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My neurodivergent life is a piece of art

Deine Neurodivergenz macht dich nicht zum Safe Space

Deine Neurodivergenz macht dich nicht zum Safe Space

10. März 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Als ich das erste Mal online von meinem Autismus erzählte passierte etwas sehr Schönes: Menschen, die ebenfalls Autist*innen waren, begannen, sich mit mir auszutauschen, erzählten mir von ihren Leben, ihren Schwierigkeiten und sofort fühlte ich mich bedeutend weniger alleine.

Eines Tages aber machte ich den „Fehler“ und erzählte davon, dass Duschen für mich oft schwierig wäre, weil ich Wasser auf meiner Haut nicht immer ertragen kann. Eine Person, mit der ich davor sehr viel Kontakt hatte, war empört, beschimpfte mich, beschuldigte mich, ihr das Leben durch solche Aussagen schwerzumachen und erwartete von mir, „so etwas“ nie wieder über Autist*innen zu sagen.

Ich war geschockt. Ich zitterte am ganzen Körper, wiederholte wieder und wieder, was sie gesagt hatte, was sie aufgeregt hatte, was da abgegangen war, sprach mit verschiedenen Menschen darüber und brauchte dennoch am Ende Monate, in denen ich mich auch komplett von Social Media zurückzog, um endlich damit klarzukommen, und die Angst vor einer möglichen weiteren solchen Reaktion zu verlieren.

Irgendwann traute ich mich zurück, traute mich auch wieder, auch „solche“ Dinge zu teilen, aber ich bin bis heute sehr, sehr zurückhaltend, was engeren Kontakt zu anderen Menschen anbelangt – auch und gerade zu anderen neurodivergenten Menschen!

Als marginalisierte Menschen tendieren wir dazu, andere Menschen, die zu unserer Gruppe gehören, automatisch als Safe(r) Space wahrzunehmen. Die sind wie wir! Da müssen wir nicht masken, nicht immer alles erklären, nicht um Verständnis für unsere Probleme bitten, denn wir wissen, dass wir diese Probleme teilen und sie damit verstehen können.

Das passiert in jeder Gruppe: People of Color, Behinderte, neurodivergente Menschen, queere Menschen, Alleinerziehende, Pflegende…. Wir fühlen uns zueinander hingezogen, weil wir ähnliche Kämpfe haben, weil wir wissen, wie es ist, in dieser Gesellschaft nicht immer dazuzugehören und oft sind wir so dankbar dafür, endlich Menschen gefunden zu haben, die so sind wie wir, dass wir vergessen, dass es nicht diese eine Eigenschaft ist, die uns ausmacht, die uns „kompatibel“ zueinander macht, sondern noch viel, viel mehr.

Wir vergessen, dass wir trotz eines identischen Hintergrundes, ganz unterschiedliche weitere Hintergründe haben können, unterschiedliche Werte, unterschiedliche Lebenssituationen und uns in ganz unterschiedlichen Stadien unserer persönlichen Entwicklungsreise befinden können.

Wir haben dennoch etwas gemeinsam – gar keine Frage -, aber all diese anderen Dinge beeinflussen, wie wir miteinander umgehen.

Als ich damals davon erzählte, dass ich Duschen schwierig finde, dass Wasser sich schmerhaft auf meiner Haut anfühlen kann, da war ich total glücklich, denn ich hatte etwas über mich gelernt, das mir schon mein Leben lang Probleme bereitet, mit Scham behaftet ist und mit regelmäßigen inneren Kämpfen verbunden war. Ich war so glücklich, dass es offensichtlich auch anderen Menschen so ging (denn ich hatte in einem Instagram-Post darüber gelesen) und ich wollte diese Freude teilen, damit es noch mehr Menschen so gehen würde, wie mir.

Was mir entgegenkam war Ableismus.

Ich verstehe das heute und ich verstehe auch, dass diese Person ihren internalisierten Ableismus gegen mich gerichtet hat, weil es das Einzige war, was ihr einen Umgang mit ihren eigenen „Schwächen“ ermöglicht hat.

Internalisierter Ableismus der zu einer Waffe gegen andere behinderte Menschen wird, begegnet mir seither immer wieder. Während er mich bei nicht-behinderten Menschen nicht wundert, macht er mich bei anderen behinderten und neurodivergenten Menschen sehr traurig. Ich weiß, dass diese Menschen sich immer wieder selbst dafür verachten, wie sie sind. Ich weiß, dass diese Menschen ihren unreflektierten, internalisierten Ableismus nicht nur gegen andere Menschen richten, sondern auch gegen sich selbst. Ich weiß aber auch, dass es diese Menschen zu einem Risiko für mich und andere behinderte Menschen macht.

Nicht, weil sie denselben ableistischen Gedanken wie die Allgemeinheit anhängen – was schon problematisch genug ist -, sondern weil wir als behinderte und neurodivergente Menschen, dazu neigen, ihnen zu vertrauen, weil sie so sind wie wir. Wir vertrauen ihnen, wir lassen sie an uns heran, wir öffnen uns ihnen gegenüber – und dann werden wir von jenen verraten, denen wir uns eigentlich verbunden fühlen, weil sie ihren eigenen Ableismus noch nicht als Problem erkannt haben, noch nicht ausreichend reflektiert, noch nicht ausreichend überarbeitet haben.

Am stärksten fällt es mir tatsächlich immer wieder in punkto Ableismus auf, aber das ist nicht der einzige dieser Punkte, wo ich merke, dass neurodivergente Menschen für mich oft gefährlicher sind als neurotypische. Auch unterschiedliche Werte, ein unterschiedliches Grundverständnis oder unterschiedliche Basisannahmen können zu einem Risiko werden.

Ich glaube fest an einige Dinge, die mir wichtig sind, die mein Wesen, mein gesamtes Verständnis dieser Welt (mit-)bestimmen und der Punkt ist: Du kannst noch so viele Ähnlichkeiten zu mir haben, noch so viele meiner Marginalisierungen teilen, wenn du in diesen Grundannahmen anders denkst als ich, werden wir einander irgendwann verletzen.

Ich glaube ganz fest daran, dass jede*r von uns selbst für das eigene Handeln verantwortlich ist – aber nicht für das anderer Menschen. Ich glaube ganz fest daran, dass jede*r von uns, das eigene Beste versucht, dieses „Beste“ aber ganz unterschiedlich ist. Ich glaube daran, dass niemand absichtlich anderen schaden sollte. Ich glaube daran, dass wir zur Selbstreflexion fähig sind und regelmäßig unsere eigenen Überzeugungen und Handlungen reflektieren sollten – erst recht, wenn uns jemand einer (anderen) marginalisierten Gruppe für etwas kritisiert.

Ich glaube daran, dass es unser aller Aufgabe ist, die Welt für ALLE Menschen zu einem guten Ort zu machen, und dass wir damit einhergehend alle, die noch weniger eine Stimme als wir selbst haben, ganz selbstverständlich unterstützen müssen und kein Sieg ein echter Sieg ist, wenn er nur für unsere eigene Gruppe errungen wird.

Und ich glaube ganz fest daran, dass jeder Mensch gleich wertvoll ist, egal, ob er reich, berühmt und erfolgreich ist oder nichts davon, egal, ob er Zehntausende Menschen hat, die ihm zuhören, oder gerade mal eine Handvoll. Jeder Mensch ist wertvoll. Jede Stimme ist gleich wichtig.

Daraus folgt auch: Wenn mir viele Menschen zuhören, ist es meine Verpflichtung, meinerseits vielen Menschen zuzuhören! Wenn ich viele Menschen habe, die sich meine Worte zu Herzen nehmen, ist es meine Aufgabe, diese Worte besonders abzuwägen und den Stimmen, die ich selbst nicht bedacht habe, extra Raum zu geben und sie zu verstärken.

Ich weiß heute, dass ich am besten mit Menschen klarkomme, die reflektiert sind, die gelernt haben, auch ihren eigenen Ableismus – und andere (internalisierte) Diskriminierungsformen – zu erkennen und zu hinterfragen, Menschen, die Kritik als Möglichkeit zum Lernen betrachten und bereit sind, zuzuhören, anstatt einfach nur recht haben zu müssen.

Ich mag Menschen mit AuDHS, weil wir oft automatisch Gemeinsamkeiten haben und ich vieles nicht extra erklären muss, aber Neurodivergenz ist nicht das einzige Kriterium, dass jemand zu einem für mich guten Menschen macht.

Und ich glaube, das sollte es auch für dich nicht sein.

Sei wählerisch, wem du vertraust, selbst dann, wenn du unendlich glücklich bist, endlich andere Menschen mit ADHS und/oder Autismus gefunden zu haben. Wir sind nicht alle gut füreinander und du brauchst Menschen, die deine Werte und Überzeugungen unterstützen.

Selbstdiagnosen SOLLTEN ein Trend sein!

Selbstdiagnosen SOLLTEN ein Trend sein!

8. März 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Sieht so aus, als müssten wir mal wieder über Selbstdiagnosen reden…

Dieses leidige Thema kommt immer wieder hoch und gefühlt wird es jedes Mal noch ein bisschen ekelhafter, ableistischer und menschenfeindlicher. Mir ist nicht ganz klar, wo denn das tatsächliche REALE Problem ist, aber grob zusammengefasst, scheint es ein paar Begründungen dafür zu geben, weshalb es immer wieder zu groß aufgemachten Artikeln, Videos und Co. kommt, die sich über „Neurodivergenz als Trend“ aufregen.

  1. Die suchen nur Aufmerksamkeit.
  2. Die suchen nur Ausreden.
  3. Die halten sich für was Besseres.

Ich meine, ich verstehe immer noch nicht, warum man über eine ganze Gruppe von Menschen herziehen muss, nur weil man denkt, dass ein paar Menschen gerne mehr Aufmerksamkeit hätten – ist ja jetzt auch nicht so, als würden all diese Artikel und Videos aus irgendeinem anderen Grund veröffentlicht werden -, aber okaaaaay.

Eines der beliebtesten Argumente ist das der bösen, bösen Selbstdiagnose – inklusive der wunderbar reißerischen Schlagzeilen, dass Selbstdiagnosen schädlich wären und sorry, aber das ist kein ernstzunehmender Journalismus (muss es aber heutzutage ja wohl auch gar nicht mehr sein…), sondern halt Clickbaiting, das gewisse Medienhäuser sich erlauben können, weil sie NOCH als seriös gelten. (Die Frage, die sich Journalist*innen an der Stelle stellen sollten ist übrigens: „Möchte ich wirklich meine gesamte Glaubwürdigkeit Stück für Stück für solchen Mist verspielen?“)

Aber egal, es geht mir eigentlich um etwas ganz anderes. Ich sage euch jetzt nämlich etwas: JEDE Diagnose, vollkommen egal, wer sie stellt, ist gleich gut oder gleich schlecht. Ja, auch, wenn du dir ein einziges TikTok-Video anschaust und danach denkst, ADHS zu haben!

Warum?

Weil eine Diagnose alleine NICHTS bringt.

Eine Diagnose ist ein Einstieg. Sie ermöglicht es dir, ein Stichwort zu haben, an dem du dich orientieren kannst und mit dem du dich weiter kennenlernen kannst.

Du denkst, du hast ADHS? Cool! Du wirst anfangen, dich mit Inhalten zu dem Thema zu beschäftigen, wirst anfangen, Menschen zu folgen, die ebenfalls ADHS haben, wirst erfahren, wie die mit ihrem Leben und ihren Schwierigkeiten umgehen und kannst für dich Maßnahmen ausprobieren, die diesen Menschen helfen – und vielleicht helfen sie dir auch! Vielleicht machen sie dein Leben besser. Wie cool ist das denn bitte?!

Vielleicht tun sie das aber auch nicht und vielleicht stellst du im Laufe der Zeit für dich fest, dass ADHS halt doch nicht so 100 %ig zu dir passt und du beginnst, weiterzusuchen und ja, vielleicht diagnostizierst du dich dann mit etwas Neuem und das Spiel geht von vorne los, bis du etwas findest, was tatsächlich für dich hilfreich ist und dein Leben so weit es möglich ist, verbessert.

Der Punkt ist: Menschen identifizieren sich nicht mit ADHS, weil sie cool oder im Trend sein wollen, weil sie witzige Videos drehen und berühmt werden wollen. Menschen identifizieren sich mit ADHS, weil sie sich mit den Problemen identifizieren, die ADHSler*innen in ihrem Alltag haben und in diesen Videos zeigen.

Du bist nicht neurodivergent und findest diesen ganzen „Trend“ ätzend? Gratuliere! Du hast offensichtlich keine Ahnung davon, was es heißt, jeden einzelnen Tag damit zu kämpfen, dass du so überhaupt gar nicht in diese Welt passt; über Probleme zu stolpern, die keiner als Problem wahrnimmt; dich ständig dafür zu hassen, dass du nicht dazu in der Lage bist einfach nur „normal“ zu sein.

Womit ich NICHT sage, dass du KEINE Probleme hast! Deine Probleme sind aber anders und du wirst es vermutlich leichter haben, Menschen zu finden, die dir bei diesen Problemen helfen könnten – vielleicht aber nicht unbedingt auf TikTok oder Instagram und in den dortigen neurodivergenten Communitys, denn das sind „unsere“ Ort. Du hast eigene und stell dir vor, nicht jeder Ort muss auch für dich passen.

Auf TikTok und Instagram sind so viele neurodivergente Menschen unterwegs, weil diese Plattformen für unsere Gehirne super funktionieren. So super, dass wir dort angefangen haben, uns auszutauschen, Communitys zu bilden und uns gegenseitig zu unterstützen.

Denn ADHS ist nicht trendy, nicht witzig, nicht quirky. ADHS ist in dieser Welt eine krasse Behinderung, so krass, dass neurodivergente Menschen eine deutlich niedrigere Lebenserwartung haben und deutlich häufiger als der Durchschnitt suizidgefährdet sind. (Klingt definitiv so, als wollte man das einfach haben, um berühmt zu werden, oder? /s)

Ein Leben mit ADHS, Autismus und anderen Neurodivergenzen kann ganz schön beschissen sein und viele von uns haben gelernt damit klarzukommen, indem wir uns über unsere Probleme amüsieren, anstatt daran zu verzweifeln. Eigentlich ein klassischer Resilienz-Mechanismus!

Dass wir das dann in Videos, Texte und Memes verpacken, liegt aber nicht daran, dass wir Aufmerksamkeit wollen – oder zumindest nicht mehr als jeder andere Mensch, der mit irgendeinem anderen Thema auf Social Media unterwegs ist. Wir erzählen von uns, weil dann etwas ganz wunderbares passiert: Wir finden Menschen, die so sind wie wir!

Stell dir vor, dein Hobby wäre es, Trockenblumen herzustellen, für einen Triathlon zu trainieren oder Modellautos zu sammeln. Dieses Hobby ist wichtig für dich und du fängst eines Tages damit an, Fotos davon auf Social Media zu posten. Machst du das, weil du hoffst, damit berühmt zu werden? Oder machst du es vielleicht eher, weil dir das Hobby wichtig ist? Und weil dann andere Menschen, die ähnliche Hobbys haben, plötzlich mit dir interagieren, du in eine Community aufgenommen wirst und dich mit anderen Menschen darüber austauschen kannst? Hmm? Was denkst du?

Wenn deine Antwort „Aufmerksamkeit“ lautet, dann bist du einer genau dieser Menschen, die du mit entsprechenden Artikeln und Videos vermeintlich „entlarven“ möchtest, aber definitiv nicht der Menschen, für den du gerne gehalten werden möchtest. Nennt sich Projektion, falls du mal nachschauen magst.

Wir wollen keine Aufmerksamkeit. Wir wollen nicht „was Besonders“ sein – oder zumindest nicht in einem größeren Maß, als das die meisten Menschen wollen. Die wenigsten Menschen wollen tatsächlich berühmt werden, sondern einfach nur wahrgenommen werden und das ist das, was wir auch wollen.

Neurodivergente Menschen, wollen wahrgenommen werden. Wir wollen akzeptiert werden. Wir wollen, dass neurotypische Menschen verstehen, dass nicht jeder so funktioniert, wie sie und dass es kein Defizit ist, keine Krankheit und kein Schaden, dass wir anders funktionieren. Wir wollen das Gefühl haben, nicht alleine auf der Welt zu sein und Social Media ist der erste Ort auf dieser Welt, wo wir das tatsächlich nicht mehr sind.

Wenn du neurotypisch und weiß bist und in einen Raum gehen kannst und dort einfach „dazugehörst“, dann stell‘ dir einfach vor, dass unsere neurodivergente Community so ein Raum für neurodivergente Menschen ist. EIN Raum! Während du jeden beliebigen Raum betreten kannst.

Glaubst du also wirklich, dass die korrekte Reaktion auf ADHS-Reels und Selbstdiagnosen, darin besteht, sie zu bekämpfen und schlecht zu machen? Wäre es nicht viel eher richtig von dir, dich ganz, ganz leise zurückzuziehen und dich zu freuen, dass andere Menschen nach 30, 40 Jahren ihres Lebens ENDLICH herausfinden, dass sie genauso wertvoll, genauso gut, genauso „richtig“ sind wie DU?!

Wenn du das nicht kannst, dann halte wenigstens den Mund und fange an, dich selbst zu diagnostizieren und herauszufinden, was DEIN verdammtes Problem ist, denn WIR sind es nicht.

Selbstdiagnosen sind gut. Egal, ob sie richtig sind oder nicht. Selbstdiagnosen sind ein Zeichen dafür, dass Menschen sich mit ihren Problemen beschäftigen, Lösungen suchen und sich entwickeln wollen.

Selbstdiagnosen müssen nicht stimmen – und ob das es glaubst oder nicht, UNMENGEN an „professionellen“ Diagnosen tun das auch nicht und das schadet tatsächlich, weil wir immer noch denken, dass die Profis ja unfehlbar sind und diese Diagnosen unser ganzes Leben negativ beeinflussen können.

Wir brauchen mehr Selbstdiagnosen, nicht weniger. Wir brauchen mehr Menschen, die bereit sind, sich mit ihrer Psyche zu befassen, ihrer Denk- und Funktionsweise, ihren Traumata, ihrer Kommunikation, ihren Handlungen, ja ihrem ganzen Sein. Wir brauchen viel, viel mehr Menschen, die bewusster Handeln, bewusster mit anderen Menschen umgehen, bewusster Entscheidungen treffen und Meinungen haben.

Dafür braucht es keine offizielle Diagnose. Dafür braucht es kein Fachpersonal. Dafür braucht es nur uns selbst und andere Menschen und es braucht unsere Bereitschaft, uns auch unangenehmen Wahrheiten zu stellen und genau das tun wir, wenn wir uns selbstdiagnostizieren.

Wer das nicht akzeptieren kann und nicht bereit ist anzuerkennen, wie viel Arbeit in unseren Selbstdiagnosen steckt – Arbeit, die die wenigsten Menschen auch nur im Ansatz bereit sind zu leisten! -, der kann und soll einfach den Mund halten und wird von mir NIEMALS als wertvolle Stimme anerkannt werden und sollte das ehrlich gesagt auch von niemand anderem.

Diese Welt wäre ein deutlich bessere Ort, wenn mehr Menschen die Arbeit leisten würden, die selbstdiagnostizierte, neurodivergente Menschen mit ihrer eigenen Diagnose leisten.

Picture-perfect love🤍

Picture-perfect love🤍

14. Februar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wenn du an Liebe denkst, wie stellst du sie dir vor? Was für ein Bild hast du im Kopf? Wie sieht ein verliebtes Paar für dich aus? Wie siehst du dich als Teil eines solchen Paares? Und was willst du jetzt am liebsten an dir oder deinem Leben verändern, um diese Liebe zu bekommen?

Liebe basiert für uns alle ganz stark auf Bildern und diese Bilder sind in erster Linie geprägt von der medialen Darstellung, von dem, was wir in Büchern lesen oder in Filmen sehen, von dem, wie Liebe von Promis und Influencern zelebriert wird, wie sie online zur Schau gestellt wird oder wie darüber erzählt wird. Ganz automatisch orientieren sich unsere Erwartungen an Liebe daran und ebenso automatisch versuchen wir, unsere Liebe entsprechend zu erleben und auszuleben und ganz automatisch übernehmen wir dabei auch ganz klassische Bilder von Paaren: Mann und Frau.

Also EIN Mann und EINE Frau. Nicht-(cis-)heteronormative oder nicht-monogame Beziehungen sind nach wie vor eher selten sichtbar und damit in den meisten Köpfen als „falsch“ abgelegt (was sie NICHT sind!). Immerhin werden gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen cis-binären Personen inzwischen eher als solche anerkannt, aber immer noch ist es höchst problematisch für allen anderen Formen von Beziehungen.

Dabei sind all diese Bilder von Liebe ohnedies eher Unsinn, als wahr und das, was wir als Liebe und Beziehung gezeigt bekommen, ist in erster Linie ein Mittel für Kommerz. Wir wollen daran glauben, dass Liebe unabhängig vom Kapitalismus funktioniert, dass sie „natürliche Chemie“ ist, unschuldig, zart und rein. Liebe passiert einfach, setzt keine Leistung voraus, keine Selbstoptimierung, keine finanzielle Investition und doch haben natürlich weder Kapitalismus noch Leistungsgesellschaft die Finger davon gelassen und sagen uns, dass es genau das aber doch bitte braucht, damit wir geliebt werden können!

Da braucht es dann weniger Gewicht, mehr Fitness und die richtigen Klamotten, um die richtige Person anzuziehen. Oder Erfolg, Geld und Reisen an die richtigen Orte. Und wenn man diese „richtige“ Person gefunden hat, dann geht es weiter damit: Auf das Gewicht „achten“, sich fit halten, pflegen und natürlich wohl kuratierte Zeit zu zweit: Reisen, romantische Erlebnisse, oder wie wäre es direkt mit dem kuscheligen, zweisamen Van-Life, gerne ergänzt um eine ebenso kuschelige Katze. Was einem halt so – gegen entsprechendes Geld – verkauft werden kann.

Alles natürlich für den „Höhepunkt“ der Liebe: Die Hochzeit.
Oder vielleicht doch lieber erstmal noch die Sterne befragen und am richtigen Mindset arbeiten? (Das ist massiver Sarkasmus! Haltet euch bitte fern von Menschen, die euch erklären, dass ihr an eurem Mindset arbeiten müsst. Ehrlich.)

Aber ernsthaft: Ist euch schon mal aufgefallen, dass so ganz typische Liebesgeschichten in Büchern und Filmen meistens bei der Hochzeit enden? Alles führt zu diesem Ziel, das entsprechend groß und besonders auszufallen hat und danach kommt… ja, was eigentlich? Was kommt denn nach dem Filmende?

Wir bekommen auch da natürlich ein paar Bilder präsentiert und können uns daraus neue Ziele zusammenbauen: Wie wäre es mit einem Haus? Und dann vielleicht ein Hund? Ein Kind. Oder mehrere.

Oder doch erstmal die Karriere und Reisen und die Welt entdecken?

Und dann irgendwann: Gemeinsam alt werden. Das Bild von zwei weißhaarigen Menschen, die immer noch Händchen halten oder sich küssen, denn DAS, das ist doch jetzt wahre Liebe, nicht wahr?

Sorry, auch das ist nichts als ein Bild.

Das ALLES ist Teil unseres Bildes von Liebe und auch, wenn wir das unrealistisch finden: Irgendwo in unserem Inneren leben diese Bilder dennoch und beeinflussen, wie wir uns Liebe vorstellen, wie wir uns Beziehungen, ja unser ganzes Leben vorstellen. Wir träumen davon, so zu lieben, so geliebt zu werden, wie wir es gezeigt bekommen, denn am Ende erleben wir das, was wir am häufigsten sehen, als Normalität und irgendwo wollen dann doch die meisten von uns Normalität.

In Wirklichkeit spielen diese Bilder aber überhaupt keine Rolle und ich glaube, viel mehr Menschen, könnten anfangen ihre eigenen Bilder zu malen, wenn ihnen überhaupt erstmal klar werden würde, wie eingeschränkt die Bilder sind, die wir gezeigt bekommen – oder, dass hinter einem Bild oft viel mehr stecken kann, als wir wahrnehmen. Ich will an der Stelle nur so viel sagen: Der Ehemann und ich wirken nach außen wie ein ganz normales heteronormatives Pärchen. Wir sind es aber nicht. Und ja, ihr dürft euch jetzt gerne alle ausmalen, was das genau bedeutet, vielleicht erzähle ich irgendwann mal ja auch mehr dazu.

Liebe ist kein Bild und du kannst Liebe nicht nach Bildern gestalten.

Liebe hat nichts damit zu tun, welches Geschlecht du oder jemand anderes hat. Liebe ist nicht gemeinsam ausgehen, Blumen schenken und sich zu küssen. Liebe ist kein Ehering, kein gemeinsames Bett und auch kein Sex.

Und doch kann alles davon zu Liebe dazugehören.

Für mich ist Liebe, die gleichen Werte zu teilen, das Wohlbefinden und die Bedürfnisse des anderen zu achten den anderen Menschen ernstzunehmen und da sein zu wollen, wenn er etwas braucht – auch, wenn es vielleicht nicht immer geht. Liebe ist für mich, Ängste ansprechen zu können, traurig sein zu dürfen, anzuerkennen, dass man nicht die einzige wichtige Person im Leben eines anderen Menschen ist. Liebe ist auch Freiraum zu geben, Interesse aneinander zu haben, einander wachsen zu lassen, auch wenn die Wege manchmal in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Liebe ist für mich, zu lächeln, weil ich an jemanden denke und überhaupt, ganz häufig an wen zu denken, auch wenn die Person gar nicht um mich herum ist* und Liebe ist zum Teil auch einfach, geliebt zu werden.

Liebe ist immer anders und das auf unendlich viele Arten und Liebe braucht viel weniger, als wir denken und das, was sie braucht, ist meistens nicht das, was wir auf Bilder bannen könnten. Liebe IST und Liebe hat keinen vorgegebenen Look.

Picture-perfect love existiert nicht – außer du malst dir dein eigenes Bild <3

* Mit-ADHSler*innen verstehen vermutlich, wie das gemeint ist.

Autistische Menschen sind ja so anstrengend

Autistische Menschen sind ja so anstrengend

13. Februar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Patsch, da war er wieder: Der Vorwurf, wie anstrengend Autist*innen doch mit ihren Bedürfnissen, mit ihrer Kommunikation sind.

Was ist passiert? Eine Autistin erzählte davon, wie eine optimale Kommunikation für sie aussehen müsste, erwähnte, wie hilfreich es für sie wäre, wenn sie genaue Informationen bekommt, wenn Zweideutigkeiten vermieden werden und das, was so oft unausgesprochen bleibt, einfach ausgesprochen werden würde.

Darauf bekam sie prompt zu hören, wie anstrengend ihre Wünsche doch wären! Ihre autistischen Bedürfnisse wurden also mal einfach als „zu anstrengend“ abgewertet. Das verletzt. Nicht nur die Person, die ihre eigenen Bedürfnisse kommuniziert hat, sondern auch andere Autist*innen, denn das, was da erwähnt wurde, sind Bedürfnisse, die viele von uns teilen.

Deswegen kurz und knapp: Autistische Kommunikation ist kein Makel, kein Defizit und sie ist auch nicht anstrengend! Warum? Das erkläre ich gerne ausführlicher.

Es ist ohne Zweifel so: Autistische Bedürfnisse an Kommunikation sind oft ANDERS als Menschen es erwarten – und das meine ich vollkommen wertfrei. Dieses „anders“ mag für Menschen, die nicht autistisch sind – aber durchaus auch für andere autistische Menschen – anstrengend sein. Das liegt aber nicht daran, dass diese Bedürfnisse per se anstrengend sind, sondern daran, dass alle Menschen unterschiedliche Bedürfnisse an Kommunikation haben!

Gerade Autist*innen sind diese unterschiedlichen Kommunikationsbedürfnisse oft sehr bewusst. Wir wachsen damit auf, dass unsere Art der Kommunikation als falsch, schlecht, minderwertig und, ja, anstrengend gesehen wird und wir lernen von klein an, uns anzupassen und unsere eigenen Kommunikationsbedürfnisse zu ignorieren und „nicht-autistisch“ zu kommunizieren.

Nicht-autistischen Menschen wiederum merken oft überhaupt nicht, dass sie Bedürfnisse an eine Kommunikation haben. Wie auch, wenn doch die große Mehrheit der Menschen so kommuniziert, wie es für sie genau richtig ist? Das heißt aber nicht, dass sie KEINE eigenen Bedürfnisse an Kommunikation haben! Sie merken es nur kaum, weil ihre Bedürfnisse meistens automatisch erfüllt werden.

Treffen sie aber auf einen Menschen mit anderen Kommunikationsbedürfnissen, hakt es plötzlich und weil sie ja sonst immer klarkommen, ist es naheliegend, dass die ANDERE Person anstrengend, schwierig – kurz: Das Problem – sein muss.

Ist sie aber nicht.

Es sind einfach nur zwei Personen mit unterschiedlichen kommunikativen Bedürfnissen und viel zu oft wird von der autistischen Person verlangt, dass sie diejenige ist, die ihre Kommunikation an die allistische (= nicht-autistische) Person anpasst. Warum? Weil nicht-autistischen Menschen meistens überhaupt nicht klar ist, dass sie Bedürfnisse an eine Kommunikation haben. Sie gehen davon aus, dass ihre Art zu kommunizieren „natürlich“ ist, quasi gänzlich „anspruchslos“ und etwas, das jede*r automatisch können und tun muss.

In Wirklichkeit hat aber wirklich jeder Mensch Bedürfnisse an Kommunikation – egal ob autistisch oder nicht! – und auch allistische Menschen können aneinander vorbeireden, wenn ihre Kommunikation unterschiedlich ist. Etwas, wofür dann viele übrigens auch wieder der jeweils anderen Person die Schuld geben. Ein Klassiker in Paarbeziehungen.

Und das führt uns zum nächsten Punkt: Kommunikationsbedürfnisse sind ganz oft unbewusst, drücken sich aber in unseren Kommunikationsstilen aus und jede Kommunikation wird dann anstrengend, wenn sie nicht zu unserem eigenen Kommunikationsstil (und damit zu unseren darunter liegenden Bedürfnissen an eine Kommunikation) passt.

Ich kann z.B. mit ganz wenigen Menschen auch noch kommunizieren, wenn es mir nicht gut geht, weil das Menschen sind, deren Kommunikationsstil sehr gut zu meinem eigenen passt. Unterhaltungen mit diesen Menschen Kosten mich keine Mühe. Bei den meisten Menschen ist das aber anders und je nachdem, wie stark unterschiedlich wir kommunizieren, ist die Unterhaltung dann für mich eben – selbst im besten Zustand – anstrengend!

Was ich sagen möchte: Kein Kommunikationsstil, keine Kommunikationsbedürfnis ist per se anstrengend! Es kommt immer auf alle an einer Kommunikation Beteiligten an. Und ja, die Wahrscheinlichkeit, dass eine Kommunikation anstrengend wird, ist höher, wenn die Neurotypen der Beteiligten unterschiedlich sind, weil dadurch auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Bedürfnisse unterschiedlich – oder sogar gegenläufig – sind.

Was ich sagen möchte: Wenn der Kommunikationsstil eines Menschen für dich anstrengend ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass DU ähnlich anstrengend für diese Person bist! Gleichzeitig kannst du aber schlichtweg überhaupt nicht beurteilen, wie anstrengend diese Person wieder für jemand anderen ist!

Das betrifft übrigens nicht nur Bedürfnisse in Bezug auf Kommunikation, sondern quasi alle Bedürfnisse.

Deshalb ist es so enorm wichtig, sich die eigenen Bedürfnisse bewusst zu machen und darüber zu kommunizieren! Eben nicht nur was Kommunikation betrifft, sondern auch Abstand und Nähe, Wertschätzung, Unterstützung, Grenzen, Wünsche und so vieles mehr!

Mein Tipp wäre also: Werde dir deiner eigenen (kommunikativen und sonstiger) Bedürfnisse bewusst. Überlege dir, was du selbst in einer Kommunikation brauchst, wichtig oder hilfreich findest und wenn dann jemand kommt und dir seine Bedürfnisse mitteilt und du das Gefühl hast, dass diese Bedürfnisse ganz schön anstrengend sind, dann überlege dir vielleicht erstmal, wie anstrengend DU selbst für diesen (und andere) Menschen sein könntest und was er an Anstrengung in Kauf nimmt, um mit dir zu kommunizieren.

Weil nur, weil du dir noch nie Gedanken darüber gemacht hast, was für möglicherweise anstrengende Bedürfnisse du hast, heißt das halt nicht, dass du super pflegeleicht bist. Musst du aber auch nicht sein. Niemand von uns. Eben auch autistische Menschen nicht.

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

Behinderung(en) und unserer Partnerschaft

5. Februar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Meistens erzähle ich davon, was der Ehemann alles im Alltag für mich übernimmt, wie sehr er mich unterstützt und meine Behinderung – sowohl durch meine chronischen Schmerzen als auch durch meine Neurodivergenz – mitträgt. Heute zeige ich euch aber eine andere Seite, denn behindert zu sein bedeutet bei Weitem nicht, dass der nicht-behinderte Part unheimlich heldenhaft wäre und man als behinderter Mensch nichts zur Beziehung beiträgt.

Fangen wir damit an, dass ich den Ehemann heute angeschrien habe, weil er etwas verschüttet hat.

Nein, das ist nicht mein „toller“ Beitrag zu unserer Partnerschaft, aber es passiert ab und zu, wenn ich sehr viel Stress habe, überreizt, überlastet oder übermüdet bin und nicht so aufmerksam war, wie sonst. Der Ehemann ist nämlich der Typ „zerstreuter Professor“ und ganz oft sehr verpeilt, unaufmerksam und ungeschickt und ich gleiche das im Alltag aus und eliminiere mögliche Probleme, bevor sie passieren, oder bin für ihn „mit aufmerksam“.

Manchmal geht das schief, eben weil ich zu gestresst bin, überreizt oder übermüdet (oder in einer Zyklusphase, wo die Hormone „anstrengend“ sind) und dann explodiere ich innerlich und ein Teil davon landet halt auch äußerlich. Merke ich das rechtzeitig, bitte ich normalerweise den Ehemann darum, an diesem Tag besonders… besonnen zu agieren. Das heißt jetzt nicht, dass er den ganzen Tag Angst haben muss, dass ich wegen Kleinigkeiten explodieren könnte oder er alle eventuellen Fehlerquellen vorweg denken und unbedingt vermeiden muss. Es bedeutet, dass er bewusster handeln muss für diesen Tag.

Auf jemand anderen zu achten ist nämlich ganz schön anstrengend und frisst viel Energie und Nerven und macht es für mich schwierig, abzuschalten, wenn er anwesend ist. All das kann ich bei Stress, Überreizung, Übermüdung etc. einfach nicht leisten und dann muss er das selbst tun.

Ich rede normalerweise nicht darüber. Zu erwähnen, dass man aufpasst, dass der Ehemann nichts unabsichtlich verschüttet oder zerbricht, klingt entweder albern oder übertrieben und ich bekomme dann zu hören, dass ICH da ja wohl wichtiger bin und auf mich selbst achten soll und außerdem: „Er ist doch erwachsen und kann ja wohl selbst aufpassen.“

Aber wisst ihr, ich halte nichts von diesem Konzept, dass jeder Mensch möglichst selbst- und eigenständig zu sein hat und Dinge können muss, weil er eben erwachsen ist. So funktioniert Partnerschaft nicht für uns. Für uns bedeutet Partnerschaft, dass jeder von uns dafür sorgt, dass es dem anderen möglichst gut geht – soweit das halt in unseren Möglichkeiten liegt.

So holt der Ehemann für mich Rezepte und Überweisungen von Ärzt*innen, geht zur Apotheke, kommt beim Einkaufen mit, erledigt die Wäsche, weil man dabei Nachbar*innen begegnen könnte und so weiter; und ich achte auf die Dinge, die für ihn schwierig sind und kümmere mich darum.

Ja, natürlich erwarten wir von Menschen ab einem bestimmten Alter, dass sie all das selbst machen – aufpassen genauso wie einkaufen – und sehen nicht ein, warum „man“ das nicht einfach selbst macht, aber genau das ist es ja: Es ist nicht für jede Person gleich „einfach‘.

Für den Ehemann kostet die notwendige Aufmerksamkeit auf den Alltag Unmengen an Energie – für mich deutlich weniger. Warum sollte ich ihn dazu zwingen seine Energie für etwas zu verpulvern, dass ich ihm zu geringeren „Kosten“ abnehmen kann? Warum sollte er mich dazu zwingen, selbst Rezepte bei Ärzt*innen abzuholen, wenn das für mich super anstrengend ist, während es für ihn eine kleine Aufgabe ist?

Weil jeder von uns erwachsen ist und das können sollte?
Weil wir das „ja mal lernen müssen“?
Weil wir dann nicht zurechtkommen werden, wenn sich unsere Wege trennen sollten?

Sorry, aber das ist halt einfach Quatsch!

Wenn es notwendig ist, schaffen Menschen ganz erstaunliche Dinge. Dinge, die dann Unmengen an Energie und Nerven kosten, aber wir schaffen sie. Falls wir uns irgendwann tatsächlich trennen sollten, wird jeder von uns schon klarkommen und neue Lösungen für die „Problemstellen“ finden.

Solange wir aber zusammen sind, ist es nur logisch, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten die schwachen Stellen der Partnerperson auszugleichen. So sparen wir beide Energie, Kraft, Nerven, Zeit, was weiß ich.

Es hat einfach keinen Sinn, nur zum Lernen oder wegen „Arbeitsteilung“ oder wegen „das muss man aber können“, ständig Dinge zu tun, die super schwierig für einen sind, während jemand danebensteht und es viel einfacher übernehmen könnte. Das heißt ja nicht, dass einer von uns sagt: „Hab‘ keinen Bock auf diese Scheiß-Tätigkeit, die kann ja mein*e Partner*in machen.“

Es ist halt Abwägungssache, Gucken, Ausloten, Diskutieren und so weiter. Es ist der Wunsch, das Leben der Partnerperson so gut und einfach wie möglich zu machen.

Wie möglich! Das bedeutet nicht „dem anderen alles in den Schoß legen“!

„So einfach wie möglich“ bedeutet, dass jeder schaut, wie sich die beste mögliche Variante für alle Beteiligten finden lässt, weil eben alle gleich wertvoll und gleich wichtig sind, ungeachtet ihres Könnens, ihrer Leistungsfähigkeit oder ihres finanziellen Beitrags.

Partnerschaft bedeutet für uns nicht, dass man alles (vermeintlich gerecht) in so viele Teile teilt, wie es Partner gibt und dann jede*r gleich viel leistet. Partnerschaft bedeutet für uns, dass jede*r im Rahmen der eigenen Möglichkeiten daran mitwirkt, dass es allen Personen in der Partnerschaft so gut geht, wie das eben möglich ist, dass alle so viel Zeit und Möglichkeiten haben, ihre Interessen auszuleben, dass alle in den Dingen unterstützt werden, die schwierig für sie sind – egal, wie lächerlich diese Dinge wirken mögen.

Das heißt dann eben auch, dass ich auf den Ehemann „aufpasse“, auch wenn es dazu führt dass ich eher unentspannt bin, wenn er anwesend und nicht längere Zeit „sicher“ beschäftigt ist. Und es heißt, dass ich mich bemühe, ihm Bescheid zu geben, wenn ich nicht ausreichend Energie und/oder Nerven habe, um das zu leisten und er dann eben mehr seiner Energie/Nerven investiert, um selbst auf sich aufzupassen, auch wenn das bedeutet, dass er dann an dem Tag nicht mehr alles so tun kann, wie er das gerne würde.

Es ist ein gegenseitiges auf die jeweiligen Bedürfnisse des anderen achten und dafür sorgen, dass ALLE so viel gute Zeit wie möglich haben können – egal wie die am Ende aussieht.

Neurodivergenz und Schule – das kann auch gutgehen

Neurodivergenz und Schule – das kann auch gutgehen

12. Januar 2023 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Wenn neurodivergente Menschen über ihre eigene oder die Schulzeit ihrer Kinder erzählen ist das in den meisten Fällen die Erzählung über eine schlimme Zeit in ihrem Leben. Ich komme mir dann immer ein bisschen seltsam und merkwürdig „fehl am Platz“ vor, denn meine eigene Schulzeit war schön und ich war viel, viel lieber in der Schule als zuhause. Okay, das liegt natürlich zum Teil daran, dass es zuhause sehr schlimm war, aber halt auch daran, dass Schule für mich wirklich ein guter Ort war.

Ich will damit absolut nicht sagen, dass andere Erfahrungen falsch sind! So gehäuft, wie sie auftreten, ist ganz klar: Das Schulsystem denkt neurodivergente Menschen nicht mit. Ich möchte euch nur ein klitzekleines bisschen Hoffnung geben, dass Schule nicht schlimm sein muss, sondern auch gut sein kann.

Ich bin in den 1980er und 90er Jahren in Österreich zur Schule gegangen. Ich kann keine wirklichen Vergleiche zum deutschen Schulsystem – weder damals noch heute – ziehen und weder sagen, wie die rechtlichen, noch die tatsächlichen Voraussetzungen sind. Ich kann euch nur erzählen, was Schule für mich gut gemacht hat, und vielleicht bietet das ja Ansatzpunkte – für euch selbst, eure Kinder oder Pädagog*innen.

Die Grundschulzeit

Ich war immer ein „seltsames“ Kind. Schon im Kindergarten war ich anders und merkwürdig, aber die Erklärung dafür fand sich dann – scheinbar – durch die Scheidung meiner Eltern, wie ich fünf Jahre alt war: Ein zerrüttetes Elternhaus. Scheidungskind. Die Arme.

Dazu war ich dick und es erschien jedem ganz klar, dass mich andere Kinder deswegen aufzogen und verspotteten, oder dass ich – gerade im Turnunterricht – Dinge nicht konnte. Gleichzeitig konnte ich aber bereits zu Schulanfang lesen, merkte mir Lieder und Geschichten unheimlich schnell und war ungemein hilfsbereit – und dass, obwohl mir Kinder eher Angst machten und ich viel lieber in der Nähe Erwachsener blieb.

Ab der 2. Klasse hatte ich eine Lehrerin, die sich sehr um mich bemühte. Sie nahm sich im Turnunterricht Zeit, schirmte mich gefühlt von den anderen Kindern ab und ließ mich das, worin ich schlecht war, wieder und wieder probieren – sofern ich es wollte, denn es fühlte sich für mich nie wie Zwang an, sondern tatsächlich wie Unterstützung. In Mathe erkannte sie, wie leicht mir der Umgang mit Zahlen fiel und holte mich in die Förderstunden, die eigentlich für Kinder mit Schwierigkeiten in Mathe gedacht waren, für mich aber zusätzliche Aufgaben und Beschäftigung bedeuteten. Sie kümmerte sich viel darum, dass ich auch außerhalb der üblichen Schulzeiten Zeit an der Schule verbringen konnte und gab mir damit einen sicheren Platz, den ich zuhause nur sehr bedingt hatte.

Mit den anderen Kindern war alles deutlich schwieriger. Ich passte nicht dazu und das bekam ich Tag für Tag zu spüren. Es gab Tage, da versteckte ich mich unter meinem Tisch, weil alles zu viel für mich war und ich einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte – irgendwann warf ich sogar einen Atlas nach einem meiner Mitschüler, weil er einfach nicht aufhörte, mich zu verhöhnen. Besser wurde das für mich, als ein Junge in unsere Klasse kam, mit dem auch niemand etwas zu tun haben wollte, denn er war auf andere Art anders: Er kam nicht aus Österreich. Fortan war ich zumindest nicht mehr ganz alleine, sondern hatte so etwas wie einen Freund an meiner Seite.

Am Gymnasium

Meine Schulnoten waren in der gesamten Grundschulzeit ausgezeichnet und es war immer klar: Ich sollte aufs Gymnasium. Ich war dann auf drei verschiedenen Gymnasien, weil wir mehrfach umzogen und es ging mir dort unterschiedlich gut.

Mitschüler*innen waren immer ein Problem und ich hatte die meiste Zeit keine Freund*innen.

Meine Noten waren dafür großteils gut – ohne, dass ich je wirklich lernen musste -, ließen aber klar erkennen, wo ich mit meinen Lehrer*innen nicht gut klarkam, denn nichts beeinflusste mein Interesse, meine Mitarbeit und meine Leistung so sehr, wie die Lehrkraft, die das Fach unterrichtete. So schwankte ich durchaus 2 bis 3 Noten auf oder ab, je nachdem, wie gut die jeweilige Lehrkraft und ich miteinander klarkamen – nicht, weil sie mich unfair behandelt hätten, sondern weil mein Interesse schlagartig nachließ, wenn ich die Lehrkraft unangenehm fand und ich mich nicht mehr auf den Unterricht und die Themen konzentrieren konnte.

Die 5 besten Schuljahre überhaupt

Nach der 4. Klasse Gymnasium wechselte ich auf eine berufsbildende höhere Schule. In Österreich bedeutet das eine fünfjährige Schulzeit mit Elementen aus dem Gymnasium und berufsqualifizierenden Fächern, die mit einer Hochschulzugangsberechtigung (Matura/Abitur) und einem berufsqualifizierenden Abschluss einhergeht. Mein ursprünglicher Wunsch klappte nicht, dann zogen wir mal wieder um und am Ende landete ich – zu meinem großen Glück – an der Handelsakademie in einem kleinen Ort.

Handelsakademie (HAK) bedeutet, dass man nach 5 Jahren Schule neben der Hochschulzugangsberechtigung einen Abschluss als staatlich geprüfte*r Betriebswirt*in bekommt. Dafür gibt es dann Fächer wie kaufmännisches Rechnen, Rechnungswesen, Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, kaufmännische Software und 2 lebende Fremdsprachen – neben den „klassischen“ Fächern wie Deutsch, Biologie, Geografie usw.

Die Schule war klein, die fünfjährige Variante war erst im Schuljahr davor überhaupt eingeführt worden und wir waren alle zusammen gerade mal 200 Schüler*innen und vielleicht 20 Lehrer*innen. Ich habe es von Anfang an geliebt.

Ich weiß nicht, wie es kam, aber alle Lehrkräfte (bis auf eine bzw. später zwei), die ich dort hatte, waren für mich persönlich genau richtig.

Da war die Englischlehrerin, der Grammatik und Vokabeln zwar wirklich wichtig waren, für die es aber noch viel, viel wichtiger war, dass wir beides anwenden konnten. Wir führten viele Gespräche in ihrem Unterricht und ich lernte die meisten Vokabeln einfach über die Beschäftigung mit dem jeweils aktuellen Thema.

Da war die Rechnungswesen-Lehrerin, in deren Unterrichtsfach mein autistischer Kopf total glücklich war, weil es so viele klare Regeln und Strukturen gab, und die als erste erkannte, wie gut ich darin war, anderen Menschen etwas beizubringen. Sie empfahl mich den Eltern einer Mitschülerin als Nachhilfe und von dem Moment an gab ich nicht nur Nachhilfeunterricht, sondern hatte quasi auch die Erlaubnis in ihrem Unterricht meinen Mitschüler*innen Dinge zu erklären.

Da war die Lehrerin für kaufmännisches Rechnen, die es total okay fand, wenn ich die Aufgaben schneller durchrechnete als der Rest der Klasse und bei der ich dann eben lesen durfte, wenn ich nichts mehr zu tun hatte.

Da war der Betriebswirtschaftslehrer, der später auch Informatik unterrichtete, der von Jahr zu Jahr lockerer wurde und bei dem ich später auch während des Unterrichts anderen Dinge erklären durfte, was für mich definitiv eines der Dinge ist, die für mich und meinen persönlichen Wohlfühlfaktor am wichtigsten waren.

Womit ich nicht klarkam, das waren zwei Lehrkräfte, die einerseits zu wenig klar für mich waren, ständig Dinge anders erklärte oder bei denen ich einfach nicht wusste, woran ich war. Ganz besonders schlimm war für mich eine Lehrkraft die Regeln extrem genau befolgen wollte, allerdings nicht aus dem Bedürfnis und Verständnis heraus, dass Regeln wichtig sind, sondern aus der Angst davor, Fehler zu machen und vielleicht Ärger deswegen zu bekommen.

Ich verstehe dieses Verhalten heute durchaus, aber als Schülerin fand ich es sehr anstrengend – vor allem auch deshalb, weil ich bei vielen andern Lehrer*innen erlebte, dass es nicht darum ging, der „Obrigkeit“ gegenüber alles richtig zu machen, sondern es für uns als Schüler*innen richtig zu machen.

Für mich waren diese fünf Jahre die Zeit mit den größten Freiheiten und dem geringsten Druck zu Konformität. Ich saß in der ersten Reihe, genau vor dem Lehrer*innentisch (weil ich mich dort am wohlsten gefühlt habe) und habe im Unterricht Bücher gelesen, gezeichnet (Stimming) oder habe anderen Dinge erklärt. Ich habe mich dort frei gefühlt, so zu sein, wie ich bin, und habe für dieses Ich-Sein sogar noch Anerkennung bekommen.

Ich hatte zwar auch in dieser Zeit kaum Freund*innen – die meisten fanden mich einfach total seltsam -, aber doch ein paar Mitschülerinnen, mit denen ich ganz gut klarkam, wodurch Gruppenarbeiten einfacher wurden.

Fazit

Rückblickend glaube ich, dass das, was mir am meisten in meiner Schulzeit geholfen hat, Lehrer*innen waren, die bereit waren, sich auf mich einzulassen – auch, wenn es aus den „falschen“ Gründen war, weil ich (in der Grundschule) als Scheidungskind galt, mit dem man besonders sorgsam umgehen musste, dem man „merkwürdiges“ Verhalten oft nachsah, weil man die Scheidung als Grund dafür betrachtete und dem man dadurch einfach mehr Verständnis entgegengebracht hat.

Später war es dann ein überschaubares Umfeld, wenig Veränderungen an Menschen und Orten, das Anerkennen meiner „Eigenarten“ und zum Teil eben auch das bewusste Fördern dieser Eigenarten, weil Lehrkräfte erkannten, dass ich mit meinem Erklären etwas Gutes beizutragen hatte, auch wenn es so im Konzept Schule nicht vorgesehen war.

Ich habe 2000 mein Abi gemacht und mir ist klar, dass sich in diesen mehr als 20 Jahren vieles verändert hat und es heute deutlich mehr Regeln und Vorschriften gibt – und damit auch weniger Freiheiten, Energie und Raum, Dinge auf eine persönliche Art zu lösen. Dennoch glaube ich, dass Schule nicht automatisch furchtbar für neurodivergente Kinder sein muss – immerhin bringen neurodivergente Menschen viele positive Eigenschaften mit, auch für ein schulisches Umfeld!

Ich wünsche mir sehr, dass alle neurodivergenten Kindern so viel Glück mit ihren Lehrkräften haben, wie ich – und dass es vielleicht eines Tages kein Glück mehr ist, sondern Normalität. Schulzeit ist nie einfach, aber sie müsste deutlich weniger schlimm sein, als sie für viele von euch war und für eure Kinder heute ist.

Das vermeintliche Feindbild NT

Das vermeintliche Feindbild NT

6. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

Mein Leben lang war ich „anders“, seltsam, nicht so, wie man mich haben wollte. Nicht immer sagte jemand etwas, aber ich merkte die schiefen Blicke, die hochgezogenen Augenbrauen, die Verwirrung im Gegenüber, die von meiner „falschen“ Reaktion auf etwas ausgelöst worden waren. Irgendetwas an mir war merkwürdig.

Ich bemühte mich, mich anzupassen, beobachtete, analysierte, hinterfragte, interpretierte und imitierte, was ich wahrnahm. Ich maßregelte mich selbst, hielt meine übergroßen Gefühle vor anderen zurück, bemühte mich gleichzeitig darum, die gewünschten Gefühle besser zu zeigen. Ich arbeitete an mir, denn ich wollte so sein, wie alle zu sein schienen.

Ich konnte nicht in Worte fassen, was an mir anders war und wenn ich doch versuchte, es zu beschreiben, endete es in komplizierten, langwierigen Erklärungen, die am Ende nichts erklärten, sondern nur noch mehr Verwirrung verursachten. Also arbeite ich noch mehr an mir. Beobachtete mehr. Analysierte mehr. Las über menschliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen und hoffte, dass ich eines Tages, wenn ich endlich genug gelernt haben würde, endlich „normal“ sein würde.

CN: Suizidalität (für diesen Absatz)
Immer wieder brach ich zusammen, weil ich es nicht mehr aushielt, auf diesen Tag noch länger zu warten, noch stärker darauf hinzuarbeiten, mich noch mehr zu bemühen und doch immer, immer, immer wieder anzuecken, falsch zu sein, nicht dazu zu passen. Ich stürzte immer wieder in tiefe Verzweiflung, sah keinen Ausweg aus meiner Andersartigkeit, aus MIR, war suizidgefährdet und hoffnungslos.

Ich suchte nach Antworten – jahrzehntelang! Eine Weile suchte ich mir Trost in Hochsensibilität, erklärte mir meine Andersartigkeit damit, dass ich halt was Besonderes war. Besonders sensibel. Nicht für diese Welt gemacht. Außergewöhnlich. Aber auf gute Art! Denn Hochsensibilität, das war was Gutes. Und als mir später eine Freundin von „bunten Zebras“ erzählte, heulte ich vor Ergriffenheit, denn hey, das war ICH! Bunte Zebras waren auch gut! Ich war also ein buntes, hochsensibles Zebra und das war toll!

Nur war es eben nicht toll. Ich war ja immer noch anders, bekam immer noch schiefe Blicke und Verwirrung zurück und fühlte mich an vielen Tagen nicht wie ein fröhliches, tolles, sensibles, buntes Zebra, nach Multi- oder Omnipotential, sondern wie ein Alien: Fremd, unverständlich, einsam.

Ich war zwar vielleicht ein ach so tolles Zebra, aber das änderte überhaupt nichts daran, dass ich nicht dazu passte und immer wieder als fehlerhaft und beschädigt wahrgenommen und behandelt wurde. Es änderte auch nichts daran, dass ich immer noch dachte, „nicht richtig“ zu sein, weil ich für andere seltsame Verhaltensweisen hatte.

Mir fehlten Menschen, die wie ich waren. Peers. Menschen, die verstanden, wenn ich nur eine bestimmte Sorte Senf essen konnte, wenn ich total unruhig wurde, weil mein üblicher Platz schon besetzt war, wenn ich ständig neue Hobbys hatte und immer ganz schlagartig die Lust daran verlor.

Ich brauchte Menschen, bei denen ich ich selbst sein konnte und mich nicht verstellen musste und endlich, endlich fand ich sie: Die Autistinnen und Autisten, die Menschen mit ADHS, die Neurodivergenten.

Ich hatte diese Label nie gewollt. Autismus war für mich etwas Schlechtes. ADHS war das, was zappelige, ungehorsame Jungs hatten. Ich wollte das nicht! Ich war das nicht! Mit Händen und Füßen habe ich mich dagegen gewehrt, weil es für mich das war, was ich schon immer gelernt hatte: Etwas, das ICH nicht zu sein hatte.

Also genau das, was ich war…

In der neurodivergenten Community lernte ich, dass ich gar kein Alien war und dass Autismus und ADHS (und andere Neurodivergenzen) nicht dem gesellschaftlichen Bild entsprechen. Sie sind nicht schlecht, sie sind nicht seltsam, sie sind keine Modediagnosen und keine Erziehungsfehler.

Neurodivergent zu sein bedeutet für mich, auf eine bestimmte Art zu denken und zu fühlen, Bedürfnisse zu haben, die andere vielleicht gar nicht als Bedürfnis wahrnehmen, eine eigene Art der Kommunikation zu haben und auch eine andere Auffassung vieler Dinge, über die sich die meisten Menschen nie Gedanken machen.

Neurodivergent zu sein bedeutet in der Tat, anders zu sein. Anders als die große Mehrheit der Menschen, als all diejenigen, an die ich mich mein Leben lang anpassen wollte. Die Menschen, die immer meine Vorbilder waren und von denen ich nichts lieber wollte, als akzeptiert zu werden – so sehr, dass ich mich bis zum Äußersten verbogen haben. Nicht einmal, nicht zehn Mal, sondern 40 Jahre lang an jedem einzelnen Tag, jedes Mal, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte.

Neurodivergent zu sein bedeutet nicht, toll zu sein. Es bedeutet aber genauso wenig, schlecht zu sein. Neurodivergente Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Während aber diejenigen, die nicht neurodivergent sind, in der Welt meistens ganz passabel zurechtkommen, ist die Welt für neurodivergente Menschen ein ewiger Hindernisparcours. Selbst ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden, weil wir anders sind, weil Vorgänge und Aufgaben, nicht für uns und unsere Art zu denken, gemacht sind.

Wir unterscheiden daher zwischen jenen, die neurodivergent sind und jenen, die neurotypisch sind.

Neurotypisch zu sein bedeutet nicht, toll zu sein und es bedeutet auch nicht, schlecht zu sein. Neurotypische Menschen sind genauso gut oder schlecht, genauso menschlich, wie alle Menschen. Es ist aber deutlich wahrscheinlicher, dass dein Gegenüber an der Kasse, in der Bank, bei der Ärztin usw. neurotypisch ist und mit einer neurotypischen Person besser umgehen wird können – weil sie selbst so ist UND weil sie es gewohnt ist.

Wir Neurodivergenten sind also eine Minderheit und wie das immer so ist bei Minderheiten: Die Mehrheit findet sie seltsam und anders und was seltsam und anders ist, ist zumindest suspekt, macht auch oft Angst und führt dazu, dass man sich dagegen abgrenzen muss und das in einer Art und Weise, die klarstellt, dass man selbst – als Teil der Mehrheit – besser ist. Alle anderen werden abgewertet.

Das sehen wir bei Misogynie, bei Rassismus, bei Antisemitismus, bei Ableismus, bei Transfeindlichkeit, bei Homosexuellen-Feindlichkeit, bei Klassismus, Adultismus… und halt auch bei Autismus, bei ADHS und anderen psychischen „Störungen“. Nicht umsonst haben wir ja das Label „Störung“. Wer gestört ist, ist nämlich eindeutig falsch, weniger wert und muss auch gar nicht ernstgenommen werden.

Deswegen ist der Begriff Neurodivergenz/neurodivergent für uns so etwas Besonderes: Er ist nicht abwertend und WIR haben uns für ihn entschieden. Es ist kein Begriff, den wir übergestülpt bekommen haben! Es ist kein Begriff, mit dem sich nicht-neurodivergente Menschen von uns abgrenzen wollen, sondern ein Begriff, mit dem wir uns von ihnen abgrenzen können.

Das ist dann auch der Punkt, wo Menschen, die nicht neurodivergent sind, gerne eine rote Linie ziehen würden, denn sich von anderen abzugrenzen, sie auszugrenzen und abzuwerten, das ist okay, aber nur, wenn man die Mehrheit ist. Marginalisierte Gruppen sollten dieses Recht gar nicht erst haben, wo kommen wir denn da hin? /s

Das Problem: Für diejenigen, die in der Mehrzahl sind, ist es so normal und alltäglich, über die Köpfe „der anderen“ hinweg zu entscheiden, dass sie es gar nicht wahrnehmen.

Gehört man in einem (von unzählig vielen) Aspekten zu einer Mehrheit, sieht man überhaupt nicht, dass man sich in einer privilegierten, mächtigeren Position befindet – auch, weil es eben so viele Aspekte sind und jemand, der zwar neurotypisch, aber weiblich ist, ist immer noch weniger mächtig, als ein weißer cis Mann und doch ungleich mächtiger als ein neurodivergenter Mensch. Auch, wenn es sich aus der eigenen Position heraus, nicht so anfühlt!

Wir fühlen unsere eigene Macht gegenüber anderen nicht. Wir fühlen nur, wenn wir keine Macht haben. Dadurch werden Macht und Privilegien so gefährlich!

Aber zurück zu unserem Neurodivergenz-Begriff.

Mit Neurodivergenz labelt sich eine ganze Gruppe an Menschen einfach selbst! Sie NIMMT sich eine Macht, die ihr von den Mächtigeren nicht zugestanden werden will und benennt sich selbst und nicht nur sich selbst, sondern sie schafft auch einen Begriff, um nicht immer von „nicht-neurodivergent“ reden zu müssen, und nennt ihn „neurotypisch“.

Der Begriff ist kein Bisschen abwertend, beleidigend oder verletzend. Er beschreibt – im Gegensatz zu „Störung“ – einfach wertneutral, dass die neurologischen Funktionen dieser Gruppe „typisch“ sind, also der Mehrheit entsprechen.

Aber der Begriff wurde nicht selbst gewählt. Er wurde von einer anderen Gruppe festgelegt und „den“ Neurotypischen übergestülpt und das fühlt sich – ich weiß! – ziemlich fies an.

Die Sache ist nur die: Wir nehmen unsere eigene Macht durch Privilegien vielleicht nicht wahr, wir erkennen aber sehr wohl, wenn einer unserer Mechanismen plötzlich umgedreht wird. Und dieser Mechanismus der Fremdbezeichnung ist halt einer, den wir GEGEN Menschen verwenden – auch, wenn wir das nicht absichtlich und unbewusst machen!

Kommt jetzt also eine Gruppe und zwingt uns eine Fremdbezeichnung auf, fühlt sich diese Gruppe wie der Gegner an. Ein Feind! Und wenn sie unsere Feinde sind, dann sind wir ja mit Sicherheit auch deren Feinde und voilà schon haben wir die Mär von der Mehrheit als Feindbild der marginalisierten Gruppe.

Um das klipp und klar zu sagen: Neurotypische Menschen sind keine Feinde für neurodivergente Menschen!

Ja, wir nehmen die Unterschiede war – das tun wir sowieso schon unser Leben lang – und wir können sie jetzt benennen. Wir sagen damit aber NICHT: „Hey, ich fange an zu heulen, wenn meine Senfmarke ausverkauft ist und das macht mich viel besser als dich, weil du einfach einen anderen Senf kaufen kannst.“ Ja, natürlich machen wir uns auch immer wieder über die Unterschiede lustig, aber wir machen uns genau darüber lustig: Über die UNTERSCHIEDE! Es geht nicht darum, ob neurotypisches oder neurodivergentes Sein wichtiger, wertvoller oder besser ist. Es geht nur darum, dass neurodivergente Menschen eben AUCH wichtig, wertvoll und gut sind.

Dieser ganze angebliche Konflikt zwischen neurotypisch und neurodivergent besteht also eigentlich nur daraus, dass neurodivergente Menschen nicht länger bereit sind, als minderwertig betrachtet zu werden. Das nimmt die Mehrheit als „Störung im Machtgefüge“ wahr und springt dadurch ganz automatisch in einen Verteidigungsmodus. Dieser wird dann damit begründet und legitimiert, dass man ja angegriffen werde und als Feind gelte.

Tut man zwar nicht, aber ohne Begründung würde der Verteidigungsmodus ja keinen Sinn mehr ergeben und wir Menschen sind leider so, dass wir uns vermeintliche Gründe einfach ausdenken und es noch nicht mal bemerken.

Aber jetzt, wo wir das wissen, können wir ja vielleicht daran denken und dann heißt es: Bye-bye, Feindbild!

Ich bin behindert

Ich bin behindert

3. Dezember 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

CN: Ableismus

Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ich wusste das nicht und das klingt vielleicht seltsam, denn in den letzten Monaten habe ich gelernt, mich selbst so zu bezeichnen: Behindert.

Immer noch kämpfe ich damit, halte mich für die Selbstbezeichnung an manchen Tagen für arrogant und unverschämt, finde mich „nicht behindert genug“ und so, als würde ich übertreiben. Ich habe keine sichtbare Behinderung. Ich humple manchmal wegen meines Bandscheibenvorfalls, ja, aber sonst sieht man mir nicht an, was mich behindert macht – und selbst das Humpeln versuche ich zu vermeiden, denn: Es könnte ja wem auffallen.

Ich fühle mich privilegiert dadurch. Ich werde nicht wegen meiner Behinderung angestarrt, bekomme keine zu neugierigen Rückfragen, kann fast ganz unauffällig sein, wenn ich das möchte und selbst bestimmen, wofür ich auffallen will, wenn ich auffallen will. Kein Mensch nimmt mir diese Entscheidung einfach ab, weil ich körperlich anders wirke als er und er denkt, dass es dadurch zu meiner Pflicht wird, ihn darüber aufzuklären, warum ich denn so anders bin – also bis auf manchmal, wenn die Menschen denken, dass es sie etwas angeht, dass ich dick bin und doch ist das anders.

Wenn die liebe Freundin mir erzählt, dass sie schon wieder in der Bahn angestarrt wurde oder zu einer Veranstaltung nicht gehen möchte, weil sie nicht abschätzen kann, ob dort ihre Bedürfnisse mitgedacht werden, fühle ich zunächst Scham. Scham darüber, nicht daran gedacht zu haben und auch zu denen zu gehören, die sie nicht mitdenken – und dann fällt mir ein, dass ich zum Teil deswegen nicht bewusst daran denke, weil ich das, was sie erzählt, auch irgendwie kenne und als „normal“ empfinde.

Es ist anders bei mir und ich bin mir viel zu oft nicht bewusst, wo genau ihre Schwierigkeiten liegen, und doch gibt es Gemeinsamkeiten, ein ähnliches Erleben, ähnliche Kämpfe, ähnliches Verpassen und Vermeiden – all das, was Behinderung mit uns macht. Mit mir, mit der lieben Freundin und all den anderen Menschen, die auf die eine oder andere Art behindert sind.

Ich bin grundsätzlich ungern in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Es ist anstrengend, wenn viele Menschen um mich herum sind. Ihre Blicke machen mir Angst, ihr Gelächter und ihr Getuschel. Ich will auch nicht die vorwurfsvollen Mienen sehen, weil ich einen Sitzplatz nutze, obwohl ich dick bin. Lieber stehe ich, vor Schmerzen schwitzend, klammere mich an einen Haltegriff und konzentriere mich auf meinen Atem, immer voller Angst, dass die Schwärze vor meinen Augen mich doch noch umwerfen könnte.

Aber ich muss mir zumindest keine Gedanken darüber machen, ob ich das Verkehrsmittel überhaupt betreten werde können…

Letztens wollte ich einen Workshop besuchen. Weidenflechten. Ich habe mich nicht einmal getraut, mich anzumelden, denn neben der Tatsache, dass fremde Menschen immer schwierig für mich sind und ich in sozialen Situationen große Probleme habe, war mir auch nicht klar, wie ich das machen sollte, dort mehrere Stunden eine körperliche Tätigkeit zu verrichten. Ich bräuchte wahrscheinlich alle 30 Minuten eine Pause, müsste mich hinlegen, weil ich mit Schwindel und Schmerzen zu kämpfen habe und würde den ganzen Workshop aufhalten, weil ich… behindert bin. Aber naja, dann besuche ich den Workshop eben nicht, macht ja nichts.

Und doch: Es MACHT was!

Es macht was mit mir, dass ich nicht einfach so mit einem Bus fahren kann, dass ich nicht einfach so zu einem Vortrag oder einem Workshop gehen kann, dass ich nicht einfach so an unbekannte Plätze gehe, weil ich nicht weiß, was mich dort erwartet und ob ich dort klarkommen werde, ob die Menschen dort Masken tragen werden und auf Abstand achten werden. Es macht etwas mit mir, dass ich mir vor jeder noch so kleinen Unternehmung überlegen muss, ob sie für mich geeignet sein wird, oder ich mich zumindest so weit anpassen können werde, dass ich sie durchhalten kann. Ob sie dann noch Spaß macht, mal vollkommen dahingestellt.

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, einfach irgendwo hinzufahren, eine Reise zu buchen, an einer Veranstaltung teilzunehmen oder einen Ausflug zu machen. Ja, das ist bei mir aus anderen Gründen als bei jemandem, dessen Rollstuhl oder Sehbehinderung mitbedacht werden muss, aber am Ende bin ich dennoch behindert.

Ich muss immer meinen körperlichen und psychischen Zustand mitbedenken, meine Energie, meine Aufgaben für die nächsten Tage und Wochen, meine Leidensfähigkeit, meine sozialen Fähigkeiten, mein Durchhaltevermögen, auch in Bezug auf Reize und Menschen. Ich muss Wochen im Voraus planen – und gleichzeitig immer bereit sein, im letzten Moment die Pläne umzuwerfen, weil es dann doch nicht geht.

Sind andere Menschen involviert, meide ich Pläne dann oft komplett. Ich möchte nicht ständig im letzten Moment absagen, will nicht, dass andere auf mich Rücksicht nehmen müssen, möchte ihnen nicht das Gefühl verleihen, dass sie mir nicht so wichtig sind, dass ich mich nicht einfach „ein bisschen zusammenreiße“. Wie sollte ich ihnen auch erklären, dass es eben nicht „ein bisschen zusammenreißen“ ist, sondern weit über meine Grenzen gehen, tagelang NICHTS mehr machen können und zwar wirklich nichts. Gar nichts.

„Nichts machen“ bedeutet für andere Menschen, dass sie nichts „Sinnvolles“ machen. Sie lesen dann vielleicht, basteln, backen, schauen fern, treffen sich mit Freund*innen. „Nichts“. Mein Nichts bedeutet, dass ich auf der Couch liege und mich mit Instagram-Reels ablenke, weil alles, was darüber hinausgeht, zu anstrengend ist. Mein Nichts bedeutet, dass ich nicht mit Menschen kommunizieren kann, nicht kochen kann, nicht basteln kann, keine Hörbücher hören – geschweige denn lesen – kann, nicht einkaufen kann, ja noch nicht mal rausgehen kann. Mein Nichts bedeutet NICHTS und mein Nichts ist die Folge von dem, was für andere Menschen ganz normale, alltägliche Dinge sind!

Ich bin behindert.

Immer noch bin ich erst am Anfang davon, das für mich als wahr zu verstehen, zu begreifen, dass behindert eben nicht nur das ist, was wir sehen, sondern all das, was uns das Leben so viel schwerer macht als den meisten und was wir meistens überspielen, um für andere nicht zu anstrengend zu sein.

Immer noch bin ich erst dabei, mir selbst klarzumachen, dass auch ich behindert bin: Ohne sichtbare Behinderung, ohne die spezifischen Probleme, die aus diesen Behinderungen entstehen, aber durch andere Behinderungen und deren Folgen.

Ich bin behindert und der 3. Dezember ist auch mein Tag.

Wir und die anderen

Wir und die anderen

27. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

CN: Klassismus, Fettfeindlichkeit, Ableismus

Unser Adventskranz sieht fast so aus wie letztes Jahr. Es ist ein alter Spiegel, dessen Rahmen ich weiß gestrichen habe und den ich als Unterlage verwende. Darauf kommen von mir gefaltete Fröbelsterne – um die Weihnachtszeit bekomme ich immer Lust auf Papierfalten -, eine Lichterkette, Glasnuggets, metallene Kugeln und schwarz-weiße Kugeln, Zuckerstangen und natürlich Kerzen. Große, rote Kerzen.

Die Kerzen vom letzten Jahr waren – wie das halt oft so mit Adventskranz-Kerzen ist – nicht komplett heruntergebrannt und natürlich zu schade zum Wegwerfen und ich hatte im Januar noch gedacht: „Ich lasse sie einfach draußen und dann können wir sie immer wieder anzünden, bis sie heruntergebrannt sind. Das wird schön.“ Ich habe sie nie angezündet. Nach Weihnachten sind Kerzen irgendwie egal und so standen sie zwar herum und waren ein hübscher Farbtupfer, aber sie waren eben immer noch nicht heruntergebrannt und wegwerfen wollte ich sie nach wie vor nicht.

Wie ich dann den diesjährigen Adventskranz zusammenbaute, stellte ich die alten Kerzen darauf – frische hatte ich gerade nicht und ohne Kerzen sah er so kahl aus – und witzelte, dass ich doch eigentlich die Kerzen wiederverwenden könnte. War es wirklich ein Witz? Ich kann es bis heute nicht sagen, denn einerseits finde ich den Gedanken, die Kerzen eben tatsächlich „aufzubrauchen“ total gut, andererseits macht er mir aber Angst.

Ein Adventskranz mit bereits angebrannten Kerzen! „Das geht doch nicht“, ruft eine Stimme in mir ganz laut. Es ist die Stimme meiner Mutter, die Stimme, die immer unheimlich viel Wert daraufgelegt hat, nicht „so“ zu sein. „So“, das waren Menschen, die kein Geld hatten, Menschen, die dick waren, Menschen, die anders waren als die meisten. „So“, das waren die Menschen, die wir waren.

Wir hatten wenig Geld in meiner Kindheit und Jugend, oder nein, wir hatten phasenweise gefühlt viel Geld und im nächsten Moment überhaupt keines. Ich erinnere mich noch daran, als es hieß, jeder von uns dürfe sich zu Weihnachten Geschenke im Wert von (umgerechnet) 200 Euro aussuchen! 200 Euro! Ich wusste überhaupt nicht, was ich mir von so viel Geld wünschen sollte! Am Ende gab es aber zu Weihnachten sowieso nichts von dem Gewünschten, denn das Geld, von dem es die Weihnachtsgeschenke geben sollte, gab es am Ende nämlich auch nicht.

So war das häufig. Geld – oder etwas, das man mit Geld kaufen konnte – wurde in Aussicht gestellt und am Ende gab es nichts davon und es wurde vielleicht sogar der Strom oder das Telefon abgestellt, weil auch dafür das Geld nicht dagewesen war. War es nie da oder zerrann es meinen Eltern einfach in den Händen? Ich kann es nicht sagen. Die Erinnerung an meine Kindheit und Jugend ist aber geprägt von dem ständigen Gefühl, bloß nichts kaputtzumachen, bloß nichts zu verlieren, bloß keine Kosten zu verursachen – aber immer so, dass es nach außen nicht auffiel.

Als ich bei der Planung für einen Schulausflug angab, nicht mitfahren zu können, weil wir das Geld dafür nicht hatten – was stimmte – und ein Fonds der Schule die Kosten übernehmen wollte, gab es zuhause unheimlichen Ärger: Wie hatte ich sagen können, dass wir kein Geld hätten?! Wir hatten kein Geld. Aber das sollte niemand wissen.

Wie oft ging ich mit Hosen in die Schule, deren Oberschenkel-Innenseiten Löcher hatten und verdeckte das mit langen Shirts und Pullovern, damit es niemand merkte, hatte Angst davor, mich im Turnunterricht umzuziehen, weil es da ja wem auffallen hätte können, ignorierte die von den Stoffrändern wundgescheuerte Haut. Damit es niemand merkte. Damit niemand wusste, dass wir uns keine neuen Hosen für mich leisten konnte. Damit niemand wusste, dass ich meine Hosen durchscheuerte, weil ich dick war. Denn auch das hatte ich nicht zu sein.

Also grundsätzlich natürlich nicht dick, aber das war ja schwer zu übersehen, aber dann doch zumindest niemand von „diesen“ Dicken. Denen, die „nicht ordentlich“ angezogen waren. Denen, die faul waren. Denen, die in der Öffentlichkeit aßen. So waren wir nicht! Nein, nein.

Wir waren auch nicht die, die mit Plastiktüten herumliefen, denn Plastiktüten, die verwendeten nur „die anderen“, die GANZ schlechten Menschen, die, auf die wir irgendwie herabsehen konnten, weil doch ohnedies alle auf uns herabsahen. Aber darin, in diesen Plastiktüten, in diesem Vorgeben, Geld zu haben, das wir gar nicht hatten, in der „guten“ Kleidung… darin lag das, was uns zu unterscheiden schien, das, was uns zu „besseren“, „wertvolleren“ Menschen machte. Oder wovon wir es zumindest glauben wollten.

Es gab viele dieser „das macht uns besser“-Dinge. Rucksäcke auf beiden Schultern tragen. Niemals geflickte Sachen tragen. Keine gebrauchten Dinge annehmen. Nichts Gestricktes anziehen. Nichts Selbstgemachtes verschenken. Immer „ordentliche“ Kleidung tragen. Keine bunten Fingernägel. Keine Tattoos. Kein Fast Food in der Öffentlichkeit. Keine Süßigkeiten. Am besten gar nichts essen. Nicht laut atmen. Nicht schnaufen. Nicht weinen. Nicht rot werden. Nicht um Hilfe fragen. Nicht den Eindruck erwecken, Hilfe zu brauchen.

Die Liste ist endlos und vieles ist mir bis heute gar nicht bewusst, sondern einfach nur ein fest integriertes „SO macht man das“, das ganz automatisch abläuft und bei dem sich alles in mir sträubt, ich Magenschmerzen bekomme, Angst, Panik… „Ich bin nicht SO“, möchte ich dann schreien, „Ich bin eine von den Guten!“

Ich weiß heute, wie schlimm diese Denkweise ist. Wie verletzend. Wie herablassend. Wie klassistisch. wie ableistisch. Und ich muss jedes Mal wieder dagegen ankämpfen, denn diese automatische Abgrenzung von denen, die ich irgendwie als „schlechter als ich“ sehen kann, steckt tief.

Bis heute sehe ich auf Menschen herab, die im Jogginganzug einkaufen. „Das macht man doch nicht“, denke ich ganz automatisch – und dann rufe ich mich zurück. Bis heute denke ich mir: „Puh, zum Glück bin ich nicht SO!“ und schaue schnell weg, wenn Menschen in der Öffentlichkeit schwanken, stolpern, stürzen – immer verbunden mit der Scham über den Tag, als ich selbst gestürzt bin und mich Menschen auslachten: „Ha ha, die Dicke kann nicht mal laufen!“ Wie peinlich! Ich war „SO eine“!

Ich kämpfe damit, dass ich körperliche Beschwerden habe, die man mir anmerken könnte, weil ich eben schwanke oder stolpere, weil ich eine Pause brauchen könnte, weil ich nicht mehr klar sehen kann vor Schmerzen. Ich kämpfe damit, den guten Schein nicht mehr aufrecht erhalten zu können und endgültig jemand von „denen“ zu sein, jenen, die ich gelernt habe, zu verachten, denn wenn du nichts hast, hast du doch immer noch deinen Stolz, nicht wahr?

Ich verrate euch was: Stolz ist Mist.

Ich bin keinen Deut besser als irgendjemand. Es macht mich nicht besser, dass ich Schuhe mit Schnürsenkeln, statt welche mit Klettverschluss trage, dass ich meine Einkäufe in einem hübschen Queerdinx-Stoffbeutel statt einer Plastiktüte nach Hause trage, dass ich eine Treppe nehme statt dem Aufzug – oder dann halt doch den Aufzug, weil ich mich ganz fest zusammenreiße und an mich und meine Gesundheit denke und nicht daran, ob ich jetzt jemand von „denen“ oder „denen“ oder „denen“ sein könnte.

Es macht niemanden besser einer Erwerbsarbeit nachzugehen, nicht krank zu sein, Kinder zu haben, nur nachhaltige Kleidung zu kaufen, vegan zu leben, auf Konsum verzichten zu können, weiß zu sein, dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zu entsprechen, die „richtigen“ Sprachen zu beherrschen, mit christlichen Bräuchen aufgewachsen zu sein, ein Dach über dem Kopf zu haben oder nicht auf Medikamente angewiesen zu sein.

Wir sind auf so viele Dinge stolz, weil sie uns vermeintlich zu besseren Menschen machen, uns abgrenzen und „nicht SO“ sein lassen, doch in Wirklichkeit tun sie überhaupt nichts davon. Sie SIND einfach nur. Wir SIND einfach nur. Vollkommen egal, wie sehr wir uns an alle Regeln halten – oder an gar keine -, wie sehr wir uns anpassen, ändern, bemühen, abmühen… wir sind trotzdem kein bisschen besser als jemand, der das alles nicht kann oder nicht will.

Egal, wie viele internalisierte -ismen – Klassismus, Ableismus, Rassismus… – uns weismachen wollen, dass und wofür wir besser sind: Wir sind es nicht.

Wir sind genauso gut, genauso wertvoll wie der Mensch, den wir am meisten verachten.

Das heißt nicht, dass wir uns ab sofort alle verachten sollen – wir sollten nur anfangen, diese Dynamiken wahrzunehmen, unseren internalisierten Rassismus, Klassismus, Ableismus, Sexismus usw. zu erkennen und gegen sie anzuarbeiten.

Auch wenn es manchmal nur so eine Kleinigkeit ist, wie die alten Adventskranz-Kerzen im nächsten Jahr wieder zu verwenden – weil wir es wollen und nicht, weil wir dadurch zu besseren oder schlechteren Menschen werden.

Nein, das ist nicht egal.

Nein, das ist nicht egal.

25. November 2022 Claudia Unkelbach Comments 0 Comment

„Da traut man sich ja gar nichts mehr schreiben!“ In letzter Zeit lese ich immer wieder, dass die neurodivergente Community so ausschließend und besserwisserisch wäre, so empfindlich auf falsche Begriffe reagieren würde (z.B. „neurodivers“ statt „neurodivergent“) und sich Neulinge ja gar nichts schreiben trauen würden aus Angst, von irgendjemandem verbal angefahren zu werden.

Ich verstehe diese Angst. Mir geht das in neuen Räumen eigentlich immer so, dass ich mich erstmal nichts sagen traue, wochen-, ja manchmal monatelang nur mitlese, bis ich endlich den Mut fasse, auch selbst etwas zu schreiben. In allen neuen Räumen (und übrigens am stärksten in neurotypischen). Da spielt sehr stark meine Angst vor Zurückweisung hinein, mein Wunsch, niemanden zu verletzen, vielleicht auch ein gewisser Perfektionismus, aber halt auch meine Liebe zur Sprache und zur richtigen Verwendung von Begriffen.

Begriffe sind bedeutsam. Für uns neurodivergente Menschen vielleicht sogar noch mehr als an anderen Stellen.

Für viele von uns ist es wichtig, den Inhalt einer Aussage wirklich, wirklich, wirklich richtig zu verstehen. Wir sind es gewohnt, nicht immer alles so zu verstehen, wie es gemeint ist und dann deswegen anzuecken. Nur wie es denn etwas gemeint? Wie erfasst man das?

Mein Gehirn bleibt manchmal stecken, wenn ein Satz mehrdeutig – oder zumindest nicht absolut eindeutig – ist. Es versucht dann, jede mögliche Bedeutung des Satzes zu verstehen und abzuwägen, welche der*die Sprecher*in denn genau gemeint haben könnte. Oft klappt das nicht, weil es einfach viel zu viele Möglichkeiten gibt, wie ein einzelner Satz gemeint sein könnte und die tatsächliche Bedeutung lässt sich dann eben nur deuten. Richtige, eindeutige Begriffe helfen da.

Deswegen sind auch Redewendungen und Metaphern vor allem für Autist*innen manchmal schwierig. Wir versuchen nämlich, sie absolut richtig zu verstehen. Redewendungen, die wir nicht kennen, sind dann erstmal verwirrend, denn wir erkennen vielleicht noch nicht einmal, dass es eine Redewendung ist, versuchen, das Gesagte wörtlich zu verstehen und stolpern darüber, dass es wortwörtlich einfach keinen Sinn ergibt. Das wird im Laufe der Jahre oft besser, weil wir immer mehr Redewendungen kennen und sie oft ja auch selbst verwenden – noch mehr, wenn Sprache ein Spezialinteresse ist.

Was aber bleibt ist eine gewisse Unsicherheit an vielen Stellen.

Vielleicht kennst du das, wenn jemand zu dir sagt „Wir treffen uns nächstes Wochenende.“ und du fragst dich: „Ist das in 3 Tagen oder in 10?“ „Nächstes Wochenende“ ist nicht so eindeutig, wie wir oft denken und bei unseren Gesprächspartner*innen lösen wir dann damit Verwirrung aus. Nach einem kurzen peinlichen Moment suchen wir nach besseren Erklärungen und legen uns vielleicht auf ein genaues Datum fest, um alle Missverständnisse zu vermeiden.

Viele Autist*innen lieben es, sich möglichst genau auszudrücken. Wir „oversharen“, wir verwenden Klammern und Gedankenstriche, Fußnoten und Einschübe, denn wir wollen das, was wir von uns geben, so unmissverständlich wie nur irgendwie möglich machen. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten auch immer noch dazu schreiben, in welcher Verfassung ich einen Text gerade verfasst habe, nur damit auch ganz sicher klar ist, wie etwas gemeint ist. Wäre es trotzdem nicht, also kann ich mich bremsen.

Für uns sind genaue Begriffe also tatsächlich wichtig. Sie helfen uns, Klarheit herzustellen und Unsicherheiten zu vermeiden.

Und ja, manchmal sind wir auch ein bisschen besserwisserisch und wollen, dass du den richtigen Begriff verwendest, selbst wenn wir dich auch sonst verstehen. Für mich fühlt es sich nach Wertschätzung an, wenn du dich um die richtigen Begriffe bemühst und im Gegenzug fühle ich mich oft nicht respektiert, wenn dir Begriffe, die für mein Leben wichtig sind, egal sind. Zusätzlich kann ein „neurodivers“ statt „neurodivergent“ bei mir tatsächlich dazu führen, dass ich auf etwas nicht reagieren kann – nicht, um dir eine Lektion zu erteilen, sondern weil mein Gehirn quasi einen Kurzschluss hat und nicht mehr korrekt funktioniert. Ja, wegen einer Kleinigkeit wie einem falschen Wort! Ich bin Autistin. Mein Kopf funktioniert eben so.

Was auch noch eine Rolle bei unserer „Pingeligkeit“ in Bezug auf Begriffe spielt: Viele Autist*innen legen sehr großen Wert auf Regeln. Richtige Begriffe fühlen sich für mich durchaus wie eine Regel an und verwendest du den falschen Begriff, brichst du quasi die geltende Regel und ich winde mich innerlich, weil ich natürlich weiß, dass das keine große, wichtige Regel ist, aber sie sich für mich an dieser Stelle wichtig anfühlt, weil sie „richtig“ von „falsch“ trennt.

Ich verstehe, dass all das dazu führen kann, dass neurodivergente Communities sich beängstigend anfühlen, wenn man das erste Mal mit ihnen in Kontakt kommt. Ich verstehe auch, dass es problematisch ist, so viel Wert auf Begriffe zu legen, die man ja erstmal kennen und lernen muss. Und ja, wir reagieren nicht immer lieb und geduldig, sondern sind auch mal genervt und haben keine Lust, zu erklären, warum der von dir verwendete Begriff falsch ist. Das ist menschlich. Genauso wie es menschlich ist, wenn du einen falschen Begriff verwendest.

Ich nehme es dir nicht übel, wenn du das machst – auch, wenn du dadurch einen inneren Konflikt oder einen Kurzschluss in mir auslöst -, aber wenn ich oder ein anderer neurodivergenter Mensch mal nicht geduldig mit dir ist, denke bitte daran, dass du in unseren Raum kommst und wir diejenigen sind, die dort sie selbst sein können sollten.

Das bedeutet nicht, dass du keine Fehler machen darfst. Aber so, wie du vielleicht von uns erwartest, dass wir dir deine Fehler nachsehen, erwarte ich auch von dir, dass du uns so nimmst, wie wir sind: Autistisch.

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