Wir und die anderen
CN: Klassismus, Fettfeindlichkeit, Ableismus
Unser Adventskranz sieht fast so aus wie letztes Jahr. Es ist ein alter Spiegel, dessen Rahmen ich weiß gestrichen habe und den ich als Unterlage verwende. Darauf kommen von mir gefaltete Fröbelsterne – um die Weihnachtszeit bekomme ich immer Lust auf Papierfalten -, eine Lichterkette, Glasnuggets, metallene Kugeln und schwarz-weiße Kugeln, Zuckerstangen und natürlich Kerzen. Große, rote Kerzen.
Die Kerzen vom letzten Jahr waren – wie das halt oft so mit Adventskranz-Kerzen ist – nicht komplett heruntergebrannt und natürlich zu schade zum Wegwerfen und ich hatte im Januar noch gedacht: „Ich lasse sie einfach draußen und dann können wir sie immer wieder anzünden, bis sie heruntergebrannt sind. Das wird schön.“ Ich habe sie nie angezündet. Nach Weihnachten sind Kerzen irgendwie egal und so standen sie zwar herum und waren ein hübscher Farbtupfer, aber sie waren eben immer noch nicht heruntergebrannt und wegwerfen wollte ich sie nach wie vor nicht.
Wie ich dann den diesjährigen Adventskranz zusammenbaute, stellte ich die alten Kerzen darauf – frische hatte ich gerade nicht und ohne Kerzen sah er so kahl aus – und witzelte, dass ich doch eigentlich die Kerzen wiederverwenden könnte. War es wirklich ein Witz? Ich kann es bis heute nicht sagen, denn einerseits finde ich den Gedanken, die Kerzen eben tatsächlich „aufzubrauchen“ total gut, andererseits macht er mir aber Angst.
Ein Adventskranz mit bereits angebrannten Kerzen! „Das geht doch nicht“, ruft eine Stimme in mir ganz laut. Es ist die Stimme meiner Mutter, die Stimme, die immer unheimlich viel Wert daraufgelegt hat, nicht „so“ zu sein. „So“, das waren Menschen, die kein Geld hatten, Menschen, die dick waren, Menschen, die anders waren als die meisten. „So“, das waren die Menschen, die wir waren.
Wir hatten wenig Geld in meiner Kindheit und Jugend, oder nein, wir hatten phasenweise gefühlt viel Geld und im nächsten Moment überhaupt keines. Ich erinnere mich noch daran, als es hieß, jeder von uns dürfe sich zu Weihnachten Geschenke im Wert von (umgerechnet) 200 Euro aussuchen! 200 Euro! Ich wusste überhaupt nicht, was ich mir von so viel Geld wünschen sollte! Am Ende gab es aber zu Weihnachten sowieso nichts von dem Gewünschten, denn das Geld, von dem es die Weihnachtsgeschenke geben sollte, gab es am Ende nämlich auch nicht.
So war das häufig. Geld – oder etwas, das man mit Geld kaufen konnte – wurde in Aussicht gestellt und am Ende gab es nichts davon und es wurde vielleicht sogar der Strom oder das Telefon abgestellt, weil auch dafür das Geld nicht dagewesen war. War es nie da oder zerrann es meinen Eltern einfach in den Händen? Ich kann es nicht sagen. Die Erinnerung an meine Kindheit und Jugend ist aber geprägt von dem ständigen Gefühl, bloß nichts kaputtzumachen, bloß nichts zu verlieren, bloß keine Kosten zu verursachen – aber immer so, dass es nach außen nicht auffiel.
Als ich bei der Planung für einen Schulausflug angab, nicht mitfahren zu können, weil wir das Geld dafür nicht hatten – was stimmte – und ein Fonds der Schule die Kosten übernehmen wollte, gab es zuhause unheimlichen Ärger: Wie hatte ich sagen können, dass wir kein Geld hätten?! Wir hatten kein Geld. Aber das sollte niemand wissen.
Wie oft ging ich mit Hosen in die Schule, deren Oberschenkel-Innenseiten Löcher hatten und verdeckte das mit langen Shirts und Pullovern, damit es niemand merkte, hatte Angst davor, mich im Turnunterricht umzuziehen, weil es da ja wem auffallen hätte können, ignorierte die von den Stoffrändern wundgescheuerte Haut. Damit es niemand merkte. Damit niemand wusste, dass wir uns keine neuen Hosen für mich leisten konnte. Damit niemand wusste, dass ich meine Hosen durchscheuerte, weil ich dick war. Denn auch das hatte ich nicht zu sein.
Also grundsätzlich natürlich nicht dick, aber das war ja schwer zu übersehen, aber dann doch zumindest niemand von „diesen“ Dicken. Denen, die „nicht ordentlich“ angezogen waren. Denen, die faul waren. Denen, die in der Öffentlichkeit aßen. So waren wir nicht! Nein, nein.
Wir waren auch nicht die, die mit Plastiktüten herumliefen, denn Plastiktüten, die verwendeten nur „die anderen“, die GANZ schlechten Menschen, die, auf die wir irgendwie herabsehen konnten, weil doch ohnedies alle auf uns herabsahen. Aber darin, in diesen Plastiktüten, in diesem Vorgeben, Geld zu haben, das wir gar nicht hatten, in der „guten“ Kleidung… darin lag das, was uns zu unterscheiden schien, das, was uns zu „besseren“, „wertvolleren“ Menschen machte. Oder wovon wir es zumindest glauben wollten.
Es gab viele dieser „das macht uns besser“-Dinge. Rucksäcke auf beiden Schultern tragen. Niemals geflickte Sachen tragen. Keine gebrauchten Dinge annehmen. Nichts Gestricktes anziehen. Nichts Selbstgemachtes verschenken. Immer „ordentliche“ Kleidung tragen. Keine bunten Fingernägel. Keine Tattoos. Kein Fast Food in der Öffentlichkeit. Keine Süßigkeiten. Am besten gar nichts essen. Nicht laut atmen. Nicht schnaufen. Nicht weinen. Nicht rot werden. Nicht um Hilfe fragen. Nicht den Eindruck erwecken, Hilfe zu brauchen.
Die Liste ist endlos und vieles ist mir bis heute gar nicht bewusst, sondern einfach nur ein fest integriertes „SO macht man das“, das ganz automatisch abläuft und bei dem sich alles in mir sträubt, ich Magenschmerzen bekomme, Angst, Panik… „Ich bin nicht SO“, möchte ich dann schreien, „Ich bin eine von den Guten!“
Ich weiß heute, wie schlimm diese Denkweise ist. Wie verletzend. Wie herablassend. Wie klassistisch. wie ableistisch. Und ich muss jedes Mal wieder dagegen ankämpfen, denn diese automatische Abgrenzung von denen, die ich irgendwie als „schlechter als ich“ sehen kann, steckt tief.
Bis heute sehe ich auf Menschen herab, die im Jogginganzug einkaufen. „Das macht man doch nicht“, denke ich ganz automatisch – und dann rufe ich mich zurück. Bis heute denke ich mir: „Puh, zum Glück bin ich nicht SO!“ und schaue schnell weg, wenn Menschen in der Öffentlichkeit schwanken, stolpern, stürzen – immer verbunden mit der Scham über den Tag, als ich selbst gestürzt bin und mich Menschen auslachten: „Ha ha, die Dicke kann nicht mal laufen!“ Wie peinlich! Ich war „SO eine“!
Ich kämpfe damit, dass ich körperliche Beschwerden habe, die man mir anmerken könnte, weil ich eben schwanke oder stolpere, weil ich eine Pause brauchen könnte, weil ich nicht mehr klar sehen kann vor Schmerzen. Ich kämpfe damit, den guten Schein nicht mehr aufrecht erhalten zu können und endgültig jemand von „denen“ zu sein, jenen, die ich gelernt habe, zu verachten, denn wenn du nichts hast, hast du doch immer noch deinen Stolz, nicht wahr?
Ich verrate euch was: Stolz ist Mist.
Ich bin keinen Deut besser als irgendjemand. Es macht mich nicht besser, dass ich Schuhe mit Schnürsenkeln, statt welche mit Klettverschluss trage, dass ich meine Einkäufe in einem hübschen Queerdinx-Stoffbeutel statt einer Plastiktüte nach Hause trage, dass ich eine Treppe nehme statt dem Aufzug – oder dann halt doch den Aufzug, weil ich mich ganz fest zusammenreiße und an mich und meine Gesundheit denke und nicht daran, ob ich jetzt jemand von „denen“ oder „denen“ oder „denen“ sein könnte.
Es macht niemanden besser einer Erwerbsarbeit nachzugehen, nicht krank zu sein, Kinder zu haben, nur nachhaltige Kleidung zu kaufen, vegan zu leben, auf Konsum verzichten zu können, weiß zu sein, dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zu entsprechen, die „richtigen“ Sprachen zu beherrschen, mit christlichen Bräuchen aufgewachsen zu sein, ein Dach über dem Kopf zu haben oder nicht auf Medikamente angewiesen zu sein.
Wir sind auf so viele Dinge stolz, weil sie uns vermeintlich zu besseren Menschen machen, uns abgrenzen und „nicht SO“ sein lassen, doch in Wirklichkeit tun sie überhaupt nichts davon. Sie SIND einfach nur. Wir SIND einfach nur. Vollkommen egal, wie sehr wir uns an alle Regeln halten – oder an gar keine -, wie sehr wir uns anpassen, ändern, bemühen, abmühen… wir sind trotzdem kein bisschen besser als jemand, der das alles nicht kann oder nicht will.
Egal, wie viele internalisierte -ismen – Klassismus, Ableismus, Rassismus… – uns weismachen wollen, dass und wofür wir besser sind: Wir sind es nicht.
Wir sind genauso gut, genauso wertvoll wie der Mensch, den wir am meisten verachten.
Das heißt nicht, dass wir uns ab sofort alle verachten sollen – wir sollten nur anfangen, diese Dynamiken wahrzunehmen, unseren internalisierten Rassismus, Klassismus, Ableismus, Sexismus usw. zu erkennen und gegen sie anzuarbeiten.
Auch wenn es manchmal nur so eine Kleinigkeit ist, wie die alten Adventskranz-Kerzen im nächsten Jahr wieder zu verwenden – weil wir es wollen und nicht, weil wir dadurch zu besseren oder schlechteren Menschen werden.