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My neurodivergent life is a piece of art

Weil wir wertvoll sind

Weil wir wertvoll sind

11. Mai 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Den Großteil meines Lebens hielt ich mich für einen ganz furchtbaren Mensch. Ich dachte, ich wäre faul, disziplinlos und wertlos. Während alle um mich herum ein „ordentliches“ Erwachsenenleben lebten, einen Job hatten, Kinder großzogen, ihren Haushalt im Griff hatten, sich ehrenamtlich engagierten, Hobbys und Freundschaften pflegten, hatte ich… nichts davon.

Ich habe keine Kinder, mein Haushalt schwankt konstant zwischen eigentlich ordentlich und undefinierbarem Chaos, meine Hobbys wechseln ständig, meine Freundschaften sind extrem eng oder nicht existent und beruflich kam ich immer nur dann klar, wenn ich mit Menschen zu tun hatte, die mir viel Freiraum gaben und mir gleichzeitig einen sicheren Rahmen boten, in dem ich die Regeln verstand und in Ruhe meinen Aufgaben nachgehen konnte.

In den meisten Jobs, die ich bisher hatte, ging es mir früher oder später richtig schlecht. Immer wieder kam es zu Situationen, in denen ich meine Arbeit nicht mehr tun konnte, weil alles in mir dagegen rebellierte. Und mit „alles“ meine ich tatsächlich alles. Mein Magen krampfte sich zusammen, meine Schulter- und Nackenmuskeln verhärteten, ich hatte einen Druck im Hals, meine Augen brannten, meine Gedanken begannen zu rasen und ich fühlte mich, wie kurz vor einer Panikattacke. Dazu kam das geradezu unerträgliche Gefühl, schreien und heulen zu müssen. Ich tat es nicht, aber ich kämpfte. Ich zwang mich dazu, meine Arbeit zu tun und umso mehr ich mich zwang, umso schlechter ging es mir damit.

„Augen zu und durch“, bekam ich dann zu hören oder: „Wir alle müssen manchmal Dinge tun, die wir nicht wollen, stell dich nicht so an.“

Ich dachte, sie hätten Recht und es läge daran, dass ich faul und arbeitsscheu wäre und mich vor meiner Arbeit drücken wollte, weil ich einfach keine Lust darauf hatte. Ich empfand das zwar nicht so, aber ich hatte mein Leben lang gehört, dass ich faul wäre, also musste doch etwas daran sein? Ich sah, wie andere ihre Arbeit erledigten und dachte, sie litten genauso sehr wie ich, würden das aber weniger zeigen, sich einfach mehr bemühe und schlichtweg arbeitsamer sein. Ich dachte, wenn ich das auch wäre, dann wäre alles gut.

Ich bemühte mich von ganzem Herzen – aber ich litt immer mehr. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, verbrachte Stunden um Stunden damit, alles, was am Arbeitstag passiert war, noch einmal zu hinterfragen und durchzudenken, überlegte mir hunderte von Strategien, wie ich noch eine Woche durchhalten könnte und noch eine. Ich hatte Angst davor, am nächsten Tag wieder dieser einen Person zu begegnen, deren Ansprüche für mich so unverständlich und wechselhaft waren, dass ich konstant an mir zweifelte. Ich fürchtete mich davor, wieder mit jener Person zu tun zu haben, die ständig ihre Anweisungen an mich vergaß und dann sagte, ich hätte etwas falsch gemacht. Ich machte mir Sorgen, dass ich wieder mit der Person zu tun haben würde, die von mir ein unterwürfiges Verhalten erwartete, das ich aber nicht zu ihrer Zufriedenheit erfüllen konnte.

Ich fühlte mich konstant fehlerhaft und minderwertig und gab mir die Schuld daran. Ich litt darunter, nicht einfach so sein zu können, wie man mich haben wollte – dabei verstand ich noch nicht einmal genau, WIE man mich haben wollte, nur, dass es offensichtlich besser wäre, wenn „ich“ weniger „ich“ wäre.

Ich wurde schließlich sehr krank und man legte mir nahe, zu kündigen. Ich verstand das, wollte es aber auf gar keinen Fall, denn was wäre ich denn dann überhaupt noch wert? Man war doch nur mit Job ein guter Mensch! Zumindest war es das, wovon ich überzeugt war.

Nach vielen, vielen Gesprächen mit dem Ehemann kündigte ich dann doch, denn auch wenn es mir schwerfiel, ihm zu glauben, dass mein Wert nichts mit (m)einem Job zu tun hatte, so wusste ich doch, dass er zumindest in einem Punkt recht hatte: Der Job tat mir nicht gut.

Es folgten ein paar andere Jobs, aber meistens merkte ich schon nach kurzer Zeit: Das funktioniert nicht. Ich machte mir beständig große Vorwürfe, hielt mich für unfähig und nicht belastbar genug, fand mich zu pingelig und zu schwierig, zu faul und arbeitsunwillig und wieder dachte ich, ich müsste nur einfach aufhören, ich zu sein, dann wäre schon alles in Ordnung. Aber wie machte man das?

Ich fand es nicht heraus, aber dafür fand ich etwas anderes: Eine ganz wunderbare Chefin! Mit einem Mal fühlte ich mich nicht mehr falsch, sondern ganz außerordentlich wohl. Ich hatte Freude an meiner Arbeit, wurde geschätzt und konnte meine Stärken ausleben. Ich hatte überhaupt kein Problem mit all diesen Aufgaben, die nicht wirklich Freude machen! Sie waren halt da und ich erledigte sie – ganz ohne Probleme. Vieles von dem, was für mich Stress bedeutete, fing meine Chefin auf, sie unterstützte mich und ließ mir meine Freiräume.

So wohl ich mich auch fühlte, meine psychischen und physischen Probleme führten dennoch immer wieder zu Ausfällen und ich empfand mich als Enttäuschung.

Ich arbeitete viele Jahre mit dieser Chefin zusammen, doch irgendwann wechselte sie die Stelle und ich bekam einen neuen Chef – und wieder funktionierte es nicht.

Schon nach kürzester Zeit war ich massiv gestresst, hatte Angst vor dem nächsten Arbeitstag, dachte an nichts als die Arbeit und war konstant überreizt. Es ging mir schlecht, ich litt auch an Nicht-Arbeitstagen gewaltig und mir wurde klar: Ich musste da weg. Ich kündigte schließlich sobald es nur ging und war unfassbar erleichtert darüber.

Ich habe seither keinen neuen Job gesucht. Ein bisschen ist da die Angst, wieder in so eine Situation zu kommen, ein bisschen ist es die Tatsache, dass meine physische und psychische Gesundheit nicht so zuverlässig sind, wie ich (und potenzielle Arbeitgeber) das gerne hätten. Ein bisschen ist es vielleicht auch Trotz gegenüber einer Gesellschaft, die einem Arbeit als Zeichen des eigenen Wertes verkauft. Vor allem aber ist es ganz viel Wissen, dass es mir ohne festen Job besser geht. Viel, viel besser.

Ich schäme mich bis heute manchmal dafür und wenn ich weiß, dass ich neue Menschen kennenlernen werde, überlege ich mir schon lange davor, was ich wohl auf die Frage „Und was machst du beruflich?“ antworten werde, denn die gesellschaftliche Abwertung für Menschen, die nicht erwerbstätig sind, ist real.

Arbeitet man nicht, dann gilt man als faul, als disziplinlos und als Belastung. Man bekommt zweifelnde Blicke, was man denn den ganzen Tag tun würde, manche sind neidisch über die viele Freizeit, andere erwarten, dass man eben jene Freizeit dann doch möglichst sinnvoll nutzt. Arbeitet man nicht, hat man sich sozial zu engagieren, einen perfekten Haushalt zu führen oder doch wenigstens den Ehepartner perfekt zu umsorgen, denn den nutzt man ja offensichtlich total aus. /s Tonidikator: Sarkasmus

Der Gedanke, dass jeder Mensch seinen Möglichkeiten entsprechend lebt, ist den meisten zumindest in der Theorie noch klar. Wie unterschiedlich diese Möglichkeiten aber verteilt sind, ist schon deutlich schwieriger nachzuvollziehen. Wie oft bekommt man zu hören: „Da muss man sich einfach nur mehr anstrengen!“

Meine Möglichkeiten sind stark begrenzt: Ich bin chronisch krank, habe eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (und andere psychische Probleme) und muss als neurodivergenter Mensch in einer Welt, die nicht für mich gemacht ist, klarkommen. Selbst ohne Erwerbsarbeit fehlt mir oft schon die Energie für den ganz banalen Alltag. So sehr ich mich auch anstrenge, meine Möglichkeiten bleiben dennoch begrenzt.

Ich habe genug davon zu hören, dass ich weniger faul sein oder mich mehr bemühen soll. Ich will nicht mehr gesagt bekommen, dass ich „halt einfach machen“ soll und mich nicht in Ausreden flüchten soll und das ja alles gar nicht so schlimm wäre und andere ja auch xy tun könnten. Und vor allem möchte ich nicht länger das Gefühl vermittelt bekommen, eine Bürde zu sein, eine Belastung, ein Schmarotzer oder dass ich ja Glück hätte, dass mein Ehemann noch bei mir wäre, obwohl ich so bin wie ich bin.

Jeder Mensch ist wertvoll.

Vielleicht erschließt sich nicht jedem oder jeder, worin dieser Wert besteht, aber weißt du was: Das muss es auch gar nicht. Behandle Menschen einfach so, als wäre dir absolut klar, dass sie gut und wertvoll und wichtig und, ja, auch nützlich sind. Vielleicht fällt dir dann irgendwann auf, dass es tatsächlich so ist und wie sehr sie dein Leben bereichern.

ADHS und Herausforderung als Motivationsfaktor

ADHS und Herausforderung als Motivationsfaktor

10. Mai 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Fitnesstracker sagt: „8607 von 1000 Schritten – Tagesziel übertroffen!“ Er lobt mich auch dafür, dass ich seit 287 Tagen mein Schrittziel erreiche. Mein Schrittziel von 1000 Schritten. Eintausend. Nicht die üblichen Zehntausend.

Ich liebe Herausforderungen und als ich das erste Mal einen Fitnesstracker hatte, war die Vorgabe von 10000 Schritte für mich hoch motivierend. Ich wollte unbedingt diese 10000 Schritte laufen, wollte mein Schrittziel erfüllen und das jeden Tag. Ich weiß noch, wie ich auf dem Parkplatz des Supermarktes auf und ab gelaufen bin, um auf meine 10000 Schritte kommen – und noch mehr erinnere ich mich daran, wie gestresst ich war, wann immer ich nicht einmal in die Nähe dieser 10000 Schritte kam.

Nach wenigen Tagen schon war die Menge der Schritte keine Motivation mehr für mich, sondern eine ewige Drohkulisse: „Wenn du es nicht schaffst, 10000 Schritte zu machen, dann verlierst du deine Siegessträhne!“ Ich war gestresst, habe mit mir selbst verhandelt, wie schlimm es ist, diese Siegessträhne zu verlieren, mich dazu gezwungen, doch noch eine Runde zu drehen, obwohl ich überhaupt nicht wollte, nur, damit der Schrittzähler zufrieden war. Ging es mir nicht gut und konnte ich mich kaum bewegen, drehten sich meine Gedanken den ganzen Tag darum, wie sich das auf meinen Fitnesstracker auswirken würde und ich war noch verzweifelter als sowieso schon.

Nach einer Weile habe ich schließlich die Schrittanzahl reduziert, zwischendurch sogar bis auf 500, bis ich sie dann irgendwann auf 1000 gestellt habe. 1000 Schritte, das schaffe ich jeden Tag, meistens sogar noch am Vormittag und auch an den Tagen, an denen es mir nicht gut geht und an denen ich mich eigentlich nur vom Bett auf die Couch und von der Couch ins Badezimmer und zurück schleppe. 1000 Schritte, das ist einfach und es ist keine Herausforderung.

Für die meisten Menschen ist das absurd, denn genau diese Herausforderung ist ja das, weswegen man überhaupt einen Schrittzähler verwendet. Es ist das, was einen dazu motiviert, mehr Schritte zu machen. Es ist durchaus gewollt, dass es so funktioniert, dass man abends erschrocken feststellt, dass das Schrittziel ja noch gar nicht erreicht ist und dann noch rasch ein paar Schritte macht, damit der Schrittzähler zufrieden ist – und man selbst auch, denn man hat sein Tagesziel erfüllt.

Natürlich ist das großartig. Die 10000 Schritte sind voll, man hat sich bewegt und das Ziel erreicht, nur… ist das wirklich die Form von Motivation, die gut für uns ist?

Ein hoch gestecktes Ziel, das schwierig zu erreichen ist, ist keine positive Motivation, sondern verursacht in erster Linie Druck und Stress, oft auch noch kombiniert mit Versagensangst.

Fitnesstracker sind dafür ausgelegt, dieses Versagen zu dokumentieren, dir mitzuteilen, dass du am Sonntag aber nicht besonders fleißig warst oder am Mittwoch dein Schrittziel nicht erreicht hast. Du warst nicht gut genug – und sogar deine Elektronik weiß es und teilt dir das mit. Das soll dich dazu motivieren, dich mehr zu bemühen. Vielleicht wirst du dadurch sonntags eine Extrarunde drehen, um damit den Schrittzähler davon zu überzeugen, dass du doch fleißig bist – und vielleicht überzeugst du ja auch dich, dass du sehr wohl gut genug, fleißig genug, fit genug bist, wenn es sogar dein Fitnessarmband sagt.

Vielleicht geht dir das alles aber auch so auf die Nerven, dass du den Schrittzähler immer seltener tragen und ihn schließlich in einer Schublade „vergessen“ wirst, weil du dich einfach nicht länger von einem Gegenstand stressen lassen möchtest und du bist damit nicht allein: Statistisch gesehen lässt die Anfangsmotivation schon nach etwa fünf Wochen nach und nach drei bis sechs Monaten haben die meisten endgültig genug vom Fitnesstracker.

Ich glaube, das ist bei vielen Dingen so, die man nutzt, um sich zu verbessern. Am Anfang ist man hochmotiviert, will am liebsten die Anforderungen einer ganzen Woche an nur einem Tag erledigen, brennt geradezu danach, etwas zu tun, vielleicht eine Belohnung in Form eines Badges oder eines Lobs der App zu bekommen und nach einer Weile stellt man fest, dass diese ganzen schönen Anforderungen doch zu viel sind. Dann bemüht man sich noch eine Weile, sie dennoch zu erfüllen – schließlich hat man ja einen Grund dafür -, bis man es entweder immer häufiger nicht schafft und deswegen frustriert ist und sich Selbstvorwürfe macht oder es gelingt einem, einen klaren Schlussstrich zu ziehen und bewusst damit aufzuhören.

Mir ging das mit den 10000 Schritten genau so. Am Anfang wäre ich am liebsten 15000 gelaufen oder noch mehr, dann wurde es immer schwieriger, die 10000 zu schaffen, dann folgte der erste Tag, an dem es nicht klappte und ich war verzweifelt, schämte mich und ärgerte mich über mich, hatte die besten Absichten und trotzdem funktionierte es bald schon wieder nicht und ich ärgerte mich noch mehr und wollte die Smartwatch gar nicht mehr so recht tragen. Trug ich sie doch, machte ich mir automatisch Stress.

Geholfen hat mir tatsächlich die Reduktion der Schritte. Im Durchschnitt komme ich auf etwa 6000 bis 7000 Schritte pro Tag. Da sind Tage mit 2000 Schritten ebenso dabei wie solche mit 15000 oder mehr Schritten.

Man kann jetzt natürlich argumentieren, dass ich ganz offensichtlich nicht auf 10000 Schritte am Tag komme und mutmaßen, dass das an der fehlenden Motivation liegt, der Punkt ist aber: Diese Form von „Motivation“ war für mich das genaue Gegenteil. Zu wissen, dass mich 10000 Schritte pro Tag regelmäßig überfordern und ich dann jedes Mal von mir selbst enttäuscht bin, hat mich massiv demotiviert. Meine 1000 Schritte sind vielleicht keine Motivation zu mehr Schritten, aber sie sind vor allem auch keine Demotivation, die mich Tag für Tag frustriert, mein Selbstwertgefühl schmälert und mich gänzlich davon abbringt, mich mehr als notwendig zu bewegen.

Es heißt immer, Menschen mit ADHS werden durch Herausforderung motiviert und ich würde das sofort unterschreiben. Was aber oft unterschlagen wird: Wir werden genauso leicht durch etwas (auch nur scheinbar) Unerreichbares demotiviert! Wir müssen Herausforderungen finden, die für uns machbar sind – es reicht noch nicht einmal, einfach nur daran zu glauben, dass wir es könnten, denn wenn wir scheitern, verlieren wir oft sofort jegliche Motivation.

Herausforderungen dürfen und sollen herausfordernd sein, aber sie sollen nicht überfordern. Nur dann funktionieren sie als Motivation.

Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?

Ohne Leid kein Autismus? Oder: Ist Autismus eine Krankheit?

4. Mai 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ganz am Anfang beginnen: Was ist eine Krankheit? Wann ist man überhaupt krank? Und wann ist man gesund?

Nun, eines vorweg: Die Frage ist viel schwieriger zu beantworten, als man denkt, denn beide Begriffe sind letzten Endes nur sprachliche Konstrukte und so es gibt viele Definitionen für Gesundheit und Krankheit. Die einfachste lautet: Wer nicht gesund ist, ist krank.

Aber wie ist man überhaupt gesund?

Die WHO sagt dazu:

“Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.”

(Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.)

Satzung der Weltgesundheitsorganisation

Das geht weit über das, was wir in unserem Alltag als „Gesundheit“ verstehen, hinaus. Laut der Definition der WHO sind wir nur gesund, wenn unser Wohlbefinden nicht gestört ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist krank aber doch eher etwas, das sich „schlimmer“ anfühlt und wir haben daher für all das, was zwischen diesem „schlimmer“ und „gesund“ liegt das Wort „Befindlichkeitsstörung“ erfunden. Habe ich eine Befindlichkeitsstörung ist mein (Wohl-)befinden durch irgendetwas gestört ist, es „geht mir nicht so gut“.

Im Alltag werden Befindlichkeitstörungen leider meistens abgetan. Es ist ja nichts „Richtiges“, keine echte Krankheit. Aber was ist überhaupt eine Krankheit? In der Wikipedia findet man dazu folgendes:

Krankheit [..] ist ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit, der auf Funktionsstörungen von einem oder mehreren Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus eines Lebewesens beruht.

Wikipedia

Das leuchtet durchaus ein: Habe ich zum Beispiel eine Erkältung ist meine Leistungsfähigkeit ganz klar vermindert. Habe ich mir den Arm gebrochen auch. Jetzt gibt es aber auch Krankheiten, die meine Leistungsfähigkeit vielleicht gar nicht einschränken, oder chronische Krankheiten, die in Schüben auftreten und wo meine Leistungsfähigkeit zwischen den Schüben nicht vermindert ist. Krankheiten sind sie trotzdem.

Und die Befindlichkeitstörung? Ich fürchte, an der Stelle müssen wir sagen: „Es kommt darauf an.“

Die Sache ist die: Die Grenzen zwischen Krankheit, Befindlichkeitsstörung und Gesundheit sind letzten Endes fließend und von unserer sozialen und kulturellen Prägung abhängig. Personen mit den gleichen Symptomen können sich trotzdem unterschiedlich einstufen – die eine empfindet sich vielleicht noch als gesund, während die zweite sich schon deutlich krank fühlt und eine dritte findet, sie wäre „nicht so richtig krank, aber auch nicht gesund“. Wenn diese Personen aber zum Arzt gehen wird sie*er möglicherweise in allen drei Fällen sagen: „Sie sind krank, sie haben…“

An dieser Stelle kommen wir also zu dem, was ganz offensichtlich Krankheiten sind, nämlich das, was Ärztinnen und Ärzte diagnostizieren.

Stellen Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen eine Diagnose, erhält diese Diagnose einen Code gemäß der ICD-10. ICD steht dabei für International Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und wird von der WHO herausgegeben. Die 10 steht für die Versionsnummer und ist in der deutschen Fassung (ICD-10-GM) die aktuell in Deutschland gültige.

In der ICD-10 werden alle Krankheiten mit einem Code verschlüsselt – du kennst das vielleicht von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, da steht häufig ein Buchstabe gefolgt von ein paar Zahlen. Schnupfen hat zum Beispiel den Code J00, Frühkindlicher Autismus ist F84.0, Asperger-Autismus (ein heute von vielen stark abgelehnter Begriff!) hat den Code F84.5. Wie du siehst, unterscheidet die ICD-10 noch verschiedene Typen von Autismus. Das wird in der Folgeversion ICD-11 zur Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Die Version 11 ist inzwischen von der WHO verabschiedet, wird in Deutschland aber voraussichtlich frühestens in 5 Jahren eingeführt.

Den Diagnosen durch die ICD einen Code zuzuordnen, dient vor allem der statistischen Erfassung von Krankheiten und deren Abrechenbarkeit gegenüber Krankenkassen. In der ICD finden sich aber teilweise auch Diagnosekriterien für Krankheiten.

Für psychische Erkrankungen wurde in den USA zusätzlich das DSM entwickelt, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und statistisches Handbuch für psychische Störungen). Der große Unterschied zur ICD ist, dass das DSM sich deutlich stärker auf die Diagnose der (psychischen) Krankheiten konzentriert. Es gilt heute international als Standardwerk der Psychiatrie. Aktuell liegt es in der 5. Fassung (DSM-5 oder DSM-V) aus dem Jahr 2013 vor, die auch auf Deutsch übersetzt wurde.

Einer der Grundsätze des DSM ist es, für jede psychische Erkrankung Symptome aufzulisten und genaue Kriterien festzulegen, welche davon unbedingt für eine Diagnose erforderlich sind. Die Symptome sind hauptsächlich von außen sichtbare, klinische Merkmale und werden möglichst neutral beschrieben.

Das ist gleichzeitig einer der Kritikpunkte am DSM. Eine rein symptombasierte Diagnostik ist immer subjektiv und unterliegt der Einschränkung dessen, was überhaupt als Symptom von außen erkannt werden kann. Sie lässt andere wichtige Hinweise, wie zum Beispiel das Erbgut oder bildgebende Verfahren (wie MRT oder CT), außen vor. Auch das, was von neurodivergenten Menschen als „andere“ Denkweise betrachtet wird, findet in den Diagnosekriterien des DSM keine Berücksichtigung. Es ist nur ein Blick von außen.

Das DSM und die ICD sind ausschließlich für die Klassifizierung (und Diagnose) von Störungen und Krankheiten vorgesehen. Für psychische Störungen gilt dabei laut DSM: „Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten.“

Ich habe also (typischerweise) nur dann eine psychische Störung, wenn ich bedeutsam leide, und damit kommen wir zurück zur Überschrift: Ohne Leid kein Autismus?

Es steckt schon im Namen: Autismus, eigentlich ja Autismus-Spektrum-Störung, ist eine (psychische) Störung und als solche setzt sie also voraus, dass ich leide. Und tatsächlich, die zwingend notwendigen Diagnosekriterien für Autismus laut DSM-5 besagen:

„[Die] Symptome verursachen klinisch signifikante Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen der gegenwärtigen Funktionsweise.“

DSM-5

Im Deutschen wird das häufig als „Leidensdruck“ interpretiert und ich kenne Fälle, in denen bei der Diagnostik tatsächlich abgefragt wurde: „Leiden Sie?“ In anderen Fällen interpretiert die diagnostizierende Person selbst, ob der Patient oder die Patientin zu leiden scheint oder ob die Beeinträchtigungen ausreichend signifikant sind. Ist das Leiden nicht ersichtlich oder werden die Beeinträchtigungen nicht als ausreichend signifikant bewertet (wofür es übrigens keine Skala gibt), erfolgt keine Autismus-Diagnose. Das betrifft auch AD(H)S, denn dort gilt das gleiche Kriterium.

Jetzt kann man natürlich sagen: „Na, wenn du nicht stark beeinträchtigt bist, hast du auch keine Störung. Freu dich doch!“ Vielleicht wirke ich aber nur nicht so stark beeinträchtigt, weil ich es geschafft habe, mein Leben für mich passend einzurichten und mein – letzten Endes ja auch immer subjektives – Leid ist sehr gering.

Nehmen wir eine klassische Frage aus Autismus-Screening-Tests: „Machen Ihnen gesellige Anlässe Spaß?“ Ich würde die Frage mit einem klaren „Nein!“ beantworten. Bei einem geselligen Anlass fühle ich mich äußerst unwohl und möchte eigentlich die ganze Zeit nur weg. Dort leide ich tatsächlich. Das muss ich aber gar nicht, denn ich habe auch die Möglichkeit, nicht hinzugehen! Im Normalfall nehme ich an geselligen Anlässen nicht teil und empfinde somit auch keinen Leidensdruck dabei. Ist es eine Beeinträchtigung für mich, dort nicht hinzugehen? Nein. Die Beeinträchtigung entsteht nur dann, wenn ich hingehen muss und das ist so selten, dass ich dabei nicht von einer „signifikanten Beeinträchtigung“ reden würde. Meine „Strategie“ reduziert also die Wahrscheinlichkeit, dass ich als leidend gesehen werde und somit – laut DSM-5 – auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich Autistin bin!

An der Stelle dreht sich jetzt alles ein wenig im Kreis: Ich brauche solche Strategien, weil ich autistisch bin, entwickle ich aber viele davon, um mit meinem Autismus klarzukommen, habe ich nicht mehr ausreichend Beeinträchtigungen um überhaupt als Autistin zu gelten. Man könnte also sagen: Umso besser ich mit meinem Autismus zurechtkomme, umso weniger bin ich mit Autismus diagnostizierbar. /hj Tonindikator: half-joking

Das ist der für mich größte Kritikpunkt an den aktuellen Diagnosekriterien von Autismus. Autismus ist es offiziell nur dann, wenn ich signifikante Probleme habe, die auch noch jemand anderes so bewerten muss! (Gilt auch für ADHS.)

Das Hauptproblem liegt dabei darin, dass nur psychische Störungen diagnostiziert werden. Eine neurologische Abweichung ist aber nicht automatisch eine Störung, es ist erstmal einfach nur eine Abweichung. Zur diagnostizierbaren Störung – mit dem notwendigen Kriterium der Beeinträchtigung – wird es erst dadurch, dass ich tatsächlich beeinträchtigt werde.

Was bin ich jetzt aber, wenn ich diese Beeinträchtigung nicht so empfinde, mich nicht leidend fühle oder es von außen nicht so wahrgenommen wird? Ehrlich gesagt: Ich fürchte, es gibt keinen Begriff dafür.

Autismus-Spektrum-Störung (Autismus) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind Begriffe für Störungen und alles was keine Störung ist, hat bisher einfach keine Bezeichnung. Ich würde dennoch erstmal sagen: Es ist Autismus. Es ist ADHS. Für die ganz Korrekten vielleicht: Nicht pathologische Autismus-Spektrum-Störung bzw. nicht pathologische ADHS. Oder ich würde allgemein von Neurodivergenz sprechen, was aber leider die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Neurodivergenzen unsichtbar macht, die ja noch mehr umfassen als nur ADHS und Autismus.

Letzten Endes bräuchten wir aber neue Bezeichnungen für die verschiedenen neurodivergenten Ausprägungen. Bezeichnungen, die nicht von Störungen ausgehen und deren Diagnose nicht ausschließlich auf dem basiert, was andere Menschen von uns wahrnehmen. Wir bräuchten Diagnosekriterien, die unsere Innensicht berücksichtigen und uns nicht länger als Krankheit oder Störung betrachten und im allerbesten Fall würden unsere Bedürfnisse, unsere Eigenarten und unsere Andersartigkeit auch ohne Diagnose berücksichtigt werden, weil wir als Gesellschaft lernen würden, auf alle Rücksicht zu nehmen.

Utopisch? Ja. Aber anfangen können wir trotzdem schon mal damit.

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