ADHS und Herausforderungen als Motivation
Mein Fitnesstracker sagt: „8.607 von 1.000 Schritten – Tagesziel übertroffen!“ Er lobt mich auch dafür, dass ich seit 287 Tagen mein Schrittziel erreiche. Mein Schrittziel von 1.000 Schritten. Eintausend. Nicht die üblichen Zehntausend.
Ich liebe Herausforderungen und als ich das erste Mal einen Fitnesstracker hatte, war die Vorgabe von 10.000 Schritte für mich hoch motivierend. Ich wollte unbedingt diese 10.000 Schritte laufen, wollte mein Schrittziel erfüllen und das jeden Tag. Ich weiß noch, wie ich auf dem Parkplatz des Supermarktes auf und ab gelaufen bin, um nur ja auf meine 10.000 Schritte kommen – und noch mehr erinnere ich mich daran, wie gestresst ich war, wann immer ich nicht einmal in die Nähe dieser 10.000 Schritte kam.
Nach wenigen Tagen schon war die Menge der Schritte keine Motivation mehr für mich, sondern eine ewige Drohkulisse: „Wenn du es nicht schaffst, 10.000 Schritte zu machen, dann verlierst du deine Siegessträhne!“ Ich war gestresst, habe mit mir selbst verhandelt, wie schlimm es ist, diese Siegessträhne zu verlieren, mich dazu gezwungen, doch noch eine Runde zu drehen, obwohl ich überhaupt nicht wollte, nur, damit der Schrittzähler zufrieden war. Ging es mir nicht gut und konnte ich mich kaum bewegen, drehten sich meine Gedanken den ganzen Tag darum, wie sich das auf meinen Fitnesstracker auswirken würde und ich war noch verzweifelter als sowieso schon.
Nach einer Weile habe ich schließlich die Schrittanzahl reduziert, zwischendurch sogar bis auf 500, bis ich sie dann irgendwann auf 1.000 gestellt habe. 1.000 Schritte, das schaffe ich jeden Tag, meistens sogar noch am Vormittag und auch an den Tagen, an denen es mir nicht gut geht und an denen ich mich eigentlich nur vom Bett auf die Couch und von der Couch ins Badezimmer und zurück schleppe. 1.000 Schritte, das ist einfach und… es ist keine Herausforderung.
Für die meisten Menschen ist das absurd, denn genau diese Herausforderung ist ja das, weswegen man überhaupt einen Schrittzähler verwendet. Es ist das, was einen dazu motiviert, mehr Schritte zu machen. Dass man abends erschrocken feststellt, dass das Schrittziel ja noch gar nicht erreicht ist und dann noch rasch ein paar Schritte macht, damit der Schrittzähler zufrieden ist – und man selbst auch, denn man hat sein Tagesziel erfüllt -, das ist durchaus so beabsichtigt.
Natürlich ist das großartig. Die 10.000 Schritte sind voll, man hat sich bewegt und das Ziel erreicht, nur… ist das wirklich die Form von Motivation, die gut für uns ist?
Ein hoch gestecktes Ziel, das schwierig zu erreichen ist, ist keine positive Motivation, sondern verursacht in erster Linie Druck und Stress, oft auch noch kombiniert mit Versagensangst.
Fitnesstracker sind dafür ausgelegt, dieses Versagen zu dokumentieren, dir mitzuteilen, dass du am Sonntag aber nicht besonders fleißig warst oder am Mittwoch dein Schrittziel nicht erreicht hast. Du warst nicht gut genug – und sogar deine Elektronik weiß es und teilt dir das mit. Das soll dich dazu motivieren, dich mehr zu bemühen. Vielleicht wirst du dadurch sonntags eine Extrarunde drehen, um damit den Schrittzähler davon zu überzeugen, dass du doch fleißig bist – und vielleicht überzeugst du ja auch dich, dass du sehr wohl gut genug, fleißig genug, fit genug bist, wenn es sogar dein Fitnessarmband sagt.
Vielleicht geht dir das alles aber auch so auf die Nerven, dass du den Schrittzähler immer seltener tragen und ihn schließlich in einer Schublade „vergessen“ wirst, weil du dich einfach nicht länger von einem Gegenstand stressen lassen möchtest und du bist damit nicht allein: Statistisch gesehen lässt die Anfangsmotivation schon nach etwa fünf Wochen nach und nach drei bis sechs Monaten haben die meisten endgültig genug vom Fitnesstracker und er landet – genau – in der Schublade.
Ich glaube, das ist bei vielen Dingen so, die man nutzt, um sich zu verbessern. Am Anfang ist man hochmotiviert, will am liebsten die Anforderungen einer ganzen Woche an nur einem Tag erledigen, brennt geradezu danach, etwas zu tun, vielleicht eine Belohnung in Form eines Badges oder eines Lobs der App zu bekommen oder auch nur sich selbst auf die Schulter klopfen zu können und zu sagen: „Gut gemacht! Du hast dein Ziel erreicht! Du warst fleißig!“
Nach einer Weile stellt man jedoch fest, dass diese ganzen schönen Anforderungen doch zu viel sind. Sie passen irgendwie nicht in den Alltag, überfordern uns, bringen uns dazu, unsere Grenzen und unsere Leistungsfähigkeit zu ignorieren. Dir geht es heute nicht gut? Tja, Pech. Du musst deine 10.000 Schritte vollbekommen!
Vielleicht zwingst du dich dann dazu, hast keinen Spaß dabei, aber – puh – wenigstens hast du dein Ziel erreicht, warst willensstark und diszipliniert! Wie toll! Oder?
Vielleicht stellst du aber auch fest, dass dieses „sich selbst zwingen“ für dich nicht funktioniert und genau das Gegenteil bewirkt und verlierst mehr und mehr die Lust daran, auch nur zu versuchen, dieses Ziel weiterhin zu erreichen.
Dann bemüht man sich noch eine Weile, sie dennoch zu erfüllen – schließlich hat man ja einen Grund dafür -, bis man es entweder immer häufiger nicht schafft und deswegen frustriert ist und sich Selbstvorwürfe macht oder es gelingt einem, einen klaren Schlussstrich zu ziehen und bewusst damit aufzuhören.
Mir ging das mit den 10.000 Schritten genauso. Am Anfang wäre ich am liebsten 15.000 gelaufen oder noch mehr. Ich liebte die Schrittanzeige, liebte es, mich selbst immer wieder zu übertreffen und mir zu beweisen, dass ich mehr und immer noch mehr leisten konnte.
Dann wurde es immer schwieriger, die 10.000 wirklich jeden Tag zu schaffen. Ich drehte die oben erwähnten Parkplatz-Runden – nicht aus Freude an der Bewegung oder wegen der tollen Kulisse, sondern nur aus dem Grund, dass ich wie besessen davon war, dieses Schrittziel zu erreichen.
Dann folgte der erste Tag, an dem es nicht klappte und ich war verzweifelt, schämte mich und ärgerte mich über mich. Ich nahm mir fest vor, dass es eine Ausnahme zu bleiben hatte, dass ich am nächsten Tag wieder 10.000 Schritte gehen würde – oder noch mehr, denn ich hatte die besten Absichten! Trotzdem funktionierte es bald schon wieder nicht und ich ärgerte mich noch mehr und schließlich wollte ich die Smartwatch – diese Zeugin meines Versagens – gar nicht mehr so recht tragen. Trug ich sie doch, machte ich mir automatisch Stress.
Geholfen hat mir schließlich die Reduktion der Schritte.
Im Durchschnitt komme ich auf etwa 6.000 bis 7.000 Schritte pro Tag. Da sind Tage mit 2.000 Schritten ebenso dabei wie solche mit 15.000 oder mehr Schritten. Je nachdem, wie es halt gerade passt, worauf ich Lust habe, was mein Körper zu leisten in der Lage ist, wie ich Zeit habe und was ich so unternehme.
Man kann jetzt natürlich argumentieren, dass ich ganz offensichtlich nicht auf die magischen 10.000 Schritte am Tag komme und mutmaßen, dass das an der fehlenden Motivation liegt, der Punkt ist aber: Diese Form von „Motivation“ war für mich das genaue Gegenteil.
Zu wissen, dass mich 10.000 Schritte pro Tag regelmäßig überfordern und ich dann jedes Mal von mir selbst enttäuscht bin, hat mich massiv demotiviert. Meine 1.000 Schritte sind vielleicht keine Motivation zu mehr Schritten, aber sie sind vor allem auch keine Demotivation, die mich Tag für Tag frustriert, mein Selbstwertgefühl schmälert und mich gänzlich davon abbringt, mich mehr als notwendig zu bewegen.
Es heißt immer, Menschen mit ADHS werden durch Herausforderung motiviert und ich würde das sofort unterschreiben. Was aber oft unterschlagen wird: Wir werden genauso leicht durch etwas (auch nur scheinbar) Unerreichbares demotiviert!
Wir müssen Herausforderungen finden, die für uns machbar sind – es reicht noch nicht einmal, uns zu sagen, dass wir doch nur daran glauben müssen, dass wir es könnten, denn so ein ADHS-Kopf lässt sich nicht so einfach austricksen. Er weiß genau, was er selbst für machbar hält und was wir ihm nur einreden wollen und etwas, das nur eingeredet war, motiviert ihn einfach mal überhaupt nicht. Im Gegenteil: Er liebt es, dann zu beweisen, dass er von Anfang an recht hatte und es eben nicht möglich war. (Ja, ich finde meine ADHS etwas rechthaberisch.)
Wenn wir etwas als nicht erreichbar betrachten – ob aus Erfahrung oder aus Sturheit -, dann motiviert es uns nicht, sondern demotiviert uns. Es bringt uns nicht dazu, etwas zu versuchen und uns zu bemühen, sondern eher dazu, trotzig in der Ecke zu sitzen und notfalls die Beweise zu vernichten; z.B. die Uhr in der Schublade zu „verlieren“.
Herausforderung ist etwas Wunderbares – gerade für Menschen mit ADHS. Wir müssen allerdings akzeptieren, dass das, was unsere ADHS als Herausforderung betrachtet nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, von dem wir gerne hätten, dass es als Herausforderung betrachtet wird und wir müssen lernen, für uns passende Herausforderungen zu finden, die dann auch wirklich funktionieren.
Sind meine 1.000 Schritte eine Herausforderung? Nein. Aber meine Motivation, spazieren zu gehen und damit Schritte zurückzulegen, liegt auch nicht in einer Herausforderung oder der Anzahl, sondern darin, dass ich Spaß am Spazierengehen an sich habe, dass ich die Natur beobachten kann, dass ich verschiedene Untergründe fühle, Wind auf meiner Haut, Sonnenschein…
Herausforderungen sind eine tolle Motivation – aber nicht immer die Richtige und schon gar nicht die Einzige.