Über Kulturen – oder eben nicht
In meinem Text „Autismus hat man für immer – ein wirklich moderner Blick auf Autismusspektrumstörungen“ verwende ich Kultur, um zu beschreiben, wie es sich anfühlt, als neurodivergenter Mensch in einer neurotypischen Welt zu leben. Für mich persönlich ist das stimmig, denn ich nehme wahr, in wie vielen verschiedenen Kulturen ich mich selbst bewege, wie ich ein Teil von vielem verschiedenen und doch ein Individuum darin bin und wie leicht oder schwierig der Übergang für mich zwischen „meinen“ Kulturen ist und auch, dass einige dieser Schwierigkeiten eben durch meine Neurodivergenz entstehen.
Was ich dabei aber übersehen habe: „Kultur“ bedeutet nicht für jeden Menschen dasselbe und während es für mich in meinem Verständnis von Kultur ein passender Vergleich ist, habe ich keinerlei Kontrolle darüber, was Kultur – und noch stärker „andere Kultur“ – für dich oder jemand anderen bedeutet, wie es sich anfühlt, was die Assoziationen und Einordnungen dabei sind. Ich habe komplett übersehen, wie sehr wir „fremde Kultur“ zur Ab- und Ausgrenzung nutzen, wie sehr wir Menschen in „Kulturen“ einsortieren, um ihnen Eigenschaften, Denkweisen und Werte zuzuordnen, die aber nur durch ihre vermeintliche „Kulturzugehörigkeit“ legitimiert sind und nicht durch das jeweilige Individuum.
Und so kommt es, dass ich mit meinem Kulturvergleich ungewollt auch Rassismus Raum gegeben habe.
Es nervt mich ungemein. Ich mag den Begriff „Kultur“. Ich mag, was er für mich darstellt. Ich mag ihn, weil er für mich ein wunderbares Konstrukt ist, in dem jeder Mensch sich bewegt – flexibel, vielseitig, groß. So groß, dass ich Kultur auf „Sprache und fremde Gesten, Rituale und Bräuche“ heruntergebrochen habe, um ihn möglichst greifbar zu machen und damit am Ende noch mehr ein rassistisches Bild produziert habe!
Großartig… /s (Tonindikator: Sarkasmus)
Also natürlich nicht großartig, sondern einfach furchtbar ärgerlich. Und ja, natürlich ärgert es mich auch, dass ich „Kultur“ nicht mehr verwenden kann – nicht, weil es mir jemand verbieten würde(!), sondern weil wir Menschen auch diesen Begriff mit unserem uns innewohnenden Rassismus, unserem Drang zur Abgrenzung und zur Bewertung von Leben zu einer Waffe gegen alle, die „nicht wie wir“ sind, gemacht haben. Menschen sind schrecklich. Ja, ich auch.
An dieser Stelle mein aufrichtiger Dank an Solveïg von Intersektionale Bildung, denn hen hat mich darauf aufmerksam gemacht – und mein Dank und vor allem auch meine Entschuldigung an die, mir unbekannte Person, die wiederum Solveïg darauf aufmerksam gemacht hat und an alle, die ich durch meinen Kulturvergleich verletzt und deren Leben und Erleben ich durch mein sorgloses Verwenden von „Kulturen“ nicht mitgedacht habe.
Und jetzt wollen wir versuchen, das besser zu machen! Achtung: Das wird lang!
Wir befinden uns an dieser Stelle, wo ich langsam versuche, begreifbar zu machen, wie es sich anfühlt, als neurodivergenter – hier im speziellen: autistischer – Mensch mit neurotypischen Menschen und Standards konfrontiert zu sein:
Als Autistin bin ich es gewohnt, dass meine Wahrnehmung als falsch oder unpassend empfunden wird. Ich bin es gewohnt, dass ich mich dafür rechtfertigen muss, wenn ich etwas anders wahrnehme, dass ich mich dafür entschuldigen muss, wenn neurotypische Menschen mich mal wieder falsch verstehen oder dass ich mich so verhalten muss, wie es für mich unangenehm ist, nur um andere nicht zu enttäuschen oder als unhöflich empfunden zu werden.
Darauf folgte mein Kulturvergleich, den ich aus heutiger Sicht nicht mehr verwenden möchte. Dafür will ich es so zu erklären versuchen:
Stell dir vor, du hättest eine neue Beziehungsperson. Ihr fühlt euch wohl miteinander, eure Gespräche sind gleichzeitig lustig und ernst und ganz wunderbar leicht zu führen, ihr versteht euch und du kannst dir gut vorstellen, dass ihr längere Zeit zusammen sein werdet. Eines Tages sagt deine Beziehungsperson zu dir: „Meinen Geburtstag feiere ich bei meinen Eltern – du kommst doch mit?“
Du kennst ihre Eltern bisher nicht.
Freust du dich darauf, sie kennenzulernen? Oder bist du vielleicht verängstigt? Machst du dir Sorgen, was die Eltern von dir halten könnten? Denkst du vielleicht gar nicht weiter darüber nach und sagst einfach zu? Grübelst du in den kommenden Tagen darüber, ob das eine tiefere Bedeutung hat? Denkst du, dass es ganz sicher keine hat? Oder vielleicht im Gegenteil, dass es ganz sicher eine hat und bist ein bisschen stolz, weil du das durchschaut hast?
Ist dir überhaupt schon der Gedanke gekommen, dass es unterschiedliche Bedeutungen haben könnte und du – egal, wie gut du deine Beziehungsperson kennst – nicht mit Sicherheit sagen kannst, was es für sie bedeutet?
Du beschließt, es in aller Ruhe angehen zu lassen.
Also zumindest würdest du das gerne, denn umso näher der Geburtstag rückt, umso nervöser wirst du. Dir fällt plötzlich ein, dass du überhaupt nicht weißt, ob deine Beziehungsperson eigentlich ein Geschenk erwartet? Also du gehst eigentlich davon aus, aber dann fällt dir ein, dass ihr mal über unnötige und unpassende Geschenke und über sinnlosen Konsum gesprochen habt und mit einem Mal bist du dir nicht mehr so sicher: Wäre es falsch, ihr etwas zu schenken? Wäre es falsch, ihr NICHTS zu schenken?
Du hast Glück, denn am Abend, als du mit deiner Beziehungsperson plauderst, lässt sie – wohlplatziert oder zufällig? – fallen, dass sie sich eine bestimmte Sache zu ihrem Geburtstag wünschen würde. Du atmest auf. Klare Informationen sind toll! Zeitgleich fragt sie, ob du schon ein Gastgeschenk für ihre Eltern besorgt hast. Du erschrickst! Gastgeschenk? Was denn um alles in der Welt für ein Gastgeschenk? So was hast du noch nie besorgt!
Vielleicht hast du an der Stelle das Glück, dass du mit deiner Beziehungsperson darüber reden und sie fragen kannst. Vielleicht bist du dir sicher, dass du das einfach im Internet herausfinden kannst und fragst gar nicht erst. Vielleicht wirst du dir aber auch einfach etwas überlegen, so schwer kann das ja nicht sein.
Deine Beziehungsperson lässt noch kurz fallen, dass ihre Eltern sich eigentlich immer über handgestrickte Socken freuen und du nickst – nur ein klein wenig verzweifelt. Handgestrickte Socken? Woher sollst du denn bis übermorgen 2 Paar handgestrickte Socken nehmen? Und – fällt dir da noch ein – in welcher Größe denn überhaupt? Wie schnell du wohl stricken lernen kannst?
Den Rest des Abends bist du nicht mehr so richtig aufmerksam. Deine Gedanken kreisen unaufhörlich um Socken und Stricken und Gastgeschenke, darum, was du vielleicht noch alles überhaupt nicht über Eltern-kennenlern-Geburtstagsbesuche weißt und überhaupt: Geburtstage! Bei dir gibt es immer einen Kuchen mit Kerzen und deine Eltern und Freunde singen „Zum Geburtstag viel Glück“. Wie das wohl hier ist?
Der Tag vor dem Geburtstag. Du hast schlecht geschlafen, weil du ständig über handgestrickte Socken und Schuhgrößen nachgedacht hast und irgendwann beugte sich eine riesengroße Socke über dich und lachte dich aus, weil du nicht stricken kannst. „Zum Glück nur im Traum“, denkst du, während du deine Socken – NICHT handgestrickt, Schuhgröße 42 – anziehst und in deine Schuhe schlüpfst. Dir ist inzwischen klargeworden, dass diese Sockengeschichte nicht lösbar ist – und klammheimlich fragst du dich, ob deine Beziehungsperson das tatsächlich ernstgemeint hat oder dich vielleicht damit aufziehen wollte, aber nachfragen kannst du jetzt auch nicht mehr, weil wie stehst du denn dann da? Als ob du keine Witze verstehen würdest! Oder als ob du ihr nicht glauben würdest… Beides nicht wünschenswert.
Direkt nach dem Aufwachen hast du doch ins Internet geschaut. Blumen stand da. Wein. Pralinen. Erst willst du Blumen holen, aber dann fällt dir ein, dass Blumen kompliziert sind, weil ihre Farben Bedeutungen haben und ihre Sorten und wer weiß, ob wirklich alle dieselbe Bedeutung darin sehen? Am Ende löst du einen Eklat aus und ruinierst den ganzen Geburtstag! Nein. Keine Blumen. Also Wein oder Pralinen und da du von Wein keine Ahnung hast, entscheidest du dich für Pralinen. Damit kann man nichts falsch machen. Jeder mag Pralinen!
Am Abend chattest du mit deiner Beziehungsperson über den nächsten Tag und da schreibt sie plötzlich: „Ach, ganz vergessen: Sei nicht überrascht, wenn es keinen richtigen Kuchen gibt. Meine Eltern essen keinen Zucker und deswegen gibt es bei uns immer einen großen Brotlaib mit Kerzen!“ Du starrst auf die Worte. „Ah ja“, tippst du. Dann starrst du weiter. Die Pralinen kommen dir in den Sinn. Ob du vielleicht zuckerfreie Pralinen gekauft hast? Gibt es sowas überhaupt? Du musst das recherchieren!
Bevor du dazu kommst, erscheint ein Video im Chat: Ein Geburtstags-Brotlaib mit flackernden Kerzen, deine Beziehungsperson, die sie auspustet und – vermutlich – ihre Eltern, die „Zum Geburtstag viel Glück“ singen. „Puh“, denkst du erleichtert, „wenigstens ETWAS, das dir bekannt ist!“ In dem Moment singen sie „… zum Geburtstag, zum Geburtstag, zum Geburtstag viel Glück!“ Du bist verwirrt. Bei dir wurde da immer dein Name gesungen!
Du schaust dir das Video noch mal an – der Geburstags-Brotlaib ist eigentlich ziemlich cool – und ja, tatsächlich, bei deiner Beziehungsperson wird „Zum Geburtstag viel Glück“ ohne Namen gesungen. Okay, das bekommst du hin! Also hoffst du zumindest, du wirst einfach ganz konzentriert sein und gut aufpassen, damit du nichts falsch machst. Ihr vereinbart noch, wo ihr euch am nächsten Tag treffen wollt, um dann gemeinsam zu den Eltern deiner Beziehungsperson zu fahren, und wünscht euch eine gute Nacht.
Auch diese Nacht wird alles andere als gut. Dieses Mal verfolgen dich Pralinen durch deine Träume und streuen mit kleinen Pralinen-Armen Zucker auf brennende Brotlaibe. Die Pralinen wirst du definitiv nicht mitnehmen! Sicherheitshalber isst du ein paar zum Frühstück – diese Stärkung kannst du gerade echt gut brauchen. Kurz huscht der Gedanken durch deinen Kopf, dass du das bei der Geburtstagsfeier vielleicht besser nicht erzählen solltest, was würden die Eltern bloß von dir halten?! Dann ärgerst du dich, dass es dir wichtig ist, was die Eltern deiner Beziehungsperson von dir halten.
Missmutig gehst du los, um halt doch Blumen zu holen. „Gelb“, denkst du, „gelbe Blumen sind fröhlich, damit kann man nichts falsch machen.“ Oder solltest du vielleicht doch lieber noch mal nachschauen? Während du unschlüssig stehenbleibst und dein Handy aus der Tasche ziehen möchtest, fällt dein Blick auf ein Schaufenster: Schlüsselanhänger in Sockenform! Du stürzt in den Laden und kaufst zwei – nur unterbrochen von einer kurzen Verunsicherung über die richtigen Farben, die du aber mit aller Kraft beiseiteschiebst: Du hasst Gastgeschenke. Aber: Thema abgehakt!
Auf dem Weg zum Treffpunkt gehst du im Kopf noch einmal alle Punkte durch: Gastgeschenk. Geburtstagsgeschenk. Singen ohne Namen! Brot. Kein Zucker. Wie stellst du dich überhaupt vor? Oder stellt dich deine Beziehungsperson vor? Und siezt du ihre Eltern? Oder duzt du sie? Und sie dich? Ob du wohl deine Schuhe ausziehen solltest? Hättest du Hausschuhe mitnehmen sollen?
Vor Nervosität beginnt dein Bauch zu grummeln. Jetzt nur nicht daran denken, wäre ja super peinlich, direkt aufs Klo zu stürzen, wenn ihr angekommen seid. „Entschuldigung, wo ist denn ihr Klo?“ – zack, weg! Nein, das geht nicht. Aber überhaupt: Was ist denn ein guter Zeitpunkt danach zu fragen? Und ob sie wohl von „Klo“ sprechen? Oder von „Toilette“? Dir wird heiß und dann eiskalt. Dein Bauch tut jetzt echt weh. Ob du vielleicht absagen kannst? Vielleicht könnte dich einfach ein Auto anfahren und du müsstest ins Krankenhaus und dann müsstest du nicht dorthin…
Am Ende wirst du natürlich nicht von einem Auto angefahren und kommst ins Krankenhaus, sondern fährst mit deiner Beziehungsperson zu ihren Eltern – du willst schließlich niemanden enttäuschen, schon gar nicht am Geburtstag! Es geht dir den ganzen Tag nicht gut und du hast ständig Angst, etwas falsch zu machen, etwas Falsches zu sagen, oder etwas NICHT zu sagen, was du aber sagen solltest. Du fühlst dich keinen Moment ruhig oder entspannt, bist ständig hoch konzentriert, beobachtest, analysierst und versuchst, dein Verhalten bestmöglich anzupassen. Deinen weiterhin grummelnden, schmerzenden Bauch ignorierst du, ebenso wie die Magenschmerzen und die im Laufe des Tages immer stärker werdenden Kopfschmerzen. Du reißt dich zusammen. Beim Singen stolperst du dann natürlich doch über den Namen und es ist dir furchtbar unangenehm, auch wenn die anderen nichts dazu sagen. „Vermutlich sind sie einfach nur höflich“, denkst du erschöpft und wünschst dir zum 3600. Mal in der letzten Stunde, dass du doch vom Auto angefahren worden wärst.
Irgendwie überstehst du den Tag. Am Abend fällst du komplett erledigt ins Bett. Du hast keine Energie mehr, um deine Zähne zu putzen oder dein Handy ans Ladekabel zu hängen und willst einfach nur noch schlafen, legst dich ins Bett, schließt die Augen und – bumm – der ganze Tag spielt sich erneut in deinem Kopf ab! Jeder Augenblick läuft wie ein Film an deinem inneren Auge vorbei. Du fühlst dich wieder so furchtbar wie während der letzten Stunden. Jedes Gespräch, jedes Wort, jeder Augenblick wiederholt sich und du denkst darüber nach, ob du dich an dieser Stelle passend verhalten hast und an jener. Immer wieder fällt dir etwas Neues auf, ein weitere Fehler deinerseits, eine Peinlichkeit, eine Ungeschicklichkeit. Du drehst dich im Bett hin und her, du bist müde, du willst schlafen, aber der Schlaf kommt nicht.
Irgendwann spät in der Nacht schläfst du dann doch noch ein. Du träumst wieder einmal wirr und im Traum wird der vergangene Tag noch ein bisschen schrecklicher, noch ein bisschen peinlicher, noch ein bisschen anstrengender.
Am nächsten Tag bist du zu erschöpft für alles. Du bleibst lange im Bett, scrollst durch dein Handy – immerhin hast du es doch noch geschafft, es ans Ladekabel anzuschließen – zwischendurch stehst du ratlos vor dem Kühlschrank, aber alles führt schon beim Gedanken daran, es zu essen, zu Magenschmerzen. Zwischendurch denkst du wieder über deine „Performance“ vom Vortag nach. Du fühlst dich furchtbar.
Auch am übernächsten Tag fühlst du dich nicht gut. Immerhin hast du heute Zähne geputzt und vielleicht wirst du es ja später sogar unter die Dusche schaffen. Du willst mit niemandem reden, niemanden sehen. Vielleicht ja morgen…
Kennst du etwas davon? Vielleicht sogar vieles? Oder alles? Geht es dir hin und wieder auch so? Oder ist quasi jeder deiner Tage ein Teil davon?
So wie „dir“ bei dieser Geburtstageinladung, geht es mir konstant. Ich denke ständig darüber nach, wie ich mich in einer Situation zu verhalten habe, stolpere über mein Nicht-Wissen über gesellschaftliche Gepflogenheiten und die Unsicherheiten, die selbst dann noch da sind, wenn ich Informationen darüber recherchiere. Manchmal helfen mir Hinweise und Informationen – manchmal sorgen sie aber auch dafür, dass ich mir noch mehr Gedanken und Sorgen mache. Ich betrachte alles von mehreren Seiten. Immer. Und manchmal vergesse ich dann doch eine Seite und ärgere mich ganz furchtbar darüber, dass ich nicht ALLES bedacht habe. Ich bin außerhalb von wirklich vertrauten, für mich sicheren Situationen konstant angespannt, nervös, hoch konzentriert und reagiere körperlich darauf. Nicht vertraute Menschen, Orte und Situationen sind für mich Ausnahmesituationen – immer – und ich brauche tagelang Erholung danach. Und am Ende wird analysiert, wiederholt, hinterfragt, dazu gelernt, denn ein Teil von mir will immer, immer nur eines: Einfach dazugehören können.
Ein Hinweis zum Schluss: Das ist meine Beschreibung, meines Erlebens. Für andere neurodivergente Menschen kann das ganz, ganz anders sein, denn wir haben sehr unterschiedliche Profile, unterschiedliche Stärken und Schwierigkeiten, unterschiedliche Erfahrungen und Strategien. Und es ist natürlich keine reale Geschichte – obwohl ich über den Geburtstag-Brotlaib mal nachdenken muss /hj (Tonidikator: half-joking) -, sondern nur der Versuch, verschiedene Erlebensebenen greifbar zu machen. Und mein Humor 😀