder dass ich mich so verhalten muss, wie es für mich unangenehm ist, nur um andere nicht zu enttäuschen oder als unhöflich empfunden zu werden.

Autistisch zu sein ist, als würdest du in eine fremde Kultur geworfen werden, mit einer fremden Sprache und fremden Gesten, Ritualen und Bräuchen und als würden die Mitglieder dieser Kultur überhaupt nicht verstehen, dass es neben ihrer Kultur auch eine andere – nämlich deine – gibt. Sie gehen davon aus, dass alle ihre Kultur und Sprache verstehen, dass ihre die einzig wahre Kultur ist und jede Person, die darin nicht so perfekt ist, ist fehlerhaft und krank.

Natürlich kannst du diese Kultur und Sprache lernen, vielleicht sogar so gut, dass die Mitglieder der Kultur irgendwann gar nicht mehr merken, dass das gar nicht wirklich deine Kultur ist und dich nicht länger als fehlerhaft, sondern als „geheilt“ betrachten. Aber wärst du wirklich „geheilt“? Oder würdest du einfach immer noch alles, was du siehst erstmal „übersetzen“? Würdest du vielleicht auch nach 20 Jahren klammheimlich immer noch vieles in D-Mark umrechnen, weil das das ist, was sich für dich vertraut und sicher anfühlt? Würdest du einen Teil deiner Energie dafür verwenden, in dieser fremden Kultur nicht aufzufallen, obwohl es immer noch nicht DEINE Kultur ist, nur um geheilt zu erscheinen, niemanden zu stören, „normal“ zu sein?

Genau so ist es auch mit der „Heilung“ von Autismus.

Ja, ich kann lernen, mich neurotypisch zu verhalten, aber ich werde nie lernen, neurotypisch zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen. Ich denke, fühle und empfinde neurodivergent, autistisch, adhs-ig… eben so, wie ich bin!

Wenn Comic-Figuren eine Maske überziehen und dann für jemand anderes gehalten werden, erkennen wir alle, dass das in Wirklichkeit überhaupt nicht funktionieren würde. Wenn sich Robin Hood in der Disney-Version einen Schnabel anzieht und auf Stelzen geht, um als Storch am Wettkampf teilzunehmen, wissen wir als Zuschauer*innen natürlich immer noch, dass er in Wirklichkeit Robin Hood ist – auch, wenn er noch so perfekt den Storch mimt und im Film auch als solcher durchgeht. Denn er IST Robin Hood, egal, wie sehr er sich wie ein Storch benimmt.

Und genauso sind wir Autist*innen eben Autist*innen – auch dann, wenn wir eine neurodivergente Maske anziehen, jemandem in die Augen schauen und Metaphern verstehen.

Wenn ich mit anderen Autist*innen (oder auch Menschen mit ADHS) rede, merke ich, wie unsere Denkweisen sich ähneln, wie wir die Welt auf eine ganz andere Art wahrnehmen und verarbeiten, als das bei neurotypischen Menschen der Fall ist. Unser Verständnis der Welt, der Menschen und ihrer Verhaltensweisen ist ganz, ganz anders und unsere Schwierigkeit besteht oft darin, diese Verhaltensweisen für uns zu übersetzen – und im Gegenzug auch uns zu übersetzen, um uns für andere begreifbar zu machen.

Es ist nicht der AUSDRUCK, der uns zu Autist*innen macht (auch wenn es das ist, was diagnostiziert wird). Es ist unser Inneres. Es ist unsere Wahrnehmung. Es ist unsere Denkweise. Es ist unser Fühlen.

Nichts davon kann oder müsste geheilt werden.

Die einzige „Überwindung“ einer Autismusspektrumstörung, die ich mir wünsche ist die, dass Autismus nicht länger als Störung, Defizit oder Defekt verstanden wird, sondern als eine von vielen Möglichkeiten zu sein. Nicht besser, aber eben auch nicht schlechter als neurotypisches Sein.

Autismus hat man für immer und es ist Zeit, das nicht länger als Nachteil zu sehen. Nur so kommen wir zu einem „modernen“ Blick auf Autismus, ADHS und andere Neurodivergenzen. Nur so kommen wir zu einem zeitgemäßen Blick auf Diversität, auf „Normalität“, Abweichungen und Behinderungen.

Es geht nicht um Heilung oder Überwindung. Es geht um Anerkennung jeglicher Lebensrealität als gleichwertig.

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